Jay Baldwyn

Mechanical


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fiel es ihm, Kleinwüchsige und Kolossalmenschen zu finden, die am häufigsten in Schaubuden zu sehen waren. Liliputaner mit ihren sehr hellen, piepsigen Stimmen, kindlichen Körpern und Gesichtszügen, aber normalen Proportionen, wurden häufig als “Prinzessinnen” bzw. “Prinzen” tituliert. So stellte sich auch bei James March ein „Prinz Piccolo“ vor, der als Erwachsener nur siebzig Zentimeter maß. James konnte ihn sich gut als Zeremonienmeister vorstellen.

      Ihm zur Seite wollte er eine achtundzwanzig Zoll große bzw. kleine Frau und einen nur neunundzwanzig Zoll großen Mann stellen, der nur fünfundvierzig Pfund schwer war. Die beiden würden durchaus als Kinder des Prinzen durchgehen können.

      Was Tallulah etwas abfällig mit „Freaks“ bezeichnete, bedeutete im Englischen ursprünglich „Laune“. Im 19. Jahrhundert änderte sich in den USA die Bedeutung zu „Laune der Natur - freak of nature“. In sogenannten „Freak Shows“ wurden auf den Jahrmärkten Zwerge bzw. Kleinwüchsige oder andere von der Norm abweichende Menschen wie die „Dame ohne Unterleib“, „die Frau mit Bart“, „der stärkste Mann der Welt“ oder „der Zyklopenjunge“ präsentiert.

      Der sogenannte Elefantenmensch sorgte zu jener Zeit beim Publikum durch die Deformationen seines Körpers und des Gesichtes für ambivalente Reaktionen. Während sich manche wonnig gruselten, ekelten oder schaudernd abwandten, fühlten andere Mitleid und tiefe Erschütterung.

      Auch eine riesenhafte Dame mit immerhin 2,20 Metern Körpergröße zog James in Betracht, denn es war sehr beliebt, diese sogenannten Riesenmenschen mit Kleinwüchsigen gemeinsam auftreten zu lassen, um den enormen Unterschied deutlich zu machen.

      Die besondere Wirkung, die “Siamesische Zwillinge” auf das Publikum erzielten, war James nicht genug. Er wollte Zwillingsmissbildungen zeigen, bei denen sich mitunter der nicht voll ausgebildete Zwilling am Körper des anderen befand. Auch Menschen mit zusätzlichen Extremitäten galten in jener Zeit als Attraktion.

      Häufig zu sehen waren weiterhin an Fabelwesen erinnernde Menschen, auch “Tiermenschen” genannt, die man als das fehlende Glied zwischen Mensch und Tier ausgab. Am ganzen Körper Behaarte bezeichnete man als “Affen-Wolfs- und Löwenmenschen”, solche mit Knochenmissbildungen hießen „Hummer-, oder Krötenmenschen”, jene mit Pigmentstörungen „Leoparden-Menschen“, andere mit abnormen Hautwülsten „Elefanten- oder Kamelmenschen”.

      So einen “Hautmenschen”, der seine Haut wie Gummi vom Hals bis zum Haaransatz ziehen konnte, um damit das Gesicht zu bedecken, engagierte James March.

      Damals hatte niemand die geringste Vorahnung, dass im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends noch immer Hautmenschen öffentlich auftreten würden. Freilich nicht auf Jahrmärkten, sondern im deutschen Privatfernsehen, also direkt in der guten Stube, innerhalb einer Show, in der das größte Talent gesucht wurde.

      Auch Tätowierungen würden dann in jener unvorstellbar fernen Zeit weltweit kein Thema mehr sein, weil sich immer mehr Stars und Normalbürger Tattoos zulegten. Damals bezeichneten sich am ganzen Körper tätowierte Frauen noch als „lebendiges Bilderbuch“ oder auch als „schönste Gemäldeausstellung der Welt“. Da sie bei ihren Auftritten oft die Grenzen der Schicklichkeit überschritten, was den Budenbetreibern viel Ärger einbrachte, verzichtete March allerdings auf diese Attraktion.

      Neben abnorm Aussehenden, wollte March auch solche, die durch abnorme Eigenschaften bzw. Fähigkeiten glänzten. Ein „Allesschlucker“, der sogar lebende Mäuse vertilgte, stellte sich auch bei March vor. Selbst einer der „Kunstfurzer“, der Kerzen ausblasen und einfache Melodien erklingen lassen konnte, kam in die engere Wahl. Allerdings erst, als er auf Tallulahs Bedenken hin versichert hatte, dies auf geruchlose Art tun zu können. (Selbst davon sollte es später in der Fernsehshow immer noch einen geben. Gewisse Kuriositäten scheinen zeitlos zu sein.)

      Gegenüber all den Abnormitäten wurden der schönen Tallulah drei ihrer „Freundinnen“, bei denen es sich ausnahmslos um hemmungsarme, aber hübsch anzuschauende Damen aus dem Vergnügungsgewerbe handelte, zur Seite gestellt. Um Tallulahs goldblonde Haare noch besser zur Geltung kommen zu lassen, gab es zwei Brünette und eine Rote.

      Tallulah wurde als Höhepunkt der jeweiligen Vorstellung angekündigt. Sie hieß fortan Leilah und präsentierte den „Tanz der sieben Schleier“, bei dem auch der letzte gefallene sie durch ein fleischfarbenes Trikot nicht völlig nackt aussehen ließ, um keinen Ärger mit den Behörden zu bekommen. Als weitere Attraktion glänzte sie als „Dame ohne Unterleib“. Eine durch Spiegel erzeugte Illusion, die vermittelte, dass ihr kostbarer Leib nur bis zur Taille reichte und nie ihre Wirkung verfehlte, weil niemand sich den Trick erklären konnte. Denn anschließend erschien sie schließlich wieder „vollkommen“. Im Gegensatz zu einer Kollegin, die einst im Luna Park aufgetreten war. Spiegel hatte diese nicht nötig gehabt, denn es war klar ersichtlich, dass ihr Körper wirklich an der Taille aufhörte. Sie hatte sich ohne Hilfe allein anziehen und frisieren, eine Nadel einfädeln oder eine Zigarette anzünden gekonnt.

      Eine Attraktion ganz anderer Art sollte der Bauchredner Rupert Murdock in James’ Show bieten. Er trat mit seiner Puppe Charlie auf, die sich vor allem darin von einfachen Bauchrednerpuppen, denen nur der Unterkiefer auf- und zuklappte und die allenfalls die Augen verdrehen konnten, unterschied, indem sie mechanisch war und sogar alleine gehen konnte. Ein Umstand, der bald für Aufregung und allgemeine Verwirrung sorgen sollte.

      Einen Zauberer oder Magier einzustellen, darauf hatte James March verzichtet. Die wirklich außergewöhnlichen waren zu kostspielig und March meist nicht kurios genug. Vielleicht hatte er aber auch so etwas wie eine Vorahnung, dass ein Vertreter dieser Zunft ihm einmal sehr viel Verdruss und so manchen Ärger einbringen würde.

      Rosalind Van Dyke saß in ihrem einfachen Appartement in der Livingston Street und hörte eine ihrer wenigen Schelllackplatten auf dem alten Trichtergrammophon. Sie haderte wieder einmal mit sich und der Welt, weil sie scheinbar alles falsch gemacht hatte. Sie war damals als junge Mutter von ihrem Bräutigam sitzen gelassen worden. Zum Glück hatte sie kurz darauf Jan Van Dyke kennen gelernt, und war ihm nach ihrer Heirat nach Hempstead, New York, gefolgt. Der hatte allerdings nichts Besseres zu tun gehabt, als sie nach fünfzehn Jahren wegen einer Jüngeren sitzen zu lassen. Da er ihr kaum etwas hinterlassen hatte und seitdem unauffindbar war, musste sie daraufhin nach Downtown Brooklyn umsiedeln. Dort war sie nicht davor zurückgeschreckt, im Rotlichtmilieu zu arbeiten, um sich und ihre Tochter durchzubringen, bis sie auch dafür nicht mehr jung und attraktiv genug gewesen war.

      Und hier saß sie nun, sich mit Gelegenheitsjobs wie Kellnern und Putzen durchschlagend. Kein Wunder, dass ihre Tochter alsbald das Weite gesucht hatte, um alleine ihr Glück zu machen. Seit einem Jahr hatte Rosalind nichts mehr von ihr gehört. Und sie durchlief jedes Mal eine heiße Welle, wenn sie an ihre Aufsichts- und Fürsorgepflicht dachte.

      An diesem Abend klopfte es an der Tür, und ein Nachbar teilte ihr mit, dass sie am Telefon verlangt werde. Rosalind zog sich schnell ihren speckigen Morgenmantel über und fragte sich, wer da etwas von ihr wollte.

      „Ach, du bist es, Ethel“, rief sie in die Muschel des Apparats, als sie die Stimme ihrer Freundin erkannte. „Was gibt’s denn so Dringendes, das nicht bis morgen Zeit hat?“

      Sie lauschte und wurde zunehmend blasser im Gesicht.

      „Das gibt’s doch nicht … Wo sagst du, hast du sie gesehen? Und du bist ganz sicher, dass sie es war?“

      „Also hör mal, ich werde doch noch deine Tochter erkennen“, tönte es vom anderen Ende der Leitung. „Obwohl ich zweimal hinsehen musste. Sie war praktisch nackt. Und das in dieser Umgebung. Nein, dass sie soweit sinken würde …“

      „Ethel, hör mal, versprich mir, niemandem davon etwas zu erzählen. Wer hat sie denn sonst noch außer dir gesehen?“

      „Stewart natürlich, aber der quatscht nicht, das weißt du ja. Und was willst du jetzt tun?“

      „Na, was wohl? Hingehen und sie da rausholen. Die kann ihr Blaues Wunder erleben …Also gut, Ethel, danke fürs Bescheid sagen. Ich werde morgen Mr. Smith absagen, hoffentlich hat das keine Konsequenzen, ihm kann ich in letzter Zeit sowieso nichts mehr recht