Till Angersbrecht

Wien!


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allerlei Notizen in meinem Tagebuch. Ja, und darin halte ich euch die Wahrheit entgegen – nichts als die lautere, böse, schmerzhafte Wahrheit. Auf den eleganten Stil will ich in meiner Chronik verzichten, Witz findet ihr nur, wenn die Dinge selbst einmal witzig sind, aber Ironie, das ja. Ironisch sollte man immer sein, sonst wachsen einem die nackten, hässlichen und bösen Tatsachen über den Kopf und man fühlt sich wie auf einer Müllhalde ausgesetzt. Nein, ohne Ironie geht es nicht, sonst wird man von den platten Tatsachen erdrückt und erschlagen. Von diesem Forchtel zum Beispiel, der die Belagerung Wiens prophezeit.

      Zieh hin, hatte mir mein Chefredakteur mit spöttischem Lächeln eingeschärft, bevor ich nach Wien aufbrach, zieh hin, als stände dir eine ethnologische Expedition ins Amazonasbecken bevor. Betrachte die Leute genauso, als wären sie Eingeborene mitten im Urwald oder meinetwegen auch auf einer soeben entdeckten pazifischen Insel.

      Hier, fügte er hinzu, zu diesem Thema habe ich damals, als ich selbst dort kurze Zeit zu Besuch war, einige Zeilen geschrieben, die Du als Wegzehrung mitnehmen solltest, um die Stadt nicht ganz auf nüchternen Magen zu genießen. Er drückte mir ein Blatt in die Hand, das ich in einer Mappe verstaute und jetzt zum ersten Mal wieder daraus hervorziehe. Vielleicht hilft es mir ja gegen Forchtel.

      „Was jeder Deutsche sehr schnell entdeckt, ist der markante Inselcharakter der Stadt. Wien ist eine Insel, ringsherum von barbarischen Bergvölkern umgeben, deren Sprache für unsereinen so gut wie unverständlich ist. Fast alle Kultur des großen Österreich stammt von dieser Insel, alle höhere Lebensart und natürlich alle großstädtische Arroganz, auch gegenüber uns Deutschen, die sich in langer und mühsamer Mimikry üben müssen, um von den Einheimischen als ebenbürtig bewertet zu werden. Denn für den Durchschnittswiener bleibt der Deutsche immer ein Piefke, da kann er sich noch so viel Mühe geben. Selbst wenn er beflissen Samstag statt Sonnabend sagt und Pointe wie Pöinte ausspricht, wird man ihn immer spüren lassen, dass er ein Eindringling ist – ein Zuagereister, wie sie das nennen. Vor allem macht man ihm klar, dass er niemals in die labyrinthischen Abgründe ihrer Seele eindringen wird, die sie sich wie ein Schatzhaus vorstellen, das allenfalls ein Ali Baba mit seiner Wunderlampe erhellt. Wir Deutsche sind hier nur Voyeure, dazu verdammt, als staunende Betrachter die seltsamen Regungen dieser Seele aus der Distanz zu betrachten. Es nützt nicht einmal, das Psychoobjekt in Formaldehyd einzulegen, um es dann in aller Ruhe und Objektivität wie ein naturkundliches Präparat zu studieren - dann löst sich der Glitzerschatz nämlich in Dunst und ätherische Nebel auf. “

      Na ja, mein lieber Chef hat da wohl auf seine notorisch grimmige Art übertrieben. Bisher komme ich mit den Einheimischen ganz gut zu Recht, und in die dunkelsten Abgründe der Wiener Seele möchte ich ohnehin nicht hinuntersteigen.

      In seiner notorisch mäkelnden Art setzt mein Chef dann noch die folgenden, recht bösen Bemerkungen hinzu, die ich nun wirklich nicht billigen kann:

      „Im Grunde leiden die Österreicher unter einem nie ausgeheilten Deutschen-Komplex, seit sie ihre Kriege gegen die Preußen zweimal verloren haben. Insgeheim bewundern und beneiden sie uns, weil sie zum Zwergstaat schrumpften, während dieses Schicksal den Deutschen trotz zeitweiser Teilung erspart blieb. Die Glorie Österreichs lebt nur noch in der Erinnerung fort, in den Palästen, Kirchen und Gärten der großen Stadt Wien; wir dagegen spielen immer noch eine Rolle. Mittlerweile macht sich der Piefke sogar auf der großen Weltbühne breit.

      Welch Wunder, dass Ihre Bewunderung stets mit einer kräftigen Prise Missgunst gewürzt ist. Sie betrachten uns als komische Parvenüs, über die sie sich aristokratisch herablassend amüsieren. In ihren Augen sind wir schrecklich jung und naiv, unsere direkte, gerade Art gefällt ihnen schon gar nicht. In Wien ist man niemals direkt. Man verabscheut es, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, man verpackt sie stattdessen in Geburtstag oder Weihnachtspapier. Vor der Wirklichkeit empfindet man überhaupt einen Horror, weil sie ja meistens hässlich und jedenfalls schwer erträglich ist. Deshalb zieht man es vor, sie in einen schönen Schein wie in einen Festmantel einzuhüllen. Ganz Wien erstrahlt in diesem barocken Schein, keine andere deutsche Stadt ist in so viel funkelnden Festglanz gekleidet.

      So gesehen, ist Wien wirklich anders. Wenn du ein gehetzter, von den Tatsachen getriebener, allzu nüchterner Deutscher bist, dann wirkt Wien wie ein Sedativ auf Deine Seele. Dein ständig rotierendes Selbst wird auf wundersame Art ruhig gestellt, während du über den Graben schlenderst, deine Zeit in einem Caféhaus vertust oder im Stadtpark über Sandler und Tauben sinnierst. Wenn die Mittagsonne dann gnädig über der Stadt liegt, wird es Momente geben, wo du dich voller Verwunderung fragst, ob die Welt nicht am Ende doch heil, vernünftig und überhaupt die beste aller möglichen sei. Weil viele dies wirklich glauben, fühlt sich die Generation der grauen und silbernen Haare nirgendwo so wohl wie in Wien. Was man auch durchaus begreift: Angesichts des nahenden Endes braucht diese Generation nichts so sehr wie Beruhigung.

      Eher schwer haben es aber die jungen Leute in dieser Stadt. Die wollen ja gar nicht beschwichtigt, beruhigt und eingelullt werden! Die Jungen blicken im Gegenteil voller Beklemmung auf die großartigen Fassaden der alten Palazzi, die so herablassend lächeln und sie immer nur mit ein und derselben Botschaft bedrängen: Schaut her und schämt euch. So großartig wie wir werdet ihr niemals sein!

      Hier in Wien blickt die ganze Vergangenheit auf dich herab und lässt dich spüren, dass du ein Nichts bist und dich zwischen all dem ehrwürdigen Gemäuer wie ein verirrter Alien bewegst. Wie klein und unbedeutend ihr doch seid, flüstern längst verstorbene Mumien hinter den Fenstern, wie schäbig und drittrangig im Vergleich zu all den unsterblichen Ahnen, die aus der Vergangenheit auf dich blicken.

      Man muss das aushalten können, diese Gegenwart all der Untoten in den Prachtgassen des ersten Wiener Bezirks. Die Wiener selbst halten das keineswegs ohne seelische Beschädigung aus. Im Grunde zieht es die Lebenden mächtig zu den Toten, zu all den ehrwürdigen Vorbildern. In Wien gibt es eine Todessehnsucht, die nichts anderes ist als eine Verhexung durch die eigene, pompöse Vergangenheit. Nur wenn man eine ‚schöne Leich’ hinter sich hat, gehört man wirklich dazu, erst dann ist man selbst so ein barockes Gespenst, das böse Worte voll Ironie und Sarkasmus in die Ohren der Vorbeieilenden flüstert, um sich voller Schadenfreude an deren Verstörung zu weiden.“

      Vielleicht hat mein Chef ja doch einen Nagel auf den Kopf getroffen. Er schlägt für meine Begriff aber immer zu heftig zu. Es tut mir einfach weh, wie er seine Urteile von ganz oben aus der dünnen Luft der Vogelperspektive fällt. Mein Chef ist ein alter Mann, der hat diesen Röntgenblick alter Leute, mit dem er die Menschen in durchsichtige Gespenster verwandelt.

      Kein Server!

      Also diesen und anderen Unfug habe ich in meinem gerade fertig gestellten Aufsatz für das Frankfurter Feuilleton eingebaut, aber so, dass die Leser sich über Rätseln den Kopf zerbrechen. Soll hier nun eine Insel der Seligen am Rande des Wienerwalds und des Wahnsinns verspottet werden, oder ist es eine Liebeserklärung an eine einzigartige Stadt?

      Sollen sie rätseln! Ich habe das Rezept ja verraten, das ich in dieser Stadt lerne. In Wien darfst du niemals eindeutig sein. Die Eindeutigkeit macht dich verständlich, und Verständlichkeit macht dich gemein. Sollen sich die Leser den Kopf darüber zerbrechen, was der Autor in Wahrheit und wirklich meint! Ich habe mir Dr. Brohh zum Vorbild genommen.

      Jetzt bin ich aber auch fertig. Nach dieser Anstrengung meine und denke ich absolut gar nichts mehr. Mein Kopf ist leer, gähnend leer - wie immer, wenn ich gerade einen langen Gedankenfaden bis zum Ende gesponnen habe. Dann schlage ich meinen Laptop zu, manchmal sogar mit einem Schwung.

      Aus und Schluss! Ich trommle mit dem Finger auf den Tisch, um mich endlich von mir selbst loszureißen.

      Aber nein doch, so schnell geht es denn auch wieder nicht. Das Ganze muss noch an die Redaktion in Frankfurt abgeschickt werden. Also die Adresse schnell eingetippt und auf das Symbol für ‚Senden’ geklickt, ganz oben am linken Rand. Dann bin ich fertig.

      Fertig? Das bilde ich mir diesmal nur ein. Der Rechner überrascht mich mit einer verstörenden Meldung.

      „Kein Server!“ Was heißt denn das nun wieder? Ich bin heute wohl etwas nervös. So eine Meldung wirft mich ganz aus der