Till Angersbrecht

Wien!


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nichts anderes als ein Sklave, der Sklave unserer Zeit. Der hat bekanntlich aufs Wort zu gehorchen, sonst wäre er kein Sklave. Es macht mich nervös, es beleidigt mich, es ist eine unerträgliche Zumutung, wenn sich die Technik Eigenmächtigkeiten erlaubt.

      „Kein Server“ – das ist doch offene Rebellion!

      Ich überprüfe das Internetkabel, immerhin, da ist alles in Ordnung. Dann gehe ich auf Safari und versuche zu googeln, indem ich einen Begriff einsetze. Welchen Begriff? Irgendeinen. Seltsam, dass mir das Wort ‚Belagerung’ in die Finger gerät. Ich stutze. Warum eigentlich seltsam? Jedes Wort ist doch so gut wie das andere. Ich hätte ebenso gut ‚Honigbiene’ eintippen können, das ist ganz einerlei. Der Zufall hat nun einmal gewollt, dass es das Wort Belagerung ist.

      Die Entertaste halte ich gedrückt. Das Ding reagiert – nur leider falsch. „Kein Server“ höhnt es zurück.

      Jetzt wird mir so richtig heiß – und das, obwohl dieser Tag doch eben erst beginnt.

      Da erinnere ich mich. Hatte Elli nicht in ihrer letzten Mail davon gesprochen, dass sie Schwierigkeiten mit dem Internet hätte?

      Wien, du enttäuscht mich! Du solltest wissen: Ich komme von draußen. Ich bin Besseres gewohnt und verstehe in dieser Hinsicht absolut keinen Spaß. In dieser Stadt habt ihr die schöneren Fassaden und die höflicheren Menschen - das habe ich von Anfang an zugegeben. Aber wenn es um Technik geht, dann sind wir Deutsche euch doch haushoch überlegen. Bei uns funktioniert einfach alles - zumindest fast alles. Bei uns sitzen Heere von braven Arbeitsbienen in den Büros und sorgen dafür, dass der Geist fliegen kann, ohne von den Bleigewichten einer unbrauchbaren Technik auf den Boden hinabgezogen zu werden. Wie anders bei euch in Wien! Ihr wollt noch viel höher fliegen, aber dann passiert es. Ihr verbrennt euch die Flügel und stürzt einfach ab, wie gerade in diesem Augenblick.

      Ich gebe auf, schlage den Deckel meines Laptops ein zweites Mal zu und diesmal wirklich mit zu viel Schwung. Das wäre wieder mal Material für einen neuen Aufsatz: ‚Die Überflieger’ könnte er heißen oder ‚Der Wiener Geist – ein Ikarusphänomen’.

      Im Stephansdom

      Ich stelle fest: Heute ist ein besonderer Tag, weil ich eine Verabredung mit einem VIP in der Tasche habe, also einer überaus wichtigen und möglicherweise sogar wertvollen Person. Davon gibt es in Wien mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Man könnte glauben, der Liebe Gott hätte hier sein Dauerquartier aufgeschlagen und sich unter den Bewohnern der Stadt seine persönliche Leibgarde zusammengestellt. Hier sind einfach alle ‚Persönlichkeiten’ und irgendwie prominent, sogar der Straßenfeger, der Trafikbesitzer und natürlich der ehemalige Fürst von Soundso sowieso - lauter Very Important Persons. Wehe, wenn du als Piefke so grob sein solltest, nicht beständig das Weihrauchdöschen zu schwenken, bist du in Wien einfach fehl am Platze. Ich finde es schön, wie wichtig sich alle nehmen.

      Zu dieser Zeit des anbrechenden Abends – acht Uhr ist gerade vorbei – ist der Graben mit Menschen belebt. Links und rechts strömen sie an der Pestsäule vorbei, die alles Unglück von der Stadt und ihren Menschen bannt, denn die Heilige Jungfrau Maria hält in höchstem Auftrag ihre schützende Hand über Wien. Touristen sind in großer Zahl unterwegs und natürlich die Straßenflöter, -zupfer und -geiger, die sich – einige mit anheimelnden Klängen - um das Portemonnaie der ersten bemühen.

      Auf der gegenüberliegenden Seite bemerke ich plötzlich Albert, sein strohblonder Schopf fällt überall auf. Ich denke, er hat mich nicht bemerkt, also blicke ich geradeaus, um einem Treffen auszuweichen, denn ich habe nicht allzu viel Zeit. Leider ist es aber bereits zu spät.

      Servus Carsten, höre ich ihn rufen.

      Wie es sich gehört, täusche ich freudiges Entzücken über die unverhoffte Begegnung vor. Ich treffe Albert ja manchmal sehr gern, aber gerade heute ist mir die Begegnung unangenehm. Albert ist nicht nur Mathematiker - wenn das sein einziger Fehler wäre! Er ist auch noch der Bruder von Lisa, und das macht die Sache nun wirklich schlimm. Trifft man mit den Verwandten einer Geliebten zusammen, zumal einer solchen, von der man sich trennen will, dann kann das gar nicht anders als peinlich sein. Verwandte sind in der Regel ganz gewöhnliche Menschen, während Lisa doch noch vor einiger Zeit eine besondere Frau für mich war, eine Halbgöttin sozusagen. Man stelle sich vor, dass Helena eine alte unappetitliche Großmutter hätte, womöglich mit runzligem Gesicht und einer Narbe über der Lippe! So etwas verkraftet selbst der feurigste Liebhaber nicht. Es ist nun einmal so. Verwandte können einem sämtliche Illusionen rauben, sie werden uns von der Biologie aufgezwungen. Bestenfalls nimmt man sie widerstrebend in Kauf. Und dieser Albert - na ja, jetzt ist es einfach zu spät.

      Komm Carsten!

      Er greift nach meinem Arm. Das Schlimme ist, der Mann mag mich. Er mag mich beinahe noch mehr als seine Schwester, die in mir – das brauche ich ja nicht mehr zu begründen – eigentlich nur das Pferd auf zwei Beinen schätzt.

      Albert Kinsky ist ein kenntnis- und geistreicher Mann, der am mathematischen Institut als Professor für Mathematik firmiert, dennoch halte ich ihn für beruflich stark deformiert. Stets mit physikalischen Weisheiten schwanger, ist er beständig auf der Suche nach Opfern, denen er diese Weisheiten an den Kopf werfen kann. Da kümmert es ihn überhaupt nicht, ob du dafür empfänglich bist oder nicht.

      Weißt du, dass die Einsteinsche Grenze für maximale Geschwindigkeit, die des Lichts, jüngst von berufener Seite in Zweifel gezogen wurde? Ist dir bekannt, dass das Dreikörperproblem kurz vor seiner Auflösung steht? Hat man dir schon gesagt, dass der Quantencomputer das arkanische Parallelenproblem endgültig beseitigen wird?

      Solche und ähnliche Enthüllungen schleudert mir Albert ungefragt ins Gesicht und schaut mich dabei aus leuchtenden Augen so liebevoll an, als glaubte er mir damit Wohltaten zu erweisen, die mich ein für alle Mal von allen quälenden Ungewissheiten befreien. Wie schade für ihn und wie peinigend für mich, dass er bei mir ganz und gar an die falsche Adresse gelangt. Die Mathematik liegt mir fern, und die physikalische Erkundung der Welt ist mir kein inneres Bedürfnis, so gesehen, bin ich auch nicht erlösungsbedürftig. Meist kostet es mich beträchtliche Mühe, bei seinen Ausführungen ein Gähnen zu unterdrücken. Dagegen ist Albert wiederum völlig unempfindlich. Für meinen inneren Kampf gegen die oft einschläfernde Wirkung seiner Ausführungen fehlt ihm der Sinn. Völlig davon durchdrungen, dass jeder vernunftbegabte Mensch gar nicht unbeschwert leben könne, ohne mit dem arkanischen Parallelenproblem zu ringen, überfällt er jedes seiner Opfer mit nie erlahmendem Enthusiasmus.

      Das ist das eine. Albert Kinsky ist aber nicht nur ein Fanatiker aller geoffenbarten und aller noch verborgenen Wahrheiten der Physik, zugleich ist er ein enragierter Kämpfer gegen alles, was er als Schwachsinn unerleuchteter Köpfe geißelt.

      Carsten, Du wirst nicht glauben, was Du da drinnen zu hören bekommst. Mir selbst sträuben sich noch die Haare.

      Er zeigt mit der Hand auf den Stephansdom am Ende des Grabens.

      Ich sage dir: die reine Reaktion und bösartige Volksverdummung, alles in der besten Tradition dieses Hauses.

      Dieser himmelblaue Blick seiner Augen! Es ist schwer, ihm nicht zu erliegen. Liesl blickt mich genauso an, wenn sie, über mich gebeugt, aus einer gewissen Höhe auf mich herabschaut! Und dann steht Alberts freudige Physiognomie auch noch in seltsamem Gegensatz zu seinen bissigen Worten. Natürlich hat er als Physiker von Geblüt mit Gott gar nichts am Hut, das ist normal, denn Gott ist ja nach wie vor unbewiesen. In den Lehrbüchern der Physik sucht man seinen Namen vergebens. Aber leider begnügt sich Albert keineswegs damit, den Alten Herrn und seine Verehrer einfach zu ignorieren. Offenbar hat er im Dom soeben etwas noch viel Schlimmeres entdeckt als die immer noch unbewiesene Gottheit.

      Ich folge ihm brav durch das Eingangsportal, was bleibt mir anderes übrig? Dabei betrete ich dieses Haus immer mit besonderer Erregung. Albert ahnt nicht einmal, dass ich den Stephansdom - für ihn eine Brutstätte von Aberglauben und Unwissenheit - nie ohne inneres Erschauern betrete. Gewiss, die Gottesbeweise gehen auch mich nichts an, ich übergehe sie mit Gleichmut und Gelassenheit. Wie die alten Folianten, in denen sie einst den Gläubigen vorgesetzt