Till Angersbrecht

Wien!


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die Wissenschaft. Diese kenne nun einmal keine grundlosen Vorfälle.

      Ich weiß nicht, wie weit Du das bisherige Geschehen verfolgt hast, schließt Tannenberg seinen Vortrag. In Wien hat der Tod von Boris Kowatsch jedenfalls jede Menge Staub aufgewirbelt. Der Mann ist schließlich nicht irgendwer. Der war einmal Olympiasieger im Kugelwerfen.

      Aber ich sehe schon, die Sache interessiert dich gar nicht. Na gut, ich muss ja dringend ins Physikalische Institut. Also, bis zum nächsten Mal!

      Es brodelt in meinem Kopf

      Diese Begegnung ist mir nicht gut bekommen. Jetzt sind schon vierzig Minuten vergangen, ich fühle mich wie ein Fakir, der das erste Mal versucht, auf einem Nagelbett zu schlafen. Die Begegnung mit Tannenberg hat mich noch zusätzlich aufgerührt. Im Grunde ein lieber Kerl, nur leider zu klein geraten und auch nicht gerade schön, da ist man wohl von Natur aus mit Ressentiments voll gestopft.

      Aber jetzt reicht es. Keine Sekunde warte ich länger, nicht einmal für die schönste, geistreichste und bezauberndste Frau dieser Welt. Immerhin müsste sie wissen, dass unsereins seine Tage nicht als Müßiggänger verbringt. Ich stehe unter der Fuchtel einer Redaktion, die mich für komprimierten Geist bezahlt, und zwar zeilenweise, nicht für stundenlange Ausflüge zum Heldenplatz und Umgebung.

      Na ja, all diese verrückten Sprüche, die einem bei solcher Gelegenheit unzensiert durch den Schädel jagen. Eine Frau, die man liebt, sei wie ein drittes Auge, ein Auge, mit dem man neue Welten erblickt, so habe ich einmal gelesen. Aber das ist nicht wahr. Eine Frau, auf die man wartet, gleicht eher einem Tumor, den man möglichst schnell wegoperieren sollte, bevor er einem das Hirn vergiftet.

      Elli, ich gehe.

      Im selben Augenblick, da ich mich entschlossen zum Fortgehen wende, weiß ich, dass ich meinen Vorsatz nicht durchhalten werde. Ich bin ja einfältig genug, diese Frau immer noch zu lieben. Schon taucht ihr Gesicht vor meinen Augen auf, schon sehe ich ihr Lächeln. Ich weiß, so sehr ich mich dagegen sträube, werde ich doch weiterhin jede ihrer Vorstellungen besuchen und weitere Artikel über sie schreiben.

      Und dann? Nein, so leicht wimmelt man einen Carsten Reddlich nicht ab. Tumor oder drittes Augen, ganz gleich. Ich werde mich unersetzbar machen. Du wirst begreifen, Elli, dass niemand anders so gute Kritiken über dich schreibt wie der tumbe Tor aus Frankfurt am Main.

      Es klingelt. Das Handy. Na also. Ich wusste es doch, dass all diese aufgescheuchten Gedanken nichts taugen. Sie wird sich entschuldigen, dass sie sich leider verspäten muss. Schon gut. Ich sehe ja ein, dass es in ihrem Beruf nicht ganz einfach ist, Vereinbarungen einzuhalten. Regisseure zählen heutzutage zu den letzten Monarchen. Herrscher sind das, absolute Herrscher. Gibt es sonst nur noch im Vatikan. Pünktlichkeit, die gilt nur für uns, für Journalisten. Journalismus ist Pünktlichkeit plus Faktenhuberei und eine deftige Portion Sprachalchemie.

      „Sorry, Carsten, im letzten Moment ist der Handaufleger dazwischengekommen. Schicke Dir später noch eine Nachricht. Brauche Hilfe fürs Internet. Seltsame Ausfälle. Tschau.“

      Also doch eine Abfuhr, habe ich mir fast schon gedacht. Handaufleger? Was hat der Handaufleger mit unserer Verabredung zu tun? Das kann doch nur eine Ausrede sein! Kann mir schon denken, wo dieser Mensch bei Schauspielerinnen gerne die Hand auflegt: Auf die Weichteile natürlich. Wie kann ein Engel wie Elli Koschinsky sich von einem Handaufleger beeindrucken lassen? Sie ist doch intelligent, in ihrer Rolle als Marianne zwischendurch auch böse, sarkastisch und skeptisch. Den Mann werde ich mir aus der Nähe betrachten, möglichst ohne dass sie davon Wind bekommt. Eine gute Gelegenheit sollte das jedenfalls sein, über den Tsunami an esoterischem Geschwätz, der die Köpfe in Wien verdunkelt, selbst den von Hieronymus Brohh, ein paar wirklich ätzende Zeilen zu schreiben. Habe den Titel schon ungefähr im Kopf: „Meister der Finsternis – wie man mit Handauflegen Geld aus der Tasche und die Vernunft aus den Köpfen zieht. “

      Jetzt bricht die schlechte Laune vollends über mich herein. Ich würde am liebsten über die Beete mit der ganzen überflüssigen Blütenpracht laufen und sie zertreten.

      Lasst mich doch in Ruh mit eurem täuschenden Rosenfrieden! Ich weiß, ihr seid schön, aber was nützt mir das? Eben bin ich von einer Rose gestochen worden. Ich lasse euch hinter mir, ihr werdet ohnehin von nichts gerührt, blüht einfach weiter, da kann es in meinem Kopf noch so toll und noch so düster aussehen.

      Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich mir für heute Abend vornehme. Ich gehe zu Lisa. Jawohl!

      Habe ich Lisa in meinem Bericht schon erwähnt? Ich glaube ja. Jedenfalls habe ich sozusagen ein Verhältnis mit ihr. Wien hatte ich ja schon früher einige Male einen Besuch abstatten müssen, und da hat es sich eben ergeben. Wenn Elli sich mit diesem Handaufleger ergötzt, treibe ich es eben mit meiner Liaison aus früherer Zeit. Eigentlich wollte ich ja mit Lisa Kinsky schon seit längerem brechen, aber jetzt werde ich es mir überlegen.

      Ein Loblied auf Forchtel

      Im Café Bräuner gegen halb zehn abends eingetroffen, schlage ich wie immer das Blatt der intellektuellen Szene auf, den ‚Wiener Tag- und Nachtfalter’. Da stoße ich gleich auf eine Kolumne von Brohh. Vermutlich liegt mir da das Ergebnis seiner plötzlichen Geistesabwesenheit vor Augen, als er den Gesprächsfaden mit Elli und mir plötzlich kappte und wir mit einem Mal sozusagen durchsichtig für ihn wurden: Über unsere Körper hinweg schien er in eine unendliche, ihn geheimnisvoll inspirierende Ferne entrückt. Das rühmen seine Jünger an ihm, diese überfallsartig auf ihn eindringenden Momente der Inspiration, wenn der schöpferische Impuls plötzlich von ihm Besitz ergreift. Nun halte ich also schwarz auf weiß die Frucht der plötzlichen Eingebung in Händen.

      Die große Verheißung

      Dr. Hieronymus Brohh

      Sie stehen Schlange vor dem Imperial – sie, das sind all die zahllosen Wiener und Wienerinnen, die der Politik nicht mehr trauen – wir tun es ja alle nicht mehr. Die sich aber inspirieren und spirituell renovieren lassen durch einen Mann, der für uns alle ein großes Geheimnis ist und für einige auch eine große Verheißung. Die Rede ist von Cornelius Forchtel, jener Sternschnuppe, jenem leuchtenden Meteorit, der aus heiterem Himmel in unsere Köpfe schlug. Allgemein wird er als Handaufleger bezeichnet, was offenbar seine Profession im engeren Sinne ist, aber damit scheint mir das Phänomen Forchtel viel zu oberflächlich beschrieben. Gewiss, von seinen Händen scheint eine ungeheure Kraft auszustrahlen. Alle, die bei ihm waren, berichten übereinstimmend von der inneren Verwandlung, von der belebenden Wirkung, der tiefen Freude, die sie nach der Begegnung mit diesem Manne verspüren. Ja, und einige – das wollen wir nicht misstrauisch oder als blasierte Skeptiker übergehen – sprechen sogar von erstaunlichen Heilungen. Ein Blinder sei wieder sehend geworden, ein Lahmer wieder gehend. Der Philosoph sollte sich dazu jeder Meinungsäußerung entschlagen. Solange die Wissenschaft uns nicht eindeutige Fakten liefert, besteht unsere Pflicht in der objektiven Berichterstattung. Diese allein erlaubt uns allerdings jetzt schon eine Aussage von größter Reichweite und Relevanz. Cornelius Forchtel bringt einen frischen, einen moralisch tonisierenden Wind in unsere doch manchmal reichlich dekadent anmutende Stadt. Die Schläfrigen unter uns werden aufgerüttelt, die Satten und allzu Bequemen herausgefordert, die pfründenumhegten Politiker aus ihrer Selbstgefälligkeit gerissen. Dieser Mann macht uns klar, dass unsere Stadt eine Aufgabe hat. In einer vielfach desorientierten Welt, in der nur noch das Materielle, der Nutzen und der Augenblick zählt, muss Wien grundsätzlich anders sein, indem es den Menschen wieder die spirituelle und moralische Richtung zeigt. Cornelius Forchtel ist der Stern am Horizont, dem wir alle gern folgen.

      Aber Achtung, lieber Forchtel, hüte dich vor all den Speichelleckern, die dich erst umschwänzeln, um dich danach genüsslich zu Fall zu bringen! In Wien sind die Neider und Scheelsüchtigen stets zur Stelle, sobald ein Genie ihr eigenes kleines Licht in den Schatten stellt. Schon höre ich von verschiedenen Seiten missgünstige Kommentare.

      Für fünf Minuten Handakrobatik stecke der Forchtel fünfhundert Euro ein.

      Na und? Was büßt ihr Reichen und Satten denn dadurch von eurem