Till Angersbrecht

Wien!


Скачать книгу

Auslassungen an. Die sind alle von jener ätherischen Konsistenz, die einen Augenblick lang die Leere des Kopfs ausfüllt, um sich restlos und augenblicklich in Luft aufzulösen, sobald ich beim Fortgehen die Tür hinter mir schließe.

      Doch nein, heute ist eine Geschichte dabei, die durchaus nicht alltäglich ist, und die es sogar ganz besonders verdient, einen wichtigen Platz in dieser Chronik einzunehmen.

      Du wirst es nicht glauben, sagt sie, und tatsächlich weigere ich mich auch zunächst, ihrer Erzählung Glauben zu schenken. Zwei Araber wurden vorgestern aus dem Gestüt Piber in der Steiermark zu uns transportiert. Das ist Routine für alle Hengste, sobald sie vier Jahre jung und zum Zureiten alt genug sind. Du kannst dir vorstellen, wie ungestüm und voll wilder Laune diese halbwüchsigen Lipizzaner sind. An den Transport in den engen Pferdeanhängern hat man sie allerdings schon vorher gewöhnt. Das regt sie nicht mehr sonderlich auf; normalerweise lassen sie die beinahe dreistündige Fahrt widerstandslos über sich ergehen. Zunächst ging denn auch alles gut, aber nur bis zum Gürtel, genauer gesagt, bis zu der Stelle, wo der Transporter den Gürtel quert. Dann aber geschah es. Beide Hengste sind toll geworden. Und zwar nacheinander in beiden Wagen, sie wurden ja getrennt voneinander befördert.

      Liesl schüttelt den Kopf.

      Unfassbar. Wie kann so etwas passieren? Sie überquerten den Gürtel genau an der Stelle, wo die Triester Straße unter der Eisenbahnbrücke hindurchführt. Die Wagen folgten einander in einem Abstand von etwa zehn Minuten, und beide Male passierte exakt dasselbe. Die Hengste schlugen so wild mit den Beinen, dass sie sich dabei verletzten und das Blech des Transporters verbeulten. In beiden Fällen blieben die Wagen gleich nach Überquerung der Fahrbahn stehen. Als der Fahrer des zweiten Transporters eintraf, sah er den ersten schon auf der anderen Seite des Gürtels in der Wiedner Hauptstraße parken und stellte sich gleich daneben. Beide Chauffeure machten umgehend von der Notspritze Gebrauch, mit der die Tiere im Ernstfall beruhigt werden. Offensichtlich waren die Hengste außer sich. Ich sage dir, solange es die Fahrten vom Gestüt Piper zu unserer Hofreitschule gibt, ist so etwas noch niemals vorgekommen.

      Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Liesl wie ein kleines Kind anlächle und sie merken lasse, wie wenig ich die Geschichte glaube.

      Weißt du, es hat bei euch einmal einen seltsamen Vogel gegeben, Paul Kammerer hieß er, ein Biologe, den man zum Fälscher erklärte, ob mit Recht oder Unrecht, weiß ich nicht. Jedenfalls glaubte der Mann, einem Gesetz der Serie auf der Spur zu sein. Die Dinge träten meist im Cluster auf, so behauptete er. Jedes Ereignis habe sozusagen eine innere Tendenz, sich an einem anderen von gleicher Art festzuhaken. Kammerer suchte sich dafür alle möglichen Beispiele zusammen. Blickte er zufällig aus seinem Fenster auf die Straße, dann kamen entweder zehn Juden vorbei oder keiner. Wenn du mich fragst, ich glaube, dass es sich mit deinen zwei Gäulen auf gleiche Weise verhält.

      Wie immer spreche ich absichtlich von Gäulen, um Liesl ein wenig zu reizen. Ihre Augen blitzen dann auf, manchmal bebt ihre Lippe. Dann sieht sie so schön aus, dass ich sogar in Gefahr bin, mich doch noch in sie zu verlieben. Doch diesmal lässt sie sich nicht provozieren.

      Willst Du mir etwa einreden, dass alles nur Zufall sei?

      Im Gegenteil, erwidere ich lachend. Die beiden Gäule wurden einfach mitten auf dem Gürtel vom Gesetz der Serie heimgesucht. Einmal verrückt, das war jedem von ihnen zu wenig, also sind sie beide gleichzeitig verrückt geworden.

      Sie gibt mir mit der Hand einen recht forschen Klaps auf die Wange.

      Ich weiß schon, über Ernstes ist mit Dir nicht zu reden. Übrigens auch nicht mit der Polizei. Die haben erst den Kopf geschüttelt, dann haben sie nur noch mitleidig gelächelt. Für schwarze Magie fühle die Polizei der Stadt Wien sich leider nicht zuständig, da solle ich mich doch besser an einen gewissen – wie heißt er noch? – einen gewissen Forchtel wenden.

      Liesl war wieder einmal von mir enttäuscht, denn damals habe ich über die Angelegenheit ja noch gespottet. Heute gestehe ich reumütig ein, dass ich mich damals zu Unrecht lustig machte. Ich hätte gewiss nicht gelacht, nein, ich wäre blass geworden, wäre mit Fragen auf sie eingestürmt, hätte ich gewusst, was alles noch kommen sollte. Ich bin eben nicht Dombrowsky, der glücklose Leichenbeschauer. Der wäre sofort stutzig geworden, wenn er vom Gürtel hört.

      Bevor ich ihre Wohnung verlasse – mittlerweile ist es zwölf Uhr nachts geworden - fragt Liesl mich beiläufig, ob mir der Name ‚Charmefabrik’ etwas sagt?

      Charmefabrik?, entgegne ich. Du willst doch hoffentlich nicht sagen, dass ihr jetzt auch noch den Charme am Fließband erzeugt, wie vorher schon eure Mozartkugeln. Na, bravo!

      Sei still, du bist ein Piefke und als solcher kannst du durchaus etwas Zuckerguss von unserem Wiener Charme vertragen. Der geht dir nämlich so ziemlich ab.

      Widerspruch liegt mir auf der Zunge. Charmefabrik - wie blödsinnig dieses Wort. Aber irgendetwas reizt mich denn doch.

      Das ist Wien, raunt mir eine innere Stimme zu. In Wien ist alles anders, selbst der Blödsinn. Mir schmecken ja auch die Mozartkugeln. Ohne weiter nachzudenken, gebe ich meine Einwilligung, sie bei Gelegenheit dorthin zu begleiten. Sie steckt mir eine Visitenkarte des Vereins in die Jackentasche. Mit flüchtigem Blick lese ich darauf: ‚Elmayers Verein zur Pflege der guten Umgangsformen und der echten Wiener Höflichkeit - kleiner Festsaal im Palais Ferstel’.

      Doch dann erstarre ich und muss mich zusammenreißen, um mir nichts anmerken zu lassen.

      Du solltest unbedingt einmal kommen, sogar eine Schauspielerin vom Burgtheater, Elisabeth Koschinsky, hat uns kürzlich besucht.

      Todessehnsucht

      Von Elli weiterhin keine Nachricht, mein Kopf und die Tage sind blank von ihrem Schweigen. Neuerlich greift nun auch die ‚Presse’ den Klatsch um den inzwischen auch dem Leser sattsam bekannten Cornelius Forchtel auf. Während einer in der Lobby des Imperials am Ring abgehaltenen Pressekonferenz habe der Handaufleger für Aufruhr gesorgt, weil er eine Zeile aus den Prophezeiungen des Nostradamus auf Wien bezieht. Eine neue Belagerung stehe bevor, orakelt Forchtel.

      Empört schmeiße ich das Blatt auf den Boden. Wie ist es nur möglich, dass unser angeblich so fortschrittliches Jahrhundert solchen Dunkelmännern immer noch Auslauf und Redezeit gewährt, Leuten, die schwachen Köpfen den kläglichen Rest von Vernunft austreiben? Wie stellt der Mann sich denn eine solche Belagerung vor? Sollen das vielleicht himmlische Heerscharen sein, die, mit Speeren und Steinschleudern bewaffnet, Wien von oben her überfallen?

      Es ist Zeit, dass ich selbst zur Feder greife. Ich nehme mir vor, einen boshaft gewürzten, einen die Wiener Theaterseele mitleidslos sezierenden Aufsatz zu schreiben, in dem ich mich über die unfassbare Leichtgläubigkeit der Einheimischen mokiere. „Wien ist anders, aber warum?“ soll er heißen.

      Natürlich ist jede Stadt anders; Wien genauso wie alle übrigen. Geh nach Paris, nach Chongqing, New York, Vancouver oder Kapstadt. In jeder sind die dort lebenden Menschen von ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit überzeugt. Alle wollen ja heutzutage etwas ganz Besonderes sein – was ist daran originell? Oder bewundert man etwa mich, Carsten Reddlich, dafür, dass mein Genotyp im ganzen mich umgebenden Universum nur ein einziges Mal existiert? Eher wäre es ein Wunder, wenn ein Ei in jeder Hinsicht so wie das andere wäre, Carsten Reddlich und Du, lieber Leser, bloße Kopien ein und desselben Originals und jede Stadt ein bloßer Abklatsch aller übrigen Städte.

      Das wäre allerdings ein wahrhaftiges Wunder, doch darüber werde ich kein Wort verlieren. Ich soll Vorurteile bedienen, und zwar so, dass die Leute ihren Spaß daran haben. Im Grunde bin ich nur ein bezahlter Federfuchser oder, da ja keiner von uns mehr Federn verwendet, eine Art Tastenlakai. Was man von mir erwartet, ist eine gewisse Apartheit des Stils – damit man die Marke Reddlich auf Anhieb erkennt - durchmischt mit Witz und Ironie, wozu dann noch eine wohldosierte Prise an Tatsachenkenntnis hinzukommen darf, aber, bitte schön, bescheiden im Ausmaß, damit der Leser sich nicht überfordert fühlt!

      Ich bin ein Tastenlakai, keine Frage, aber wartet nur, für diese Sklavenarbeit werde ich mich noch hinterrücks an euch rächen!