Till Angersbrecht

Wien!


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uns hat seinen sprachlichen Instrumentenschrank mit allerlei Gerät vollgestopft, das uns in allen erdenklichen Lagen über die Runden hilft.

      Aber heißt das schon, dass ich die Einheimischen Papua-Neuguineas wirklich verstehe? Nein, natürlich heißt es das nicht, obwohl ich auf dieser Pazifikinsel doch nur in das Innenleben von Wilden eindringen muss. Aber jetzt machen Sie bitte einen Sprung über mehrere Tausend Jahre Zivilisation zu unseren unendlich viel raffinierteren Wienern mit ihrer hochgezüchteten Seele. Wie soll ein Fremder das begreifen?

      Ich kann mir ein heimliches Lächeln nicht verkneifen. Dieses Phantasieren über die Kasuare von Neuguinea und die hochgezüchtete Seele der Wiener, das ist schon der ganze Brohh: witzig, amüsant und alles so leicht dahingesprochen, dass er seine Anhänger zur Not Tage lang auf diese Art zu unterhalten vermag. Und dennoch ziehen seine Worte in diesem Augenblick an mir vorbei. Sie strömen sozusagen ins Leere, weil ich meine Augen nicht von Ellis Gesicht losreißen kann. Ich glaube, ich brauche mich nicht näher zu erklären. Jeder hat in seinem Leben irgendwann diesen Moment erlebt, da ein Funke überspringt, er innerlich sozusagen in Brand gerät. Mein Verstand ist nahezu kalt gestellt, nicht völlig ausgeschaltet natürlich, denn ich gebe mir alle Mühe, meine innere Verfassung unter Verschluss zu halten. Es gibt nun einmal Konventionen, über die man sich nicht hinwegsetzen kann. Doch dass ich von dieser Frau nicht mehr loskommen werde, das ist mir augenblicklich auf eine beinahe schmerzhafte Weise klar. Ihre Stimme, ihr seltsam schwebendes Lächeln, ihr rostbraunes fast bis auf die Schultern fallendes Haar - alles an dieser Frau fesselt mich.

      Wissen Sie übrigens, wendet sich Elli mir zu, als hätte sie etwas von meiner inneren Erregung bemerkt und wollte mich von sich selbst und den Witzeleien Dr. Brohhs ablenken, wissen Sie, dass alle Welt ganz wild nach diesem Handaufleger aus Deutschland ist? Forchtel heißt er und hat einen Blick, einen sehr seltsamen, ich würde sogar sagen, einen Blick, vor dem man sich fürchten muss. Er dringt unter die Haut und zieht die einen magnetisch an, während er bei den anderen im Gegenteil Widerstand oder sogar Widerwillen hervorruft. Nur gleichgültig bleibt keiner in seiner Gegenwart. Dieser Mann lässt niemanden kalt.

      Brohh bekräftigt ihre Worte mit einem Nicken.

      Es scheint, dass gerade unter den Damen der besseren Gesellschaft viele seiner Anziehungskraft erliegen. Ja, in diesem Handaufleger sehe ich eine Art wiederauferstandenen Rasputin, ein Phänomen zweifellos. Man könnte auch sagen, ein Hand-werker im besten und überhaupt ganz wörtlichen Sinne, der ein nahezu ausgestorbenes Gewerbe von neuem belebt. Die meisten benutzen ihre zwei Pranken doch nur, um in Wirtshäusern damit Radau zu machen oder zu anderen mehr oder weniger banalen Verrichtungen. Ich finde diesen Mann – Forchtel heißt er? – zunächst einmal aufregend und durchaus kompatibel mit unserer alten und neuerdings etwas kraftlosen Vindobona. Ich würde sogar sagen, er passt nach Wien, auch wenn er ein Deutscher ist, aber immerhin kommt er aus Rosenheim in Bayern, woher viele unserer fernen Ahnen stammen.

      Wissen Sie, spricht Dr. Brohh jetzt zu mir hinüber, wir Österreicher lieben das Immaterielle, wir sind geradezu süchtig nach Geist. Und dieser Mann gebraucht seine Hände, um damit Geist auszusenden, einen feurigen Strom sozusagen, der unsichtbar auf andere überfließt, wie es scheint, vorzugsweise auf den weiblichen Teil unserer Stadt. Energie, nennt er das.

      Also Energie, meinetwegen! Energie haben wir hier dringend nötig. Der einzige Fehler des typischen Einheimischen unserer Stadt besteht doch darin, dass ihn unsere zweitausendjährige Zivilisation schlaff und müde machte - manche von uns sind geradezu Defätisten. Wenn da jemand aus dem von roher Kraft immer noch strotzenden Bayern kommt, vollgeladen mit Energie, dann soll er willkommen sein.

      Mitten in seiner Tirade bricht Brohh plötzlich ab, räuspert sich. Seine Augen nehmen einen sinnenden Ausdruck an, genauer gesagt, schaut er über Elli Koschinskys und meinen Kopf hinweg irgendwohin in die Leere. Schluss! Das Zeichen ist unverkennbar. Elli begreift so gut wie ich, dass der besondere Moment gekommen ist, wo der schöpferische Geist sich auf Dr. Brohh niedersenkt, mit schnellem Flügelschlag sozusagen. Die Audienz ist vorüber. Wir dürfen gehen.

      Wir stehen vor dem Griensteidl auf dem Michaelerplatz.

      Nach der Lektüre Deines schönen Artikels, sagt Elli zu mir, hatte ich sofort den Wunsch, Dich irgendwann zu treffen.

      Die Wirkung dieser Worte vermag ich im Nachhinein nur schwer zu beschreiben. Diese Zeilen notiere ich sehr viel später, und ich verfüge natürlich über genug Erfahrung als Feuilletonist, um zu wissen, dass ein Autor sich hüten sollte, seine Gefühle auf allzu offensichtliche Art auszudrücken. Deshalb erlaube man mir die ornithologische Verfremdung. An diesem Tag glaube ich über den Kohlmarkt mit weit geöffneten Schwingen zu schweben und dabei nur ein einziges Bild vor meinen Augen zu sehen, das Bild dieser Frau. Ein oder zweimal wurde ich auf dem Graben angesprochen, aber ich fliege weiter, nehme niemanden der an mir Vorbeiströmenden wahr. Wie im Traum gelange ich zu meiner Wohnung in der Seilerstätte.

      Die schöne Leich

      Dr. Dombrowsky fühlte sich natürlich besonders geehrt, dass man ihm diesen Fall anvertraute. Keinerlei äußere Spuren deuten auf ein Organversagen, so teilte man ihm vor seiner Ankunft im Leichenhaus mit. Noch dazu handele es sich um einen ehemaligen Österreich-Meister im Kugelwerfen.

      Von der Richtigkeit dieser Feststellung konnte sich Dombrowsky alsbald durch den Augenschein überzeugen. Üppige Muskelpakete ließen die Oberarme wie wohlgerundete Hühnerkeulen aussehen. Es war, mit anderen Worten, ein perfektes Mannsbild, das da auf der Bahre unter dem Schein der Neonbeleuchtung lag, nur eben tot – und darin lag die Herausforderung, die Dombrowsky zu seiner eigenen und zur Befriedigung der ärztlichen Kunst meistern sollte. Es galt, die Ursache für dieses merkwürdige Ableben zu finden.

      Ereignet hatte sich der Unfall – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen durfte – auf der Mitte der Kreuzung, wo die Josefstädterstrasse nach einem Rechts- und einem daran anschließenden Linksknick den Gürtel quert. Die Beifahrerin, eine Freundin des Sportlers, brachte, von der Polizei befragt, nichts als stammelnde Laute über die Lippen. Boris hätte, so gab sie zu Protokoll, kurz zuvor noch einen Witz über einen seiner Kollegen vom Sportsverein gerissen, so einen Herrenwitz, wissen Sie, den ich als Frau nicht erzählen kann. Er habe wild gelacht, ja, aber leider nur kurz, denn gleich darauf sei er mitten im Lachen verstummt.

      Die Frau verstummte nun ebenso und begann still zu schluchzen.

      Nun fahr doch endlich, habe sie ihren Freund gedrängt. Die Ampel sei längst auf Grün gesprungen, und die Fahrer in ihrem Rücken hätten schon wild zu hupen begonnen. Aber er fuhr nicht, saß einfach da. Sie hätte ihm einen Puff in die Rippen versetzt, und dann, ja dann sei sein Kopf einfach so nach vorne gekippt.

      Erneut musste die Polizei ihr Schluchzen abwarten, bis sie am Ende hervorstieß:

      Wissen Sie, ich kann es einfach nicht fassen, das ist so unbegreiflich!

      Und Sie selbst haben überhaupt nichts bemerkt, fragte einer der Polizisten.

      Doch, es sei ganz eigenartig gewesen. Während er seinen Witz erzählte – wir befanden uns da schon fast in der Mitte des Gürtels – hätte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln am ganzen Körper verspürt. So etwas habe sie schon einmal erlebt, damals auf einem Ferienaufenthalt in der Nähe von Barcelona, als der Weg unter einer summenden und reichlich tief hängenden Hochspannungsleitung verlief. 380 000 Volt, ein seltsames Gefühl. So ähnlich sei es auch auf der Kreuzung gewesen.

      Dombrowsky hatte den Akt sorgfältig gelesen. Als er auf die Stelle mit dem Kribbeln stieß, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren. Typisch weiblich, dachte er. Was die Frauen sich so zusammenreimen! Mitten in Wien Hochspannung auf einer viel befahrenen Kreuzung. Absurd! Der Mann hatte einen Schaden, das war alles, und er, Dombrowsky, würde diesen Schaden aufgrund seiner langen Erfahrung als Gerichtsmediziner alsbald ermitteln und mit vorschriftsgemäßer Ausführlichkeit beschreiben.

      Zu diesem Zwecke wurde der ehemalige Kugelwerfer nach allen Regeln der ärztlichen Kunst in seine sämtlichen Teile zerlegt: das Herz, die Lungen, die Milz und die Leber, natürlich auch das Stammhirn und die Nebenhirne. Dieser Arbeit vermochte Dombrowsky