Marita Neutsch

Erik Neutsch: Der Wahrheit ein Stück näher


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von Irmtraud Gutschke mit Eva Strittmatter erschienen war. Ich bejahte, und er fragte, ob ich mir vorstellen könne, ein solches Gespräch mit Erik Neutsch zu führen. Ich war ja in meiner Zeit im Mitteldeutschen Verlag etliche Jahre sein Lektor gewesen. Nach der Wende hatten wir uns aus, wie ich heute denke, Missverständnissen entfremdet, es herrschte zwischen uns Funkstille. Ich bat mir ein paar Tage Bedenkzeit aus und fragte, ob denn Erik Neutsch einem solchen Gesprächspartner zustimmen würde. Ja, sagte Klaus Höpcke, das würde er. So kamen wir nach Jahren wieder zusammen." (In: "Spur des Lebens" , "Eine Vorgeschichte" von Klaus Walther, S.5) Mein Vater hatte sich von Klaus Höpcke, der übrigens von 1973 bis 1989 stellvertretender Kulturminister der DDR war, und beide kannten sich schon seit ihrer Studentenzeit in Leipzig, für dieses Gesprächsbuch überzeugen lassen.

      Durch dieses Buch wurden viele Gedanken und viele Erlebnisse, auch Familiäre, festgehalten. Es macht neugierig auf Neutsch Bücher. Damit ist "Spur des Lebens" ein wertvolles Zeitdokument. Ich nutze es für dieses Buch. Aber andererseits hat dieses "Biografiebuch", wie ich es nenne, das 2010 erschien, ihm fast zwei Jahre Zeit gekostet! Wie ich meine, wertvolle Zeit, die ihm für die Vollendung des Romanzyklus fehlte. Er verglich übrigens seine Arbeitsleistung an diesem Buch mit dem Umfang einer Dissertationsarbeit, auch wenn es "nur" über sich war. Aber diese Feststellung von ihm selbst sagt wohl genug aus.

      Kaum aber war das Buch "Spur des Lebens" beendet, nahm ihn eine andere, sicher auch sehr interessante Aufgabe, in Anspruch. Anlässlich seines 80. Geburtstages 2011, hatten er und der Vorstand seiner Stiftung die Idee, einen Erik-Neutsch-Literaturwettbewerb für junge Nachwuchsautoren auszuschreiben. Zu diesem Zeitpunkt ahnte mein Vater noch nicht, wie viel Arbeit damit auf ihn zukommen würde. Jedenfalls wurde er nun wieder vom Schreiben am 5. Buch abgehalten.

      Die Erzählungen der jungen Autoren haben ihn damals allerdings sehr nachdenklich gemacht. Teilweise war er regelrecht erschüttert, über welche schlimmen Erlebnisse sie in ihren Geschichten geschrieben haben, die sie meist erlebt hatten, und meinte zu mir: "Was mussten diese jungen Leute nicht schon alles ertragen!" Und wie es so seine Art war, schimpfte er sofort auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände in diesem Land. Er war glücklich, wie er immer betonte, eine andere Zeit kennengelernt zu haben.

      Am 30.November 2012 fand die feierliche Preisverleihung dieses literarischen Wettbewerbs im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin statt. Mein Vater war an jenem Abend sehr aufgeregt. Bestärkt wurde dies noch durch den Sachverhalt, dass die Veranstaltung etwa eine halbe Stunde später beginnen musste. In einer der Tageszeitungen in Berlin wurde die Veranstaltung mit einem anderen Ort angegeben. Nun hoffte man noch auf die angeblich "verirrten" Gäste. Aber fehlgeschlagen. Es blieb bei den wenigen Zuhörern, darunter wir, ein kleiner Teil der Familie.

      Mein Vater sprach als Stifter die Begrüßungsworte und begründete seine Vorstellungen für diesen ausgeschriebenen Preis, der vielleicht, so seine Hoffnung, in der Zukunft in regelmäßigen Abständen für junge literarische Schreiber vergeben werden sollte. Er erinnerte sich in seiner Rede an seine Anfangszeit des Schreibens, vor allen Dingen an die für ihn so mutmachenden Worte von Anna Seghers. Nun aber, da er die 80 bereits überschritten hatte, wollte er auch junge Leute unterstützen, vor allen Dingen solche, die die Welt kritisch betrachten. Ihnen wollte er Mut machen zum Weiterschreiben.

      Aber er nahm auch, wie konnte es anders bei ihm sein, diese Gelegenheit seines öffentlichen Auftretens natürlich beim "Schopfe" und kritisierte u.a. auch die Medien, die sich zwar links sahen, aber nach seiner Auffassung waren sie weit davon entfernt. Er ging auf seine Zeit als Kulturredakteur in der Zeitung "Freiheit" in Halle ein und zog dann einen großen Bogen bis hin zur Gegenwart.

      Danach sprachen noch andere, so auch Eberhard Panitz. Es folgten die Lesung der prämierten Texte, Musik und schließlich die Preisverleihung an drei junge Nachwuchsautoren. Meinem Vater sah ich an, dass er diesen, seinen Auftritt, sehr genoss.

      Was ich damals nicht wissen konnte, ich sah meinen Vater zum letzten Mal.

      In den Medien aber, auch bei den LINKEN, so stellte ich anschließend fest, spielte dieses Ereignis des Literaturwettbewerbs keine besondere Rolle. Erst zwei Jahre später wurden mit Unterstützung der Rosa - Luxemburg - Stiftung Textausschnitte von den Preisträgern als auch von einigen anderen jungen Nachwuchsautoren, die sich am Literaturwettbewerb 2012 beteiligt hatten, in dem Buch "Was bedeutet das alles überhaupt" veröffentlicht. Abgesehen von der wirklich lieblosen Gesamtaufmachung bis hin zur falschen Jahresangabe des Literaturwettbewerbs, musste ich registrieren, dass die Worte meines Vaters zur Verleihung seines gestifteten Preises für junge Literaten wieder keine Rolle spielten. Dafür stehen nun ein Vorwort von Klaus Höpcke als auch die Rede von Eberhard Panitz, die er am Tag der Preisverleihung gehalten hatte, in diesem Sammelwerk.

      Das 5. Buch wird beendet

      Nach der Preisverleihung schrieb mein Vater an seinem 5. Buch weiter. Ab jetzt standen wir hauptsächlich telefonisch intensiv im Kontakt. Selbst an meinem Geburtstag, meinen letzten mit ihm, verzichtete er auf einen längeren Brief. Er rief mich lieber an, was ja auch viel schöner war, seine Stimme zu hören und mit ihm direkt zu reden.

      Manchmal, wenn dann aber doch mal ein Brief von ihm kam, dann waren diese, wie früher, mit einem Zeitungsartikel über ihn und in einem entsprechenden Extrakommentar für mich versehen. Er konnte nicht anders, als mir seine Gedanken mitzuteilen. Das ist etwas, was ich auch heute so sehr vermisse!

      Jeden Tag kam er mit seinem Buch weiter. Stück für Stück. Die Seiten füllten sich. In einem größeren Beitrag der Leipziger Volkszeitung Anfang Januar 2013, den er mir zusendete, las ich u.a. über ihn: "Zum Buch fünf, das von der DDR- Kunstindustrie erzählt, fehlen noch etwa 130 von rund 500 geplanten Seiten. Vier bis fünf Stunden täglich kann er noch sitzen und tippen. Da entsteht etwa eine halbe Seite."

      Drei Zeilen weiter sagte er selbst: "Aber da ist noch das sechste Buch. Ich muss schreiben, solange es geht, jeden Tag. Und mich auf den Roman konzentrieren." (In: LVZ, 2.Januar 2013, S.3)

      Er hatte sich immer wieder dahingehend geäußert, dass “Der Friede im Osten" sein Hauptwerk ist. Ich hoffte so sehr, dass er sein lang ersehntes Ziel erreichen würde!

      Ganz deutlich kann ich mich noch an ganz viele Diskussionen aus früherer Zeit mit ihm erinnern, die vor allem an unserem Lieblingsplatz am Gudelacksee stattfanden. Dann nämlich, wenn ich Ferien hatte, fanden wir beide endlich auch mal so richtig Zeit füreinander. Vormittags saß er bereits ab 6 Uhr in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und arbeitete ununterbrochen viele Stunden. Er gönnte sich keine Pause. Er war, wenn er an einem Buch schrieb, sehr, sehr diszipliniert und fleißig. Das bewunderte ich immer an ihm.

      Nur nachmittags widmete er sich seiner Familie. Wir hatten im Sommer immer viel Spaß miteinander, ob beim Sport, im Wasser oder im Wald. Wir hörten uns zu, erzählten über "Gott und die Welt". Es war eine sehr schöne Zeit, die ich einerseits sehr intensiv erlebte, und für die ich andererseits sehr dankbar bin. Auch mein Vater stellte noch mit seinen 80 Jahren rückblickend fest: "Am Gudelacksee, Marita, haben wir doch eigentlich immer eine sehr schöne Zeit miteinander gehabt! Du, Mami, Corinna und ich. Wir waren alle vier dort immer sehr glücklich!"

      In unseren gemeinsamen Gesprächen kamen wir jedenfalls schon damals immer wieder auf sein großes Vorhaben zu sprechen, worüber bereits, im April 1964 (!) in einem Artikel der "Freiheit", als über sein Roman "Spur der Steine" berichtet wurde, zu lesen war: "Seine künstlerischen Pläne: ein größeres Romanwerk autobiographischen Charakters, die Zeit von 1945 bis 1970 umfassend..." (In: "Freiheit", 14.04.1964, S.6)

      Damals war er 33 Jahre alt und ich war mit meinen gerade mal 10 Jahren sehr, sehr stolz auf ihn.

      Fast 50 Jahre später sagte er zu seinem großen Epochenroman: "Es muss doch jemanden geben, der an das Experiment Sozialismus erinnert und da nicht nur die Konflikte von Intellektuellen beschreibt. Mag sein, dass das jetzt keiner lesen will, aber irgendwann fragt man, was damals eigentlich passiert ist. Dieses Schicksal widerfährt in Umbruchzeiten nicht erst heutzutage." (In: LVZ, 02.01.2013, S.3)

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