Jay Baldwyn

Mechanical


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Murdock sorgte für ambivalente Stimmung in der Showtruppe. Auf der Bühne hatte er großen Erfolg mit Charlie, der durch ein mechanisches Getriebe funktionierte. Mittels eines Aufziehschlüssels konnte man wie bei einem Uhrwerk eine Spiralfeder aufziehen. Ebenso funktionierten auch andere Spielzeuge zum Aufziehen wie Lokomotiven, Autos und Tiere, bei denen später Elektromotoren Verwendung fanden. Dieser Antrieb eignete sich allerdings nicht für Charlie, der kein Motorengeräusch, sondern eine menschliche Stimme hören lassen sollte.

      Bauchredner, Murdock, gelegentlich auch als Ventriloquist bezeichnet, ein Begriff, der aus den lateinischen Wörtern für Bauch und Reden zusammengesetzt ist, manipulierte seine Stimme in einer Art, dass sie von einer anderen Person, in dem Falle der Puppe, oder aus einer anderen Richtung zu kommen schien.

      Es galt als eine Kunst, Worte ohne Bewegung des Mundes hervorzubringen, denn die Stimme beim Bauchreden kam keinesfalls aus dem Bauch. Man unterschied vielmehr zwischen „Kieferlauten“ und „Lippenlauten“. Bei Kieferlauten wie a, e, i, o, u, l, s musste lediglich der Kiefer bewegungslos gehalten werden, ohne die Lippen zu bewegen. Die schwierigeren Lippenlaute wie b, p, f, m, w kamen durch Zunge und Gaumen zustande und erforderten sehr viel Übung.

      Charlie rief aus mehreren Gründen Irritationen hervor. Niemand hatte jemals beobachtet, wie er mittels eines Schlüssels aufgezogen wurde. Auch sein Herumlaufen im Haus unter der Verursachung von etwas unheimlichen Geräuschen machte vielen Angst. Einer der Zwerge wollte ein Gespräch zwischen Murdock und Charlie mit angehört haben. Ein Umstand, der viele an Murdocks Verstand zweifeln ließ.

      „Du darfst mir heute Abend keine Schande machen, versprichst du mir das?“, hatte er Rupert Murdock sagen gehört.

      „Ja, Daddy“, war die Antwort in der etwas höheren Tonlage, mit der Charlie „sprach“.

      „Viele denken nämlich, dass du der Andere bist, aber wir wollen ihnen doch beweisen, dass es nicht so ist. Deshalb musst du dich heute mehr wie eine Puppe bewegen, und nicht so natürlich wie sonst. Sei etwas abgehackter in deinen Gesten, auch wenn du läufst. Du weißt ja, wie es bei dem Anderen aussieht.“

      „Ja, Daddy, mach ich. Du kannst dich auf mich verlassen. Charlie will doch, dass Daddy Erfolg hat und glücklich ist. Aber diesem Master March sollte man mal eine Lehre erteilen. Er ist kein guter Mensch. Und was ich von dem Anderen halten soll, weiß ich auch nicht. Ich glaube, der tut nur so als sei er gut.“

      Charlie glich nämlich in fataler Weise „Prinz Piccolo“, sodass beim Publikum der Verdacht aufkam, Murdock wiege statt der Puppe den Zwerg auf seinen Knien. Etwas, was der Prinz freilich nie zugelassen hätte. Er hasste im Gegenteil Murdock und seine Puppe, weil er sich durch das Aussehen und die piepsende Stimme nachgeäfft fühlte. Deshalb boykottierte er auch mitunter den besonderen Knalleffekt, neben der Puppe auf der Bühne zu erscheinen, um den Gerüchten einer Verwechslung entgegenzutreten. Damit schadete er aber weniger Murdock als James March, der ihn anschließend jedes Mal scharf zur Ordnung rief. Rupert Murdock hingegen verscherzte es sich bei James, indem er auffallend oft in der Nähe von Tallulah gesehen wurde. Besonders in der Schwangerschaft, als sorge er sich um das Wohl der Mutter und des Embryos.

      Die Wehen zogen sich über etliche Stunden hin, und Tallulah musste unerträgliche Schmerzen ertragen. In diesen Momenten begann sie, das Ungeborene zu hassen, und auch James als eigentlichen Verursacher ihres Zustands. Als der kleine Joe endlich geboren war, zeigte Tallulah von Anfang an kein Interesse an dem Kind. Fortan oblag es Rosalind, sich um den Kleinen zu kümmern; was sie auch tat, ohne ihrerseits die rechte Liebe für den Säugling aufbringen zu können.

      Kurz nach der Geburt kam es zu einem erneuten Eklat. James waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in Wahrheit Rupert der Vater des kleinen Joe sei. Wutentbrannt stellte er Murdock in Anwesenheit von Tallulah zur Rede.

      „Was ist dran an dem Gerede? Hast du dich heimlich an meine Frau herangemacht, du Schwein?“

      „Und wenn? Du weißt doch ihre Schönheit schon längst nicht mehr zu schätzen.“

      Tallulah ging auf Rupert zu und versetzte ihm ehe er sich versah zwei deftige Ohrfeigen.

      „Die erste ist dafür, dass du diese Gerüchte in Umlauf gesetzt hast. Und die zweite dafür, dass du mich bei meinem Mann in ein unmögliches Licht gesetzt hast. Am besten, du verschwindest von hier.“

      Tallulahs beherzter Auftritt zeigte bei James seine Wirkung.

      „Du hast gehört, was meine Frau gesagt hat. Pack deine Sachen, und lass dich hier nie wieder sehen.“

      „Also gut, ich gehe. Ich kann überall auf der Welt ein Engagement finden. Wenn ich will sogar hier auf dem Gelände. Dann könnte ich wenigstens ein wachsames Auge auf meinen Sohn haben.“

      Tallulah wollte erneut auf ihn einschlagen, aber James kam ihr zuvor. Er streckte mit einem Kinnhaken den Gegner zu Boden. Als Rupert mit blutender Lippe auf dem Fußboden lag, stand James breitbeinig über ihm.

      „Du hörst mir jetzt gut zu. Wenn du nicht innerhalb der nächsten Stunde von hier verschwunden bist, und wenn ich hier sage, meine ich ganz Coney Island, schlage ich dich eigenhändig tot. Und deine Puppe versenke ich im Atlantik, damit nichts von dir übrig bleibt. Hast du das kapiert?“

      Murdock nickte nur, rappelte sich auf und verließ den Raum. Tallulah spuckte hinter ihm auf den Fußboden. Dabei wurde sie von Charlie beobachtet, der sich wieder einmal verselbständigt hatte.

      James war trotz aller Gerüchte und Murdocks zweifelhaftem Geständnis ein Mustervater. Er hing mit abgöttischer Liebe an dem Kleinen; zumindest anfangs. Das sollte sich ändern, als Joe nicht so gedieh, wie zu erwarten gewesen war.

      James hatte sich in den Kopf gesetzt, aus ihm das stärkste Kind der Welt zu machen. Der scheinbar normal entwickelte Junge, der nur etwas schmächtig war, musste unter James Anleitung vom zweiten Lebensjahr an Krafttraining machen. Was schnell die erwünschten Erfolge, aber auch immer wieder eigenartige Unfälle zur Folge hatte. Mehrmals musste der Kleine das Training absetzen, weil er sich einen Arm oder ein Bein brach. James war der Meinung, das mit anschließendem noch härterem Training ausgleichen zu können, bis selbst Rosalind Zweifel befielen.

      „Ich glaube, du hast dir da etwas in den Kopf gesetzt, dass nicht zu bewerkstelligen ist“, sagte sie zu ihrem Schwiegersohn.

      „Das lass nur meine Sorge sein. Ich werde einen richtigen Mann aus ihm machen, und nicht eins von den verweichlichten Muttersöhnchen. Obwohl, die Gefahr besteht ohnehin nicht, da Tallulah ihn wie einen Fremdkörper behandelt. Das spürt der Kleine und leidet darunter.“

      „Zum Thema Mutterliebe: Du darfst das Tallulah nicht übel nehmen. Sie ist ja selbst noch ein halbes Kind und einfach überfordert.“

      „Und das von dir?“

      „Ja, ich bin realistisch genug, das zu erkennen. Du kannst mir glauben, dass ich mir auch etwas Besseres denken könnte, als in meinem Alter noch mal Mutterpflichten zu übernehmen, aber was bleibt mir anderes übrig?“

      „Ich finde es großartig, wie du das machst.“

      „Spar dir deinen Schmus. Ich weiß, dass du lieber eine andere Kassiererin beschäftigst, als eine Nanny, weil dich das auf Dauer billiger kommt. Und jetzt zu Joe: Hast du mal daran gedacht, dass er womöglich vom Knochenbau nicht geeignet ist, deine hochtrabenden Pläne zu erfüllen?“

      „Ach Quatsch. Knochenbau ist die eine Sache, Muskeln, die die Knochen stützen, die andere. Du wirst sehen, in ein paar Jahren kann er uns auf einer Hand tragen.“

      „Und wenn nicht? Wirst du ihn dann weniger lieben?“

      „Bullshit, du wirst sehen, dass ich Recht behalte.“

      Das war ein weiterer Irrtum von James, und Rosalind sollte mit ihren Bedenken Recht behalten. Aber es sollte noch weitaus schlimmer kommen.

      Tallulah schien das alles nicht zu interessieren. Nach einer mehr als kurzen Mutterpause hatte sie alsbald wieder zu arbeiten angefangen und sonnte sich wie eh und je in der Gunst des vor allen Dingen männlichen