Reginald Rosenfeldt

Requiem für West-Berlin


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und dazu kam, dass der „rote Horst“ auch noch ein eiskalter Spieler war. Mit seiner bedächtigen Art hatte er Kalles Abzocke bereits des Öfteren verheerend gebremst und ihm sogar einige lukrative Partien gründlich verdorben. Außerdem trank der Mistkerl nur mäßig während seiner glücklicherweise seltenen Kneipenbesuche, und auch heute hatte er sich nur ein kleines Helles zapfen lassen.

      Mit der Tulpe in der Hand, verharrte er neben der Tür und ignorierte geflissentlich Kalles verbalen Ausrutscher. Scheinbar gelangweilt nippte er an dem Bier und zündete sich dann eine seiner stinkenden Ostzigaretten an. Behaglich paffend, setzte er sich auf den an der Wand stehenden Hocker, und begann aufmerksam das laufende Spiel zu verfolgen.

      Grauer Qualm umhüllte langsam den „roten Horst“, und seine von der Stehlampe angestrahlte Silhouette verdüsterte zunehmend Kalles Stimmung. Finster vor sich hinstarrend, klopfte er eine Overstolz aus dem Päckchen und riss unbeherrscht ein Streichholz an. Der Zündkopf flammte erst beim zweiten Versuch auf, und Gardinen Rainer, der gewitzt aus vielen, unerfreulich verlaufenden Spielen, ihn besorgt beobachtete, atmete tief durch. Mit einer betont lässigen Geste klopfte er zweimal auf den Tisch und verkündete, ohne Urban direkt anzublicken: „Sei mir nicht böse Kalle, aber für heute reicht es wirklich. Also Tschüss, nächste Woche, wie immer, gleiche Zeit, gleiche Stelle!“

      „Ja, verzieh Dich nur, und vergiss nicht zu blechen.“ Kalle erheiterte nicht einmal die Anspielung auf Friedrich Lufts wöchentliche Abschiedsworte im RIAS. Verbittert starrte er zu dem leergewordenen Stuhl, auf den sich jetzt, wie konnte es auch anders sein, der „rote Horst“ niederließ.

      Pedantisch drückte der Angeber seine Ost-Juno in dem überquellenden Aschenbecher aus und blickte Urban herausfordernd an. „Na Sputnik, Lust auf eine Runde unter richtigen Männern? Immer nur unterdrückte Proletarier ausnehmen, das ist doch auf die Dauer unbefriedigend, oder?“

      „Was faselst Du denn da? Lass gefälligst meine Kumpels in Ruhe. Wenn Du geknechtete Arbeiter vollquatschen willst, dann geh gefälligst nach Drüben, hier hält Dich bestimmt keiner auf!“

      „Ja, Kalle, watt will der Bolschewik überhaupt von uns?“ Kulieckes vom Alkohol- und Tabaknebel betäubter Verstand fühlte sich ebenfalls angegriffen, obwohl er den tieferen Sinn der Beleidigung nicht einmal ansatzweise erkannt hatte. Kalle dagegen, der aus bitterer Erfahrung wusste, wie schnell der Kommunist aus einer anscheinend harmlosen Bemerkung ein loderndes Feuer zu entfachen vermochte, versuchte den beginnenden Disput krampfhaft eine ihm genehmere Wendung zu geben. Sich an seine Zechbrüder wendend, nickte er ihnen beruhigend zu, und blickte dann Szymanek drohend an. „Na gut, Hotte! Wenn Dich schon der Hafer sticht, dann zeig uns doch mal ob Du es wirklich drauf hast! Aber diesmal ohne Deine üblichen Tricks oder Rückzieher, kein dummes Gequatsche, klopf einfach nur die Karten. Und, flenn nicht etwa, wenn wir Dir die Taschen leeren!“

      „Keine Angst, Sputnik! Ich weiß mit Anstand zu verlieren.“ Statt das Spiel aufzunehmen, erhob sich Szymanek und schlüpfte aus seiner Caban-Jacke. In aller Ruhe hängte er sie über die Stuhllehne, zog aus der Innentasche eine Börse und legte sie vor sich auf den Tisch. Kalle, den die umständliche Prozedur bis aufs Blut reizte, verdrehte die Augen, und musterte Kuliecke auffordernd. Der verstand den unausgesprochenen Hinweis trotz seines derangierten Zustandes sehr wohl, und lallte undeutlich: „Watt denn, wird Dir jetzt schon heiß? Wir ham Dir doch noch jar nicht Zunder jejeben.“

      „Ach Fritzchen, Du hast es gerade nötig. Anstatt hier den Obermacker zu mimen, solltest Du lieber gut aufpassen, denn jetzt erhältst Du eine unvergessliche Lektion. Völlig gratis, und von Herzen kommend.“

      „Verdammter roter Spinner.“ Der Rest des undeutlichen Gemurmels verstand selbst Kalle nicht mehr, und Szymanek, der anscheinend noch auf eine weitere Beschimpfung gewartet hatte, ergriff ungefragt die Karten. Mit seinen derben Händen teilte er den Stapel und wölbte die beiden Hälften mit den Daumen nach innen. Nach und nach verringerte er den Druck und fächerte geschickt die Karten ineinander. Die für einen Laien recht routiniert wirkende Prozedur wiederholte er mehrmals, was Urban, der seinen Blutdruck in bedrohliche Höhen steigen fühlte, erneut aufregte. „Es hat sich schon einmal einer zu Tode gemischt, gib endlich!“

      „Du willst Dich über Beerdigungen unterhalten? Na, dann bestell doch schon mal einen Kranz.“ Locker aus dem Handgelenk verteilte Szymanek das Blatt auf dem Tisch und eröffnete damit eine Reihe von Partien, die Kalle bald wie ein Strafgericht der neidischen Glücksgöttin vorkamen. Die ihm sonst so geneigten Königinnen schienen alle Beleidigungen, die er je gegenüber irgendeiner Frau geäußert hatte, gnadenlos rächen zu wollen, und als wenn das nicht genug war, verschlimmerte sein unbeherrschter Jähzorn auch noch die zumeist ausweglosen Situationen.

      Dazu kam, dass die Spiele durch das Fehlen der „Bank“ mehr einer Pokerpartie als dem vertrauten 17 + 4 glichen, und die Einsätze zum Entsetzen der verbliebenen Kumpane bald ungeahnte Höhen erreichten. Angesichts seines schmelzenden Geldhaufens vergaß Kalle nun jede Vorsicht und reizte trotzig noch die trostlosesten Blätter aus, so dass sich am frühen Morgen selbst sein unantastbarer Notgroschen in Luft aufgelöst hatte.

      Was für ein entsetzliches Debakel! Fassungslos starrte Kalle auf die leere Fläche neben seiner rechten Hand und konnte es einfach nicht fassen. Wie hatte ihn das rote Schwein nur so über den Tisch ziehen können?

      „Na, was ist los Sputnik? Wie gewonnen so zerronnen? Geht`s jetzt ab in die Heia, oder traust Du Dir noch eine letzte Runde zu? Ich nehm auch einen Schuldschein, vorausgesetzt, Deine Sauklaue ist noch einigermaßen lesbar.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schnippte Horst Szymanek drei Karten über den Tisch, und Kalle, der schon längst nicht mehr Herr seiner selbst war, nahm sie automatisch auf. Sie auseinanderfächernd, musterte er hilflos die erbärmliche Herz Sechs und den grinsenden Kreuz König, und wusste nur eines, der Mist war zu viel zum passen, und zu wenig zum gewinnen.

      Den nahenden Untergang vor Augen, fühlte Kalle wie ihm der Schweiß ausbrach, und von seinem Haaransatz in den Kragen sickerte. Klebrige, eiskalte Furcht schüttelte den gedemütigten Mann, der gerade noch die Kraft besaß, sich mit einem Stofftaschentuch das Gesicht abzuwischen. Der „rote Horst“, der ihm dabei amüsiert beobachtete, bleckte seine vom Nikotin verfärbten Zähne zu einem wölfischen Grinsen. „Was nun, reicht’s Dir, oder brauchst Du noch einen dritten Glücksbringer?“

      Karl Urban nickte stumm, und schon rutschte eine Karte über den Tisch und kam direkt vor seinen Fingerspitzen zur Ruhe. Ihre rote Oberfläche leuchtete unschuldig, ja verheißungsvoll, während ihre verdeckte Seite ihm wie der Bote eines ungerechten Schicksals erschien.

      Trumpf oder Lusche, fragte es ihn, Glück oder Verderben? Die Antwort war simpel, er musste nur das hässliche Stück Pappe umdrehen, das wie eine rostige, nicht entschärfte Fliegerbombe mitten auf dem Tisch lauerte.

      Kalle atmete tief durch, dann wendete er die Spielkarte mit dem Zeigefinger um, und eine Pik Neun grinste ihm frech ins Gesicht. Eine verdammte Neun, die ihm in so vielen, vorangegangenen Spielen das Leben gerettet hätte.

      Resigniert knallte Urban die beiden anderen Verräter ebenfalls auf den Tisch und lehnte sich ergeben, fast teilnahmslos zurück. In seinen Ohren rauschte das Blut und durch das statische Geräusch hörte er eine ferne Stimme höhnen: „Fünf, zusammen eine mickrige Fünf, das nenne ich wirklich Pech!“

      „Mensch Horst, muss datt sein? Verscheißern kann sich Kalle alleene!“ Kuliecke blickte Szymanek drohend an, doch der ignorierte den dicken Mann. Überheblich lächelnd, zog er ein Notizbuch aus der Jacke, riss ein Blatt heraus, und legte es zusammen mit einem blauen Plastikkugelschreiber auf den Tisch.

      „Dreihundert Mäuse, Kalle! Drei schöne Dürerbilder für den braven Horst! Schreib es einfach auf und vergess nicht Deine Unterschrift.“

      Kuliecke hielt unwillkürlich die Luft an, auf einen so provokanten Tonfall antwortet sein Freund normalerweise mit der Faust. Ein satter Uppercut, und schon hätte er das Problem geregelt. Aber an diesem unseligen Abend galt das Gesetz der Straße nicht mehr, Kalle saß wie versteinert auf dem Stuhl, und sein Blick verlor sich in wesenlosen Fernen. Szymanek, der die Anzeichen sehr wohl zu deuten wusste, stichelte weiter: „Hey Sputnik, komm zurück aus dem Kosmos, Du wirst noch