Till Angersbrecht

Wien!


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      Brohhs Blick verengt sich, wird intensiv, als wollte er mir die Botschaft nachhaltig in den Schädel brennen.

      Wien steht jenseits und über aller Vernunft! Hier blüht nicht der kategorische, sondern der Imperativ von Seele und Gefühl.

      Er legt eine Kunstpause ein, dann fährt er fort, wobei er mich weiterhin mit zusammengekniffenen Augen mustert.

      Aber, was sage ich da, in Ihrem jetzigen durchaus unerleuchteten Zustand werden Sie mich gar nicht verstehen. Dazu müssen Sie sich zunächst einmal häuten, Ihre ganze Vergangenheit als Deutscher erst einmal vergessen - radikal vergessen.

      Seine Reden verfehlen nicht, einen gewaltigen Eindruck auf mich zu machen. Ich war ja soeben erst eingetroffen. Dr. Brohh beeindruckt mich, wenn er so nach Art eines gelangweilten Weisen von oben herab zu mir und seinen vielen Bewunderern spricht, die ihn regelmäßig solange umringen, bis er sie mit einer müden Bewegung der linken Hand plötzlich entlässt, weil der schöpferische Impetus über ihn kommt – von irgendwoher aus der Höhe fällt er gleichsam auf ihn herab. Dann zückt Brohh Bleistift und Papier, richtet den Blick auf ein vor ihm liegendes Heft und macht im selben Augenblick allen Anwesenden klar, dass er nicht länger gestört zu werden wünsche.

      Sich selbst überlassen und der vor ihm stehenden Tasse Melange, bringt Dr. Brohh dann seine Aphorismen oder jüngsten Erkenntnisse über die Wien- und Weltpolitik zu Papier, die regelmäßig in einer Kolumne der ‚Presse’ und anderen Wiener Zeitschriften erscheinen. Mein erster Eindruck ist der eines Buddha. Ich glaube, er selbst fühlt sich auch ganz wie der indische Heilige, denn was er seiner Umgebung dozierend übermittelt, trägt er stets im Ton der Beglückung vor. Die Wirkung ist unverkennbar – alle jene, denen er eine Audienz gewährt, scheinen seinen Dunstkreis in geläuterter Stimmung und innerlich gestärkt zu verlassen. Mir steckt er bei unserem ersten Treffen, sozusagen als besonderen Vertrauensbeweis, einen Artikel aus seiner Feder zu: Der sei kürzlich im Wiener Tag- und Nachtfalter erschienen.

      Die Verengung der Welt

      Von Dr. Hieronymus Brohh

      „So ist er nun mal der Herr Karl, unser Zeitgenosse auf der Insel der Seligen: Eng angekettet an den Pflock seiner Augenblickswünsche und unbedeutenden Tagessorgen, blickt er fast nie über den Tellerrand der gerade fälligen Aktualität. Während die vier Wände seiner Mietwohnung im ersten Bezirk für ihn die Grenzen des Kosmos bilden, entgeht es ihm ganz und gar, wie der große, runde durch das All trudelnde Globus unter ihm gleichsam schrumpft und verschrumpelt, ganz so als wollte der spielende Knabe, der unser Schicksal nach der Vorstellung der alten Griechen in seinen Händen hält, sich einen besonderen Spaß daraus machen, den Erdball auf einer heißen Herdplatte auszudörren. Die Welt wird eng, ja sie wird sogar jeden Tag etwas enger, ganze Teile sind bereits extraterritorial – Feindes- und Niemandsland, wo sich Herr Karl nicht mehr hintrauen würde. Da sind die neuen Kopfjäger unterwegs, die neuen Kannibalen, die neuen Lösegelderpresser, die neuen Vergewaltiger, Henker und Schlächter, die nicht einmal davor zurückschrecken würden, einem braven Wiener aus dem ersten Bezirk den Kopf abzuschneiden. Die Welt wird eng - und Herr Karl hier in Wien bekommt das nicht einmal mit.

      Es ist kaum zu glauben: Schnelle Autos hat fast jeder von uns, bei manchen sind es schon zwei oder drei pro Familie, aber inzwischen gibt es ganze Regionen, die wir ohne Gefahr für Leib und Leben nicht länger befahren dürfen. Flugzeuge fliegen jedes Jahr in größerer Menge, aber es gibt immer weniger Plätze, auf denen wir unbesorgt landen können. Davon aber will unser Herr Karl gar nichts wissen. Er bildet sich immer noch ein, auf einer Insel zu leben, einer Insel der Seligen, wie er das nennt. Ungerührt, als wäre nichts geschehen, schlürft er allmorgendlich seinen Espresso in sich hinein, ungerührt, als gäbe es die weite Welt nicht einmal. Dann verbringt er den restlichen Tag damit, den aufgestauten Grant auszuschwitzen.“

      Solche Worte perlen dem Dr. Brohh mühelos aus der Feder. Andeutungen, Anspielungen und geistreiche Pirouetten scheinen ihm zuzufliegen, aber manchmal treibt er es doch zu arg, so jedenfalls kam es mir damals vor. Erst sehr viel später sollte es dann gerade der Schluss dieses Aufsatzes sein, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ist Brohh da etwa selbst zum Sprachrohr für jenen Würfel spielenden Knaben geworden, den er in seinem Artikel erwähnt (zweifellos mit der bekannten Eitelkeit eines Literaten, der ganz gern die Pfauenfeder seiner humanistischen Bildung spreizt)? Dr. Brohh beendet seinen Artikel mit folgenden Worten, die ich jetzt, wo ich diesen Bericht niederschreibe, nicht ohne Erschütterung lese und wiederhole:

      „Und wenn in unserer Zeit, wo auf einmal alles möglich erscheint, selbst das Unmögliche geschähe? Ich meine, wenn Wien selbst schrumpfen würde, weil wir nun einmal im Zeitalter der Globalisierung leben, und kein Ereignis vor den Toren der eigenen Stadt nur deswegen stehen bleibt, weil wir die Ampel auf rot gestellt haben? Angenommen, Wien würde enger und enger werden, angenommen, wir würden in der Stadt nur noch zu Fuß gehen können, weil nur noch der Erste Bezirk und vielleicht noch der Naschmarkt übrig bleiben? Eine absurde Vorstellung, hält mir der ungeneigte Leser entgegen? Gewiss doch, das gebe ich bereitwillig zu, aber aufgepasst: Wir leben in einer Zeit der Absurditäten, die uns wie die apokalyptischen Reiter von allen Seiten bedrängen.“

      Elli Koschinsky

      Das Café Griensteidl liegt im Schatten der Hofburg gleich neben dem großen Eingangsportal. Ich betrete es in aller Früh und nicht ohne Grund: Im Gegensatz zu den meisten intellektuell knisternden Köpfen der Stadt gehört Brohh zu den seltenen Morgenmenschen. Dass er mich nicht wiedererkennt, wundert mich keinesfalls. Es ist doch klar, dass ich für diesen Geistesriesen nur ein Piefke unter vielen bin, eine Spezies, die ihm nicht sonderlich gefällt, auch wenn er ihr gern seine Belehrungen erteilt. Heute allerdings betrete ich das Café am Michaelerplatz so zeitig, dass ich nur eine einzige Person ihm gegenüber bemerke, und von dieser nur den Rücken und das rostbraune Haar. Erst als ich mich auf der Höhe der Sitzecke befinde, erkenne ich Elisabeth Koschinsky. Ich zucke zusammen, kein Zweifel, sie ist es. Schon zweimal habe ich sie auf der Bühne des Burgtheaters gesehen und auf Anhieb bewundert, zuletzt in Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, wo sie die unglückliche Marianne spielte.

      So verblüfft bin ich im ersten Moment über diese Begegnung aus nächster Nähe - bis dahin hatte ich sie ja nur aus der Ferne mit stark geschminktem Gesicht gesehen -, dass es mir die Sprache verschlägt und Dr. Brohh mich mit einem Ausdruck mustert, in dem sich abweisende Skepsis und Mitleid mischen: das Mitleid mit einem offensichtlichen Tollpatsch.

      Es ist ein Glück, dass mir die Koschinsky mit einem Lächeln entgegenkommt, einem Lächeln, das ich, um es gleich hier zu Beginn meiner Chronik wahrheitsgemäß zu verzeichnen, von keinem anderen Menschen kenne. Sie hilft mir aus der Verlegenheit, kaum dass ich meinen Namen ausspreche.

      Also Sie sind der Carsten Reddlich, dem ich das Loblied auf unsere Aufführung in der Frankfurter Allgemeinen verdanke! Bitte setzen Sie sich doch. Brohh, dieser junge Mann hat ein Gespür für Horvath und unser Burgtheater wie sonst kein anderer Deutscher.

      Dr. Brohh nickt ihr zu und legt ihr die Hand auf den Arm.

      Liebe Elli, wie schön ich es finde, dass Sie so begeisterungsfähig sind! Glauben Sie mir, die Begeisterung, das ist eine beinahe metaphysische Qualität, die den Ausnahmemenschen von bloßen Kopien unterscheidet. Ich glaube Ihnen sofort, dass der junge Mann Sie Ihren Verdiensten entsprechend gewürdigt hat, alles andere würde ja eine totale Verkennung Ihrer Talente bedeuten. Aber, bitte schön, das heißt noch lange nicht, dass der junge Mann Horvath, Wien oder gar die Wiener Seele wirklich versteht. Lobreden halten, Verrisse schreiben, kurz, halbwegs intelligente Gedanken über dieses und jenes sekretieren, das bringt jeder von uns Federfuchsern ohne viel Geistesaufwand zustande.

      Schicken Sie mich zum Beispiel, na sagen wir, unter die Eingeborenen nach Papua-Neuguinea. Sie werden sehen, mit welcher Kunstfertigkeit und Überzeugungskraft ich die Leistungen der dortigen Einheimischen beschreibe, die es neuerdings fertig bringen, von der Jagd auf menschliche Köpfe auf die von Kasuaren umzusteigen, und dass anscheinend mühelos, ohne seelischen Schaden zu nehmen. All das würde ich sozusagen aus dem Ärmel