Dietrich Novak

Zehn kleine Mörderlein


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eine angebrochene von der Tafel nehmen.«

      »Das ist ein guter Vorschlag. So machen wir es.«

      Hinnerk nahm zwei neue Gläser, griff sich eine halbvolle Karaffe und erntete dafür einen bösen Blick von einem der Gäste am Tisch.

      »Hat Ihnen der andere Wein nicht geschmeckt? Hat er Kork?«, fragte der kahlköpfige ältere Herr mit den kalten Augen, der zu seinem dunklen Anzug eine rote Fliege trug.

      »Wir haben noch gar nicht probiert. Monsieur Oiseau warnte uns davor«, sagte Hinnerk schuldbewusst.

      »Ich kann mir nicht vorstellen, dass am ersten Abend schon Leute gemeuchelt werden. Bitte bedienen Sie sich! Ich wollte Ihnen den Wein nicht vorenthalten. Er gehört ja nicht mir. Ich bin übrigens Laurenz Markgraf. Richter in Pension aus Wien.«

      »Hauptkommissar Hinnerk Lange aus Berlin. Wie schön, dass die k. u. k. Monarchie auch vertreten ist.«

      »Oh, das sind wir schon seit 1918, nach dem für Österreich-Ungarn verlorenen Ersten Weltkrieg, nicht mehr. Leider, möchte man manchmal sagen.«

      »Ich weiß, entschuldigen Sie den Scherz.«

      »Die heutige Republik, die sogar das Deutsche Reich überstand, erklärte nach dem Ende der alliierten Besatzung 1955 seine dauernde Neutralität und trat den Vereinten Nationen bei. Ich bin aber bestimmt nicht der Einzige, der sich mitunter den Kaiser zurückwünscht. Doch das ist ein anderes Thema. Die aufregende Dame mit dem weißblonden Engelshaar gehört zu Ihnen?«

      »Ja, das ist meine Frau, Hauptkommissarin Voss.«

      »Glückwunsch. Es tritt nur eine Dame mit ihr in Konkurrenz. Die Kriminalkommissarin Marita Berg aus Öland, die zwar auch blond ist, aber weniger engelsgleich.«

      Hinnerk musste lachen.

      »Täuschen Sie sich nicht. In meiner Frau steckt manchmal ein kleiner Teufel.«

      »In welcher aufregenden Frau nicht? Aber lassen Sie sich nicht abhalten. Sie wartet schon auf den Wein.«

      Hinnerk ging mit den beiden Gläsern zu Valerie hinüber und wurde schon ungeduldig erwartet.

      »Na endlich, ich dachte schon, du hörst überhaupt nicht mehr auf zu quatschen«, sagte Valerie.

      »Ich musste mich doch wenigstens vorstellen, wenn ich ihm schon die Karaffe vor der Nase wegschnappe.«

      »Mein Gott, es ist ja nicht die einzige auf dem Tisch. Wer ist er denn?«

      »Ein pensionierter Richter aus Wien. Über die Blondine, die da etwas verloren herumsteht, habe ich erfahren, dass es sich um eine Kripokommissarin aus Öland handelt.«

      »Die passt doch hervorragend in dein Beuteschema mit ihren flachsblonden, verrutschten Locken. Ich kann mich an diese Frisuren nicht gewöhnen. Die Frauen sehen immer aus, als kämen sie gerade aus dem Bett. Willst du sie eventuell trösten?«

      »Spinnst du? So geschmacklos, vor deinen Augen etwas mit einer anderen anzufangen …«

      »Das war ein Joke. Haben Sie Ihren Humor an der Garderobe abgegeben, Herr Lange?«

      »Bei dir weiß man nie …«

      »Hast du die Alte gesehen? Die muss doch schon seit Ewigkeiten im Ruhestand sein. An irgendjemand erinnert sie mich. Und der schnöselige Typ, der der Jüngste von uns allen zu sein scheint, kommt auch aus Deutschland. Der melancholisch aus der Wäsche guckende Schwarzhaarige dürfte Italiener sein und der Blonde mit dem markanten Gesicht eher Skandinavier. Aber dass sich auch ein Pfaffe unter den Gästen befindet, mutet etwas seltsam an.«

      »Warum? Offensichtlich gibt es noch mehr unter ihnen, die sich detektivisch betätigen. Wahrscheinlich braucht er das Geld für die Renovierung seiner Kirche.«

      »Wie ich sehe, bekommt Ihnen der Wein«, machte sich Hector Oiseau erneut bemerkbar.

      »Hört sich fast an, als würden Sie es bedauern«, sagte Valerie.

      »Aber ich bitte Sie, Madame! Ich will das Preisgeld auf legale Weise und nicht durch Mord verdienen.«

      »Wie beruhigend. Was halten Sie von unserem Gastgeber?«

      »Ein unsympathischer Bursche, wie so viele Millionäre. Und sein Auftritt ist ein uralter Schaustellertrick, eine Weiterentwicklung des sogenannten Pepper's ghost, einer Methode, die bereits im 19. Jahrhundert von dem britischen Erfinder John Pepper erdacht wurde, um dreidimensionale Illusionen zu erzeugen. In der modernen Variante wirft ein Projektor an der Decke ein herkömmliches Video auf einen spiegelnden Boden. Dieser wiederum reflektiert das Geschehen auf eine transparente Folie oder Glasplatte, die darüber in einem Winkel von etwa 45 Grad angebracht ist. Stimmen Winkel und Abstände, lässt sich so eine erstaunlich plastische und echt wirkende Darstellung erzielen, wie wir uns alle überzeugen konnten. Das eitle Gehabe sagt viel über seine Person aus. Ich weiß nicht so recht, was ich von alldem halten soll.«

      »Da geht es Ihnen wie uns«, meinte Hinnerk.

      »Wollen wir jetzt allen brav das Pfötchen geben oder abwarten, bis sie es tun? Ich würde mich lieber aufs Zimmer zurückziehen. Die Vorstellungsrunde können wir auch morgen beim Frühstück erledigen.«

      »Ganz deiner Meinung. Entschuldigen Sie uns, Monsieur Oiseau?«

      »Aber bien sûr, eine angenehme Nachtruhe wünsche ich.«

      »Merci, ebenfalls. Hoffentlich ist es nicht die letzte«, flachste Valerie. Aber so recht wohl war ihr dabei nicht.

      Das Zimmer stellte sich als recht komfortabel und stilvoll mit seinen alten Möbeln und dem Himmelbett heraus. Valerie öffnete probeweise den alten Schrank. Falls ihr ein muffiger Geruch entgegenschlagen sollte, würde sie ihre Sachen lieber im Koffer lassen, beschloss sie. Doch ihre Sorge war unbegründet. Es roch nur leicht nach Lavendel. Das galt auch für die Matratze und das Bettzeug, die zusätzlich tadellos rein waren.

      Wenig später krochen Valerie und Hinnerk unter die gemeinsame Decke, stopften sich Kissen in den Rücken und streckten die Beine aus.

      »Was meinst du? Hätten wir lieber absagen sollen?«, fragte sie.

      »Nö, die sehen doch alle ganz harmlos aus. Vielleicht ist dieser Mr. Finn der einzig paranoide unter ihnen«, meinte Hinnerk.

      »Aber wenn es stimmt, was er sagt, und er wirklich tot ist, muss einer ein Mörder sein. Wir sollten sie alle genau unter die Lupe nehmen.«

      »Dasselbe haben die anderen auch vor. Nur einer wiegt sich in fälschlicher Sicherheit. Doch es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht einer von uns ihm draufkommt.«

      »Den Herrn der Finsternis lassen wir mal lieber aus dem Spiel. Mir reicht die Erfahrung mit dieser Sekte in Köpenick.*«

      »Es war ja auch nur bildlich gemeint. Dass der Alte das Personal ausgeklammert hat, schmeckt mir gar nicht. Einer von ihnen hätte doch am ehesten Gelegenheit gehabt, ihn umzubringen.«

      »Diese Elsie scheint mir der Typ schüchternes Reh zu sein. Sie hat kaum gewagt, dich anzusehen, als sie uns zum Zimmer geführt hat. Aber stille Wasser gründen bekanntlich tief. Und dieser Mrs. Denver traue ich erst recht nicht über den Weg. Sie ist so eine Mischung aus der „seltsamen Gräfin“ und dieser

      Hausdame aus „Rebecca“. Beide hatten einen Sprung in der Schüssel. Über den Koch, Mr. Porter kann ich mir noch kein Urteil erlauben, da er bisher nicht in Erscheinung getreten ist.«

      »Wie ich sehe, bist du schon so richtig in deinem Element. Was mich anbelangt, gönne ich mir jetzt eine Mütze voll Schlaf. Die nächsten Tage dürften anstrengend werden.«

      *siehe Teil 9 „Böse Mächte“

      »Was glaubst du, was ich tue? Polka tanzen?«

      Als Valerie und Hinnerk am nächsten Morgen herunterkamen, war im Rittersaal ein Frühstücksbuffet aufgebaut, das keine Wünsche übrig ließ. Deutsche, Engländer, Franzosen, Italiener und Skandinavier konnten voll auf ihre Kosten kommen.