Reginald Rosenfeldt

Requiem für West-Berlin


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      „Okay, Sie haben ja recht, dass die roten Splittergruppen betreffende Material ist wirklich nicht klassifiziert. Im Gegenteil, teilweise liegen mir nur vage Vermutungen, oder höchst fragliche Analysen vor.“

      Trend klappte den Ordner zu, und hob seine Hände in einer hilflosen Geste. „Machen wir also Nägel mit Köpfen, wie man hierzulande so schön zu sagen pflegt. Mich interessiert vor allem die Gruppe Herrmann. Sagt Ihnen der Name etwas? Nein? Kein Wunder, die obskure Clique besitzt die Prioritätsstufe Null, und wird nur in einem einzigen Memo des LKA erwähnt. Als Quelle für die wenigen Zeilen dient ein vom Staatsschutz ausgehobener Briefkasten, in dem sich neben relevantem Material auch eine Propagandaliste der fraglichen Gruppe befand. Sie enthielt nichts spektakuläres, nur die übliche Phrasendrescherei samt einem Streikaufruf, und der geplanten Gründung kommunistischer Zellen bei Siemens und AEG, eben reine Agitation ohne reales Bedrohungspotential.“

      Trend klopfte nachdenklich seine vierte Camel an diesem Vormittag aus der Packung. „Andererseits ist in dem aufgeheizten Westberliner Klima jede noch so stümperhafte Störung vielleicht genau der Funke, der einen Flächenbrand entfachen könnte.“

      „Ein gewisses, unkalkulierbares Restrisiko besteht immer…“ Susan blickte einen Moment überlegend auf den Aktenordner, dann räusperte sie sich energisch „Ihr Problem, John, ihr eigentliches Problem, ist der unstrukturierte Aufbau der Brigaden. Nur dilettantisch organisiert, pflegen sie einen biederen, primitiven Parteiklüngel, „Rot Front“ auf dem Level eines Kaninchenzüchtervereins, sozusagen. Jeder kennt jeden bis zum Überdruss, und damit ist eine Infiltration bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt.“

      „Das müssen Sie mir nicht sagen, ich weiß selber, dass die Einschleusung eines Schattenmannes vollkommen unrealistisch ist. Nein, die einzige Möglichkeit, die mein knappes Zeitfenster überhaupt noch erlaubt, ist die Anwerbung eines bereits etablierten Insiders.“

      „Nun, dann sind Sie wohl oder übel erneut auf meine Hilfe angewiesen.“ Susan gönnte Trend ein anzügliches Lächeln. „.Ich denke, dass versprochene Candle-Light-Dinner sollte wirklich im Kempinski stattfinden. Ganz brav und ohne jegliche Hintergedanken natürlich, nur ein bescheidenes Abendessen für zwei sich sympathisch findende Kollegen.“

      „Dann müssen wir unbedingt Captain Archer als Anstandswauwau dazu bitten.“

      „Jetzt übertreiben Sie es aber!“ Mit einer fließenden, anmutigen Bewegung erhob sich Susan und als sie wieder sprach, besaß ihre Stimme die von ihr gewohnte, sachlich kühle Attitüde. „Der Kontakt lässt sich leider nicht telefonisch herstellen. Aber sobald es meine Arbeit erlaubt, besuche ich einen guten Bekannten, der mir noch eine Gefälligkeit schuldet.“

      „Na, dann viel Spaß beim Schuldeneintreiben. Seien Sie nicht zu streng mit dem armen Kerl.“

      „Alter Zyniker!“ Susan ergriff ihre auf dem Regal abgestellte Handtasche, und wandte sich mit einem aufmunternden Lächeln noch einmal um. „Spätestens in zwei bis drei Tagen wissen wir mehr, versprochen!“

      „Ich nehme Sie beim Wort!“ Trend rückte mit einer verlegen wirkenden Geste seine Brille zurecht. „Wenn ich mich auf irgendjemand in diesem Haus wirklich verlassen kann, dann sind Sie das, Susan.“

      5.

      Karl Urban musterte das nächtliche Firmament. Eine kompakte Wolkendecke verbarg seine geliebten Sterne, und die blasse Mondsichel ließ sich auch nicht in den dahintreibenden Lücken sehen. Nur die auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses blinkenden Positionslichter blinzelten ihm vertrauensvoll zu, und Kalle fühlte für einen Moment wieder sein nie erlöschendes Fernweh.

      Wehmütig starrte er zu dem hölzernen Türmchen mit seinen roten Lampen hinauf, das gerade einem zur Landung ansetzenden Flugzeug als Orientierungshilfe diente. Der niedrigfliegende Clipper hatte die Ostzone in einem gewaltigen Satz überquert, und seine donnernden Motoren schürten erneut Kalles Verbitterung. Warum konnte er nicht genau wie der stählerne Vogel seine imaginären Flügel ausbreiten, und in ferne, glücklichere Gefilde entschweben? Hoch empor, weit weg von den ihn niederdrückenden Sachzwängen, einfach hinaus aus der hässlichen Stadt, die ihn schon so oft verraten hatte?

      Verbittert spuckte Kalle in den von Kohlenstaub verschmutzten Schnee, und stapfte auf die Leuchtreklame des „Schwarzen Kater“ zu. Der gebuckelte Stubentiger fauchte auf einer von den Winterstürmen getrübten Scheibe, hinter der zwei Leuchtstoffröhren hektisch flackerten. Aus und an, aus und an, glommen sie wie ein fernes Leuchtfeuer, das unablässig ein geheimes Signal über die Fahrbahn sandte.

      Mit einem verächtlichen Grinsen ignorierte Kalle den abergläubischen Hokuspokus und öffnete die Kneipentür. Sofort schlug ihm die übliche Melange aus Tabaksdunst und abgestandenen Bier entgegen, die er aber nicht einmal mehr wahrnahm. Kalle interessierte nur das zum Showdown versammelte Publikum, und so musterte er trotzig die müden Gesichter. Fast die gesamte Mischpoke der Kienitzer hatte sich heute hier versammelt; verdammte Penner, die er allesamt schon im Hinterzimmer ausgenommen hatte.

      „Mann, das ist ja eine Stimmung wie bei Bachhulkes Beerdigung!“ Kalle zog die Schultern hoch, und wirkte dabei wie ein Boxer, der einen hypothetischen Gegner abwehren wollte. Doch die grimmige Pose täuschte, denn trotz seines schlichten Gemüts, spürte Kalle die ihn umgebende Stille sehr wohl. Alle Gespräche waren bei seinem Erscheinen verstummt, und da die Musikbox immer noch auf eine Reparatur wartete, verbreiteten nicht einmal mehr die alten Platten ihren naiven Frohsinn.

      Darüber hinaus spielte auch der alte Volksempfänger nicht sein gewohntes Abendprogramm, denn der Wirt hatte ihn schon vor Wochen abgestellt, um die Röhren zu schonen.

      „Wer säuft, kann selber singen“, lautete Herberts Devise, die auch lautstark seine bessere Hälfte vertrat. Elkes tizianrot gefärbte Lockenpracht leuchtete provokativ hinter dem Tresen, wo sie mit ihren falschen Wimpern die Stammkunden zu bezirzen versuchte. Vor allem die senilen Greise fielen immer wieder auf das Augengeklimper herein, das aber beim roten Horst wie an einer Betonmauer abprallte. Unbeeindruckt von Elkes primitiven Verführungskünsten trank er sein kleines Bier und wirkte dabei so humorlos, dass ihn keiner der anderen Gäste auch nur anzusprechen wagte.

      Den Blick starr auf den Overstolz-Aufsteller im Flaschenregal gerichtet, galt Horst Szymaneks Aufmerksamkeit seltsamerweise nur der angeblich am meisten gerauchten deutschen Zigarette. „Tropen-Packung, Zwölf Stück, fünfzig Pfennige“, verkündete die blaue Werbefläche, und die Botschaft besaß eine solche Faszination, dass Horst anscheinend nicht einmal bemerkte, dass Kalle einen Barhocker heranrückte. Sich auf ihm niederlassend, bestellte der Hüne als guter Neuköllner ein kleines Schultheiss vom Fass, das Elke mit dem üblichen Brimborium zapfte, den Schaum abstrich, und es auf den Bierdeckel stellte. Kalle genehmigte sich einen tiefen, die Sorgen leider nicht vertreibenden Schluck, und murmelte dann: „Scheiße, Hotte! Und wenn Du mich totschlagen lässt, aber Dein Geld siehst Du so schnell nicht wieder!“

      „Ich hab nichts anderes erwartet!“ Horst verzog seine Lippen zu jenem grausamen Lächeln, dessen sich schon Kalles Lehrer in der Grundschule befleißigt hatten. „Die Woche malochen auf dem Bau hat Dir wohl nicht viel eingebracht?“

      Ehe Kalle noch auf die offensichtliche Provokation angemessen reagieren konnte, legte ihm Horst die Hand auf den Arm und fügte weitaus versöhnlicher hinzu: „Lass mal, Sputnik! Ist doch keine Schande sich als Hucker für ein Butterbrot abzurackern! Hast ja überhaupt verdammtes Glück gehabt, dass der alte Schultze noch einen Innenausbau fertigstellen musste.“

      Um seine Worte zu bekräftigen, hob Horst das Glas und prostete Kalle zu. „Auf die Plackerei und das Baugewerbe! Runter mit der Plörre und dann rück Deine Lohntüte rüber, ich bin heute auch mit einer Anzahlung zufrieden.“

      Karl Urban hörte die Worte wohl, aber da er sich wie so oft in seinem bescheidenen Leben schlichtweg überfordert fühlte, zückte er ergeben seine Brieftasche und zog die wenigen, sauer verdienten Scheine heraus. Doch als er sie auf den Tisch blättern wollte, winkte Horst großspurig ab. „Ist schon gut, Sputnik! Lass die Moneten erst mal stecken! Und trink endlich aus, ich lad Dich ein.“