Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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haben mir den Sack abgenommen. Den suchte ich. Schien dem Arzt nicht zu gefallen. Er wurde wütend."

      Johanns Gesicht erhellte sich und er ging zum Gebüsch zurück. Masut sah ihm sprachlos zu und runzelte die Stirn, als Johann kurz im Gebüsch verschwand und anschließend mit seinem Beutel, den er wie seinen Augapfel während der Überfahrt gehütet hatte, in der Hand zurückkam.

      "Meinst du den?" Ohne ein Wort zu sagen, riss Masut ihm den Beutel aus der Hand und sah sich den Inhalt an. Die Kette hing noch am Henkel des Kruges und der Wachspfrofen schien unversehrt. "Hättest dich wenigstens bedanken können", sagte Johann vorwurfsvoll. Masut hob kurz den Kopf, sah sich dann wieder den Krug an. "Keine Angst, es ist alles noch so, wie es war. Es fehlt nichts und ich habe auch nichts angefasst. Ich weiß nicht einmal, was du da drin hast. Nur dass es etwas Schweres ist."

      "Später sage ich es dir, nicht heute. Ist eine lange Geschichte."

      "Was hat keine Geschichte?", sagte Masuts Freund mehr zu sich selbst und wurde traurig. "Selbst ich habe in meinem jungen Leben schon eine Geschichte zu erzählen. Doch ich will sie nicht erzählen, nur vergessen." Er wollte nicht daran denken, den Teil seines jungen Lebens vergessen, doch er konnte es nicht. Selbst jetzt nicht, wo ein neuer Abschnitt begonnen hatte, musste er noch daran denken. Es war ein Teil seines Lebens und würde es immer bleiben, auch wenn er versuchte zu vergessen.

      "Irgendwann zeige ich dir, was ich hier habe. Jetzt ist es zu früh."

      Masuts Worte machten Johann neugierig und er versuchte zu erfahren, was es mit dem Gegenstand im Beutel auf sich hatte.

      "Hast du den Familienschatz mitgenommen, um dich damit abzusetzen?"

      "Nein!", sagte Masut und Johann merkte an seiner ablehnenden Antwort, dass er nicht weiter über das Thema sprechen wollte.

      Die Tür des Hauses öffnete sich und bevor Johann weiter darüber nachdachte, wurde er von Masut zurück ins Gebüsch geworfen. Die Äste zerkratzten sein Gesicht und die Hände. Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie die ersten Ägypter aus dem Haus traten.

      6

       Hamburg-Rotherbaum, April 2009

      Schnellen Schrittes ging Isis Just durch den dunklen Flur bis sie an einer Tür stehen blieb und anklopfte. Nachdem sie ein 'Herein' vernommen hatte, öffnete sie die Tür und trat in den Raum.

      "Sie haben nach mir geschickt, Herr Winter?"

      Ein älterer Herr mit Fliege sah von einigen Fotografien hoch.

      "Ja, ich wollte Sie sprechen, Isis. Ihr Spezialgebiet ist doch die 18. Dynastie. Außerdem haben Sie die erstaunliche Gabe, künstlerische Darstellungen einem bestimmten Pharao zuzuordnen."

      Isis merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Solch ein Lob hatte sie noch nie zu hören bekommen, vor allem nicht aus dem Mund von Professor Winter. Eben jenem Professor, für den es selbstverständlich schien, dass man fließend das Mittelägyptische, das Hieratische und das Demotische beherrschte. Der nie zufrieden war, selbst wenn man eine sehr gut ausgearbeitete Hausarbeit oder ein gutes Referat abgeliefert hatte. Es gab immer etwas auszusetzen. Und nun dieses Lob. Das musste etwas zu bedeuten haben. Neugierig wartete Isis ab, warum sie gerufen worden war.

      "Kommen Sie mal her und sehen Sie sich das an." Er deutete auf die Fotos. "Können Sie mir sagen, wann diese Gegenstände ungefähr gefertigt wurden?"

      Isis trat an den Tisch und sah sich die Fotografien genau an. Die Bilder zeigten eine Kette und eine Vase oder einen Krug. Wohl eher einen Krug, vermutete die junge Ägyptologin.

      Sie nahm die Fotografie mit der Kette hoch und betrachtete sie. Eine kleine Fayence-Schicht, auf der sich Zeichen befanden, die Isis nicht erkennen konnte, befand sich unter zwei menschlichen Abbildungen. Beide trugen auf dem Haupt eine Uräusschlange, wobei das Königszeichen bei der linken Figur nur angedeutet war. Vielleicht war es im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen, doch das ließ sich nicht genau erkennen. Die rechte Figur übergab der linken eine Rolle. Eingerahmt wurde diese Szene von zwei Lotusblüten. Hieroglyphen, die diese Szenen hätten auflösen können, waren leider nicht zu entziffern. Die Fotografie war gut, aber solche Feinheiten ließen sich nicht erkennen.

      "Eine schöne Arbeit", stellte Isis fest. Sie legte die Fotografie weg und nahm die übrigen zwei, auf der das Gefäß abgebildet war. Kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, war ihr sofort eine Figur ins Auge gefallen. "Seth!", sagte sie und wirkte überrascht. Was hatte der Gott, vor dem sich beinahe jeder Ägypter gefürchtet hatte, auf diesem Gefäß zu suchen? Isis konnte den Wortlaut der Hieroglyphen nicht übersetzen, da es sich nur um einen Ausschnitt handelte. Auch die andere Fotografie half ihr nicht weiter. Dort waren wieder zwei menschliche Figuren abgebildet, die sich von der Darstellung auf der Kette nur darin unterschieden, dass beide keine Uräusschlange trugen. Das Augenmerk lag auf der Rolle. Was hatte diese Rolle zu bedeuten? Was enthielt sie?

      "Haben Sie eine Idee, wann die Gegenstände gefertigt worden sind?", riss Professor Winter Isis aus ihren Gedanken.

      Sie legte die Fotografien auf den Tisch zurück, betrachtete sie noch einmal intensiv. Seltsamerweise kamen sie ihr vertraut, bekannt vor. Doch sie konnte nicht sagen, wo sie das Gefäß und die Kette schon einmal gesehen hatte.

      "18. Dynastie, damit haben Sie recht gehabt. Aber ich müsste raten, wenn ich die Gegenstände der Regierungszeit eines Pharaos zuordnen sollte. Vielleicht der Regierungszeit Hatschepsuts. Auf der Kette sind beide Figuren mit einer Uräusschlange dargestellt. Es könnte sich um Hatschepsut und ihren Stiefsohn Thutmosis III. handeln. Aber diese Umrahmung mit den Lotusblüten und der Boden aus Fayence, auf dem die beiden Figuren stehen, widersprechen dem."

      "Und die Vase?"

      "Die Abbildung des Seth hat mich irritiert, als sollte man davon abgehalten werden dieses Gefäß, eine Vase oder einen Krug, anzufassen oder ihren Inhalt sich genauer anzusehen. Neben Seth ist etwas geschrieben worden, aber ich kann nicht erkennen, was dort steht. Die beiden Figuren, von denen die eine der anderen eine Rolle übergibt, finden sich auch hier wieder. Aber die Uräusschlange auf beiden Köpfen fehlt. Auch 18. Dynastie, aber dieses Mal kann ich es einem Pharao zuordnen. Der Stil ist eindeutig, auch wenn er nicht ganz herauskommt. Es handelt sich um die Regierungszeit von Pharao Amenophis IV."

      "Besser bekannt als Echnaton", fügte Professor Winter atemlos hinzu.

      Der Ägyptologieprofessor musste tief durchatmen, nachdem er Isis' Worte vernommen hatte. Das war eine Überraschung, mit der er nicht gerechnet hatte. Zwar hatte er selbst den Verdacht gehegt, die Vase stamme aus der Zeit Echnatons. Nur hatte dem widersprochen, dass auf dem Gefäß Seth abgebildet war. Dieser Gott war während der Regierungszeit des Amarna-Pharaos. verfemt gewesen und hatte offiziell nicht existieren dürfen. Nicht Bes war abgebildet, sondern Seth. Es musste sich tatsächlich um eine Warnung handeln, wenn der Gott Bes dafür nicht ausgereicht hatte. Doch Bes, der ein eingewanderter Gott war, hatte zu viele Funktionen inne gehabt, als das deutlich geworden wäre, was er auf der Vase bedeutet hätte. Doch warum wurde zweimal das gleiche Motiv gewählt, wenn beide Gegenstände nicht zum gleichen Zeitpunkt gefertigt worden waren? Handelte es sich bei Kette und Krug um eine Fälschung?

      "Halten Sie die Gegenstände für echt?", wollte er wissen und hoffte auf eine aussagekräftige, eindeutige Antwort, doch er wurde enttäuscht.

      "Das kann ich nicht sagen", antwortete Isis und sah am Gesichtsausdruck Professor Winters, dass sie eine Antwort gegeben hatte, die er nicht hören wollte. "Ich müsste die Gegenstände vor mir liegen haben, sie anfassen, die Konturen nachfahren. Anhand dieser Fotografien kann ich zu keinem aussagekräftigen Urteil kommen. Ich muss die Gegenstände aus der Nähe betrachten. Wo sind denn die Vase und die Kette, damit ich sie mir ansehen kann?"

      Ein betretendes Schweigen machte sich breit. Professor Winter nahm die Fotos, ordnete sie und legte den kleinen Stapel auf den Tisch zurück.

      "Das ist das Problem: Wir wissen es nicht. Dr. Grehtlahn hat in einem dieser zwielichtigen Foren, wo Kunsthandwerke gehandelt werden, die Gegenstände