Reginald Rosenfeldt

Requiem für West-Berlin


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einzigen, einigermaßen warmen Zimmer tranken inzwischen die Genossen ihr redlich verdientes Bier, und Horst setzte sich wieder auf den für ihn reservierten Stuhl. „Ein starker Tee wäre jetzt bestimmt nicht schlecht“, verkündete er ohne jemand Spezielles anzusehen, und streckte seine kalten Füße dem elektrischen Ofen entgegen. Die Strahlen des starken Stromfressers entfalteten ihre Wirkung, und schon setzte ein belebendes Prickeln in Horsts erstarrten Zehen ein. Den gewohnten Schmerz ertragend, klopfte er eine Juno aus der Packung, und sinnierte gutgelaunt: „Ihr könnt sagen was ihr wollt, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie leicht uns ein solcher Gimpel auf den Leim geht.“

      „Wie wahr, Hotte, wie wahr“ Paul Werner zündete mit einem Streichholz den Gaskocher an, bevor er den gefüllten Kessel auf die Flamme stellte. „Chapeau, da kann ich nur den Hut vor Dir ziehen! Du hast den erbärmlichen Mistkerl nicht nur gekascht, sondern außerdem so manipuliert, dass er mit tödlicher Sicherheit auch noch seine eigene Grube ausbuddelt!“

      6.

      John Trend parkte den ihm zur Verfügung gestellten Wagen auf der freien Fläche zwischen dem Bahnhof Zoo und dem Theater des Westens. Der noch aus der Kaiserzeit stammende Prachtbau hatte laut Susans Erklärungen seit dem Kriegsende als provisorisches Opernhaus gedient, und spielte erst seit anderthalb Jahren wieder Musicals und Operetten.

      „Zur Neueröffnung haben sie „My Fair Lady“ aufgeführt“, erinnerte sich Susan, die sichtlich stolz auf das dargebotene Programm war. In ihren Augen verbreitete der Musentempel ein bescheidenes großstädtisches Flair, das aber seiner Nachbarschaft völlig abging. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite reihten sich Kneipen und Bars aneinander, und hinter ihren behelfsmäßig errichteten Flachbauten verhinderte der schwarze Klotz des Fern- und S-Bahnhofs „Zoologischer Garten“ die Aussicht auf die Gedächtniskirche.

      Für Trend gehörte die rußgeschwärzte Halle zu den faszinierendsten Kuriositäten der Stadt, denn sie befand sich überraschenderweise auf dem Hoheitsgebiet der DDR. Der zweite deutsche Staat verwaltete nämlich sowohl den Maschinenpark, als auch den Gleiskörper der ehemaligen Reichsbahn, und deshalb stand selbst auf den in die BRD ratternden Interzonenzügen die größenwahnsinnige Bezeichnung „Deutsche Reichsbahn“.

      „Was für ein Treppenwitz der Weltgeschichte“, dachte Trend erheitert. Ein kommunistischer Staat, der sich auf das Erbe einer faschistischen Diktatur beruft! Der Amerikaner grinste unwillkürlich, während es ihm nicht zum ersten Male durch den Kopf ging, dass das unverständliche Arrangement auch eine äußerst praktische Seite besaß. Da der Bahnhof zumindest juristisch zur DDR gehörte, hatte er sich schnell zum Sammelpunkt zwielichtiger Gestalten entwickelt, die hier ungestört ihre kriminellen Geschäfte abwickeln konnten. Verständlicherweise färbte das spezielle Publikum auch auf die unmittelbare Umgebung ab, wie deutlich an den Spelunken jenseits des provisorischen Parkplatzes zu erkennen war.

      Trend gönnte der von gewissen Herren bevorzugten „Bel Ami Bar“, in der ihm die Bedienung erst vor drei Tagen eine geladene Handfeuerwaffe zum Kauf angeboten hatte, einen letzten Blick, und schloss den grauen Opel Kapitän ab. Die Schlüssel in der Manteltasche verstauend, betrat er die Kantstraße und schritt zügig zur parallel verlaufenden Joachimstaler. Die breite Straße säumte eine Mischung aus gesichtslosen Neubauten und den Krieg überlebten vierstöckigen Häusern, hinter denen sich der Breitscheidplatz versteckte. Der als Zentrum der geteilten Stadt angepriesene Ort beherbergte in seiner Mitte das offizielle Mahnmal für die Schrecken des letzten Weltkrieges, die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Von dem ursprünglichen Sakralbau existierte nur noch der Hauptturm; eine verbrannte Hülle, der die pfiffigen Berliner den Spitznamen „hohler Zahn“ verliehen hatten, und daneben erhob sich ein erst vor zwei Jahren errichtetes, futuristisches Gotteshaus.

      Trend besichtigte den Touristenmagneten gleich nach seiner Ankunft, um sich einen ersten Eindruck von der neuen West-City zu verschaffen. Aber wie er es befürchtet hatte, bestand die Peripherie des Platzes größtenteils aus lieblos hochgezogenen Betonklötzen, und zwischen den konformistischen Hochhäusern leuchtete die Reklame des zu einem Festivalkino hochstilisierten „Zoopalast“.

      Desillusioniert hatte Trend den Mantelkragen hochgeschlagen, und als letztes die weite Sandfläche hinter der Gedächtniskirche gemustert. Auf der Brache stand bis 1943 das von der intellektuellen Elite favorisierte Romanische Cafe; ein imposantes Gebäude, das seit Wochen ein Zirkuszelt mehr als notdürftig ersetzte.

      Bei der Erinnerung an den obskuren Anblick stellte sich Trend einen Augenblick vor, wie wohl eine Manege voller Löwen oder Tiger mitten am Times Square wirken würde, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Das war jetzt wirklich nicht der geeignete Moment für müßige Reminiszenzen, an diesem Vormittag benötigte er seine Konzentration einzig und allein für das konspirative Meeting mit Susans V-Mann.

      Der Spitzel hatte, wie es nicht anders zu erwarten war, auf einem öffentlichen Treffpunkt bestanden, und das Aschinger am Zoo vorgeschlagen. Die Bierstube gehörte zu einer seit der Jahrhundertwende beliebten Kette von Restaurationen, und lag laut Susan nur wenige Meter von der Kantstraße entfernt.

      Im Näherkommen entpuppte sich die Aschinger-Quelle als ein ebenerdiger Nachkriegs-Bau, dessen trostloser Anblick noch die allgegenwärtige Tristesse verstärkte. Doch Trend, dem die Melancholie einer gesichtslosen, aus Trümern neu errichteten Stadt nicht fremd war, ignorierte sie geflissentlich, und betrat ohne zu zögern die Gaststätte.

      Zielstrebig durchquerte er den Vorraum mit seinen Stehplätzen, und erstand an der Theke einen Pott Kaffee. Den heißen Becher mit beiden Händen umfassend, schlenderte er weiter und blickte sich, scheinbar einen Sitzplatz suchend, neugierig um. Der an den Eingangsbereich angrenzende Saal mit seinen kleinen Tischen und metallenen Säulen war nur halbwegs besetzt, und deshalb bemerkte Trend schon von weiten das mit dem V-Mann ausgemachte Kennzeichen.

      Die zwei Zeitungen lagen sorgfältig drapiert auf einem an der Fensterfront platzierten Tisch und beim herantreten entpuppten sie sich wie vereinbart, als eine aktuelle BILD-Zeitung, sowie ein abgegriffenes LIFE-Magazin. Das amerikanische Journal musste mindestens ein halbes Jahr alt sein, denn Trend erinnerte sich daran, das Titelbild mit dem Marilyn Monroe Porträt bereits im letzten August gesehen zu haben. Neben den Presseerzeugnissen stand ein Brötchenkorb mit den begehrten Aschinger Gratis-Schrippen, und ein Terrine Erbsensuppe, die ein unscheinbarer Mann pedantisch auslöffelte.

      Trend setzte sich mit einem angedeuteten Kopfnicken auf den zweiten Stuhl und nippte einen Moment schweigend an seinem Kaffee. Dann zog er eine Packung Camel aus der Manteltasche und fragte mit einem bewusst leichten Akzent in der Stimme: „Entschuldigen Sie, mein Herr, würde es Sie sehr stören, wenn ich mir eine Zigarette anstecke?“

      Der derart Angesprochene blickte langsam von seinem Teller auf, tupfte sich die Lippen mit der bereitliegenden Papierserviette ab, und bequemte sich zu der Gegenfrage. „Sie sind Amerikaner? Ja? Dann können Sie natürlich nicht wissen, dass es in meinem Land immer noch als unhöflich gilt, wenn jemand während des Essens raucht. Aber abgesehen davon…“ Der füllige Mann musterte Trend mit einem lauernden Gesichtsausdruck, „vertrage ich einfach nicht den Gestank Eurer Glimmstängel, und besonders nicht den der Camel.“

      „Das liegt sicher an der typischen American Blend Mischung, aber daran gewöhnen Sie sich noch, glauben Sie mir, wenn die Marke endlich auch in Ihrem Land verkauft wird.“

      „Tja, wenn Sie es sagen!“ Mit der Feststellung schien für den Fremden das ihm aufgezwungene Gespräch beendet zu sein. Ohne sein Gegenüber weiter zu beachten, widmete er sich erneut dem Erbseneintopf, und für einen Moment herrschte Stille am Tisch. Dann, nach einer kleinen Anstandspause, steckte Trend seine Zigaretten wieder ein, und deutete amüsiert auf das neben dem Brötchenkorb liegende Etui. „Und, wenn Sie mir noch die Frage gestatten, welche Sorte bevorzugen Sie denn so, mein Herr?“

      „Die gute, ehrliche HB.“

      „Na, dann gehen Sie mal nicht gleich in die Luft!“ Durch die Verwendung des bekannten Reklamespruches hatte Trend alle aktuellen Codewörter heruntergespult und überließ nun dem Spitzel die Initiative. Der schien aber die Rolle des schweigsamen