Till Angersbrecht

Wien!


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auf mich aus. Um es ehrlich zu sagen: Schon am ersten Tag war ich verliebt in Sankt Stephan.

      Dieser Dom, flüstert mir eine innere Stimme zu, ist vielleicht kein Haus für seinen offiziellen Mieter: Jehova, Jahwe oder wie ihr den Unbekannten sonst noch bezeichnen mögt, aber er ist ein Haus für Menschen, die darin zu Göttern werden. Sobald ich in die Dämmerung des großen Schiffs eintrete, spüre ich, wie etwas mit mir geschieht: eine wundersame Verwandlung. Ich werde nicht nur ein anderer Mensch, nein mehr als ein Mensch, eine Art Übermensch. In den vier Wänden meiner Wohnung in der Seilerstätte schrumpfe ich zu einer Miniatur, ich werde zu einem Nichts; hier dagegen wachse ich in die Höhe, aus den Dämmerschatten der Tiefe bis unter das lichtdurchwobene Dach. Das ist es, meine ich, was aus diesem Bauwerk ein unerklärliches Wunder macht. Jeder, der es betritt, wird wie von einem Sog in die Höhe gezogen. Geheimnisvoll überragt er sich selbst und sieht sich und seine Mitmenschen auf einmal gespenstisch den Raum des mächtigen Schiffs ausfüllend.

      Ich weiß, für solche Gedanken ist Albert unempfänglich. Ich wage nicht einmal, mit ihm darüber zu sprechen. Er hält meinen Arm gepackt und zieht mich mitleidslos hinter sich her. Stehen bleiben wir erst, als wir uns einer kleinen Gruppe von Gläubigen nähern, welche der Abendmesse im Halbschatten lauschen.

      Das darfst Du Dir nicht entgehen lassen, flüstert mir Albert zu. Ein Priester wie aus dem Mittelalter.

      „Deswegen ist Christus ja unter uns Menschen getreten, damit wir unsere Herzen dem Allmächtigen öffnen. Begreift doch, dass alles, selbst das geringste Ereignis von IHM seinen Sinn empfängt. Die Türken hätten Wien niemals umzingeln können, hätte Gott es damals nicht ausdrücklich so gewollt und beschlossen. Ihr wisst ja: Nichts geschieht ohne, geschweige denn gegen den Willen des Herrn. Unsere Vorfahren erregten den göttlichen Zorn, weil sie in Sünde lebten, so wie die Stämme Israels, die ER deshalb mit schlimmen Plagen gezüchtigt hatte. Oder glaubt ihr, ein feindliches Heer könne, ohne dass Gott es bemerkt, Tausende von Kilometern quer durch Europa ziehen? Ihr Gotteslästerer. Der Herr sieht sogar, wenn ein einzelnes Haar auf dem Kopf eines Gerechten gekrümmt wird. Wie sollte es ihm verborgen bleiben, dass ganze Heere die Fluren brandschatzen und die Gläubigen morden?

      Ich sage euch, ER sieht es nicht nur, sondern ER hat es so und nicht anders geplant. Jawohl, gewollt, geplant und dann mit göttlicher Strenge von Anfang bis Ende durchgeführt. Denn vor Gott gibt es weder Achtlosigkeit noch Zufall. ER war es, der den Heiden die böse Absicht einflößte, gegen ein christliches Land in den Krieg zu ziehen. ER war es, der die Heiden gegen unsere große Stadt anrennen ließ. Gott hat es gewollt. ER war es, der uns in äußerste Not gebracht hat. Denn Er wollte uns warnen.

      Hört ihr, warnen wollte er uns, aber unseren Sünden zum Trotz hat der Herr uns dennoch seine Gnade geschenkt. Niemals wollte er uns wirklich vernichten. Unsere Umkehr wollte er, aber nicht unser Verderben. Deshalb hat ER den Türken erst den Mut wachsen lassen, und dann hat ER sie im Jahre 1683 von der Hand unserer Verbündeten geschlagen.

      So hat Gott Fluch und Segen über seine abtrünnige Herde gebracht. Eine Zeitlang haben wir die Zeichen des Herrn verstanden und unsere Lektion gelernt. Doch leider nur kurze Zeit, denn aus unseren Herzen ist die Verstocktheit nie restlos gewichen. Die Errettung aus äußerster Not hätte uns mit ewiger Dankbarkeit erfüllen und zu einem ewig frommen Leben ermuntern sollen, doch schon bald haben sich die Kinder Gottes wieder von ihrem Herrn und der Kirche abgewandt. Unser Herr Zebaoth hat die Undankbarkeit seiner Herde lange genug hingenommen; jetzt ist es mit seiner Geduld zu Ende. Ich sage euch, ER wird Wien neuerlich belagern. Ich weiß es, denn täglich schickt mir ER mir seine Zeichen. Gott wird Wien belagern, und niemand weiß, ob es für uns auch diesmal noch Rettung gibt.“

      Der Priester bekreuzigt sich und sein Blick richtet sich in die Höhe zu den Gewölben des Doms, wo zwischen den Lichtfluten der Fenster zahlreiche dunkle Nischen Raum für Erscheinungen himmlischer Wesen bieten. Die Gläubigen, eine eher spärliche Gruppe in der Weite des vorderen Mittelschiffs, folgen dem Blick des Gottesmannes. Schweigen und Betroffenheit haben sich ihrer bemächtigt.

      Da glaubst du, höhnt mir Alberts Stimme ins Ohr, da glaubst du, wir lebten im Zeitalter der Vernunft - alles Unsinn, hier herrscht finsterstes Mittelalter. Er zieht mich in Richtung zum Ausgang, als zöge er mich wie einen Schoßhund hinter sich her. Ich lasse mir diese Manipulation meiner Person heute noch einmal gefallen. Immerhin ist er Lisas Bruder. Noch habe ich nicht mit ihr gebrochen.

      Übrigens verstehe ich überhaupt nicht, wie Albert sich so erregen kann. Der Priester tut doch nur seine Pflicht! Die Sitze in der Kirche wären noch viel leerer, würde es ihm nicht gelingen, den Leuten Schauer der Angst über den Rücken zu jagen. Ein Priester konkurriert heute nicht nur mit den Kinos und dem Theater, sondern auch noch mit der ganzen aufwühlenden Weltpolitik. Da muss er sich schon etwas einfallen lassen – zur Not fantasiert er eben eine Belagerung herbei.

      Was mich betrifft, so kümmere ich mich nicht um die Priester, wenn ich Sankt Stephan betrete. Menschen verlieren für mich alle Bedeutung angesichts dieses architektonischen Wunders, das sich wie ein Himmelsreich aus flutendem Licht und schweigender Dunkelheit mitten im laut pulsierenden Herzen der Weltstadt befindet. Ich trete ein und fühle mich augenblicklich wie Jonas, als ihn der Wal verschluckte. Draußen ist das Meer, lauert das Ungewisse, aber hier umhüllt dich Geborgenheit. Ich blicke zu den Verstrebungen des Gewölbes auf, zu den kaleidoskopischen Lichtspielen der langgezogenen Fenster, werfe einen Blick auf die gewaltige Orgel.

      Dieser Ort ist ganz und gar unwirklich, flüstert mir eine innere Stimme zu. Und weil er so unwirklich ist, müssen es da nicht auch die darin gesprochenen Worte, Wünsche und Verheißungen sein?

      Türken? Na meinetwegen. Von Gott, dem Allmächtigen, auf die Reise geschickt? Natürlich, es geschieht ja nichts ohne, geschweige denn gegen seinen Willen und seine Zwecke. Also handelten die Türken in seinem Auftrag und die Erschlagenen starben auf seinen Befehl? Gewiss doch, die Logik der religiösen Fabulierer führt unweigerlich zu solchen Schlussfolgerungen.

      Natürlich spottet das aller Vernunft. Ich weiß schon, Albert, was du mir sagen willst. Ich habe es schon tausendmal gehört, von dir und vielen anderen auch. Ihr habt alle Recht und seid doch im Irrtum, denn das ganze Bauwerk spottet ja aller Vernunft. Wozu ist es gut, ein solches Jahrhundertwerk mitten in den Stadtkern zu setzen, wenn niemand darin wohnt außer einem Geist, den keiner seiner Besucher jemals erblicken wird? Wozu ist ein Gebäude gut, das ausschließlich dazu dient, einem frei erfundenen Mieter mehr Wohnraum zu bieten, als die Stadt selbst ihren mächtigsten Bürgern gewährt? Wozu ist es gut, wenn der einzig reale Zweck eines solchen Bauwerks darin besteht, aberwitzige Reden über einen Unsichtbaren zu halten, der als absoluter Diktatur über unser Handeln und Denken erscheint?

      Alles richtig, mein lieber Albert, aber ich frage dich, wie kommt es, dass nicht nur die Wiener und Ungläubige wie du und ich in das Innere dieser Brutstätte von Aberglauben und purer Unwissenheit streben, sondern Menschen aus aller Welt, und dass nur wenige, vielleicht überhaupt nur Leute wie du, das Bauwerk so verlassen, wie sie hineingelangen?

      Es besteht Grund zu der Annahme, lieber Albert, führe ich meine schweigende Rede fort, dass nicht nur die Wiener, sondern die Menschheit überhaupt ohne die Unvernunft gar nicht leben kann. Deswegen haben sie diesen Dom erbaut und deswegen gibt es Feuilletonisten wie mich oder den Dr. Brohh. Wozu schließlich braucht die Welt denn ein Feuilleton und die Feuilletonisten?

      Als wir uns wieder im Freien auf dem Platz vor dem Dom befinden, redet Albert auf gewohnte Art eindringlich auf mich ein.

      Du musst handeln, du musst diesem Hetzer das Handwerk legen. Ihr Journalisten seid eine Macht. Mit dem Wort könnt ihr gewaltige Wirkungen erzielen. Seit Wochen hetzt Pater Irenäus gegen die Türken. Er spricht von einer neuen Belagerung. Als Geistlicher kann man einen derartigen Irrsinn immer noch ungestraft sekretieren. Leute wie er vergiften das Zusammenleben in unserer Stadt. Könntest du nicht einen Artikel gegen den schwachsinnigen Pater schreiben?

      Ich schüttle bedauernd den Kopf.

      Nicht schon wieder Politik!, wehre ich ab. Ausdrückliche Weisung des Chefs. Man darf die Leute nicht überfüttern.

      Meine Antwort ist frei erfunden. In Wahrheit darf ich meinen Senf über jede beliebige