Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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Goldbarren viel zu schmal. Das kostbare Edelmetall befand sich nicht darin und auch kein Schmuck. Das hätte den Krug nur noch schwerer gemacht, als er eigentlich war. Wahrscheinlich war es wirklich nur Sand. Doch würde das den Krug nicht auch viel schwerer machen? Nein, im Inneren musste sich etwas anderes befinden.

      Er sah sich die Öffnung des Kruges an, die mit einer Wachsschicht verschlossen war. Die Schicht war dünn, sah zerbrechlich aus, doch wenn er auf das Wachs drückte, um es zu zerbrechen, hielt es stand. Bei genauerer Betrachtung musste sich unter dem sichtbaren Wachs noch eine andere Schicht befinden, die dafür sorgte, dass das Wachs jeglichem Druck standhielt.

      Um an den Inhalt zu gelangen, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die unbekannte Schicht zu zerstören, oder, wenn ihm nichts anderes einfiel, den Tonkrug in tausend Scherben zu schmeißen. Doch es tat ihm um das Motiv leid, dass er dafür zerstören müsste. Nicht, dass es ihm persönlich etwas bedeuten würde, aber vielleicht gefiel es jemandem. Daraus ließe sich garantiert Kapital schlagen.

      Geld - immer dachte er nur an das verdammte Geld. Immer wollte man das haben, was einem fehlte, wo man der Meinung war, dass man nicht genug davon hätte. Und wo konnte man das meiste Geld verdienen? Internetversteigerungen brachten nicht viel ein, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Doch irgendwo im weltumspannten Netz der Computernutzer gab es ein paar Foren, wo solche Dinge, die er gefunden hatte, für teures Geld verkauft wurden. Solch ein Forum musste er nur finden. Oder sollte er es doch einem Museum anbieten? Sein schlechtes Gewissen plagte ihn wieder. In einer musealen Sammlung würden sich die Gegenstände gut machen. Wie allerdings sollte er erklären, wie er in den Besitz der Kette und des Kruges gekommen war? Für einen Dieb würde man ihn halten, ihn bestrafen und verurteilen. Ins Gefängnis würde er wandern, weil er einen Diebstahl begangen hatte. Dabei hatte er seinen Fund nur nicht gemeldet, sondern mit nach Hause genommen. Das war auch strafbar, aber noch lange kein Diebstahl. Er war kein Dieb, sondern wollte auch einmal ein Stück vom Glück abhaben. Einem Museum würde er seinen Fund nicht übergeben. Er wollte sein Leben in Freiheit verbringen.

      4

       Hamburg-Hafen, 1912

      Das Schiff hatte im Hafen der Segelschiffe angelegt und war mit gekonnten Griffen vertäut worden. Gleich darauf waren Masut und seine Begleiter mit harschen Worten aufgefordert worden, sich bereit zu machen und das Schiff zu verlassen.

      Johann stand neben Masut, sein Gesicht, seine Hände und seine Beine waren mit nassem Kohlenstaub eingerieben worden. Seine blonden Haare waren unter einem Tuch verborgen, sie hatten sich nicht färben lassen können. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer von ihnen. Wie ein Ägypter. Dennoch hielt sich Johann nahe bei Masut auf, der ihn in die Mitte der Gruppe schob, damit er unauffällig in der Masse verschwand. Zuvor hatte er ihm eingebläut, niemanden direkt anzusehen, damit seine blauen Augen nicht auffielen.

      Die Luke wurde geöffnet und grelles Licht drang in den Laderaum. Die Ägypter schlossen die Augen und öffneten sie nur langsam.

      "Raus mit euch!", forderte eine Stimme die Gruppe auf.

      Einen Fuß vor den anderen setzend stiegen die Ägypter die Stufen hinauf bis sie sich auf dem Deck des Segelschiffes befanden.

      Masut hatte die Person wiedererkannt, die ihn und die anderen angeworben hatte. Er schien ein freundlicher Mann zu sein. Als er in ihr Dorf gekommen war, hatte er niemanden gezwungen mitzukommen. Ausführlich hatte er geschildert, was einen in der fernen Welt erwarten würde.

      Nie wurde jemand gedrängt, dass er bei diesem Unternehmen, das einem Abenteuer glich, mitmachen sollte. Doch es waren auch Ablehnungen ausgesprochen worden, vor allem gegen die, die nur das Geld im Kopf gehabt hatten. Natürlich hatte es verlockend geklungen, auf dieser Reise auch etwas zu verdienen. Doch war es das Geld wirklich wert, vor allem bei den Risiken, die diese Reise barg? Für Masut hatte es keine Sekunde des Zögerns gegeben. Zuhause konnte er auch sterben. Der Fluch, der auf seiner Familie lastete, würde ihn eines Tages genauso treffen, wie seinen Bruder, seinen Vater und seine Vorfahren. Wenn er in der Fremde starb, sollte es so sein, aber er hätte die Gegenstände des Unglücks außer Landes, fern von seiner Familie, gebracht.

      "Wir werden sie nach Stellingen bringen. Der Arzt ist verhindert, um sie sich noch zuvor anzusehen", sagte der Mann, der soeben das Schiff betreten hatte und auf den Anwerber zugegangen war.

      "Gut, hoffen wir, dass alle gesund sind und keiner eine anstecken de Krankheit hat." Anzeichen dafür hatte es auf der Reise keine gegeben, allerdings musste das noch lange nichts heißen. Nach der ärztlichen Untersuchung würden sie mehr wissen. Aber er hatte ein gutes Gefühl. Bereits vor der Abreise waren alle Teilnehmer untersucht und gegen Pocken geimpft worden.

      Der eben Eingetroffene machte ein Zeichen und die Gruppe Ägypter wurde vom Schiff auf mehrere Lastenwagen getrieben.

      "Wie viele sind es?"

      Der Anwerber holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jacke. Es war dicht beschrieben, doch am Ende waren einige Ziffern unterstrichen.

      "59 Männer, 13 Frauen und 18 Kinder. Nicht zu vergessen die acht Derwische."

      "Daraus lässt sich etwas machen. Bei den zwei Eskimos sind die Besucher doch recht enttäuscht gewesen. Die Anzeigen in den Zeitungen hatten mehr versprochen als eigentlich geboten wurde."

      "Ja, so was kann vorkommen. Nicht jeder will sich ins Ungewisse aufmachen. Da kann man so sehr zureden wie man möchte, doch man kann niemanden zwingen mitzukommen."

      "Würde auch nur Ärger bringen. Aber mal sehen, wie sie sich machen werden. Falls sie sich für die ihnen aufgetragene Arbeit zu schade sein sollten, werden sie schon sehen, dass hier kein Müßiggang herrscht."

      "So ein paar Backpfeifen und Boxhiebe haben noch nie jemandem geschadet. Gerade solchen muss man klarmachen, dass sie zu arbeiten haben. Sonst stecken sie die anderen mit ihrer Faulheit noch an."

      "Ganz recht, so sieht es auch der alte Hagenbeck."

      Die beiden Männer verabschiedeten sich vom Kapitän und verließen das Schiff. Der Kapitän sah ihnen kurz hinterher. Als die Gruppe Ägypter sich in Zweierreihen formiert hatte und der Zug sich schließlich in Bewegung setzte, wendete er sich ab.

      "Habt ihr Johann gesehen?", wollte er von zwei Matrosen wissen.

      "Den Zwerg? Nee, seit gestern nich'", sagte einer der beiden im breitesten hamburgisch.

      "Dann sucht ihn. Ich habe mit ihm zu reden."

      "Was hat er denn ausgefressen?", wollte der andere wissen.

      "Nichts. Holt ihn mir einfach her."

      Mit ungutem Gefühl ging der Kapitän in seine Kajüte. Viel zu lange hatte er seinen Schiffjungen vernachlässigt, ihn von den Matrosen demütigen lassen. War nicht eingeschritten, wenn er Arbeiten erledigen sollte, für die er in seinem Alter noch gar nicht die Kraft besaß. Von Anfang an war ihm aufgefallen, dass dem Jungen die Arbeit nicht gefiel. Dennoch hatte er begierig alles aufgesogen, was er erfahren konnte.

      Die Entscheidung, die er sich überlegt hatte, war gut durchdacht. Der Kapitän wollte Johann wieder zur Schule schicken, dann vielleicht auf die höhere Handelsschule. Möglicherweise würde er ihn adoptieren. Johannes Eltern waren tot und die Tante hatte ihn wie ein Stück Vieh verkauft.

      Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jemand hatte an seine Kajütentür geklopft und war eingetreten.

      "Der Junge is wech! Wir haben alles abgesucht. Er is verschwunden."

      "Danke, kannst gehen", sagte der Kapitän matt. Resigniert starrte er auf den Michel, die Kirche St. Michaelis, das Wahrzeichen Hamburgs, die nach einem Brand wieder aufgebaut worden war und in wenigen Monaten feierlich wiedereröffnet werden sollte. Er hatte zu lange gezögert, hätte Johann schon früher in seine Pläne einweihen müssen. Nun war es zu spät. Er wusste, den Jungen würde er nie wiedersehen.

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