Reginald Rosenfeldt

Requiem für West-Berlin


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aber stets beleidigend klingenden Tonfall: „Fertig? Gut, dann schließ den Mantel und komm mit vor die Tür, wir müssen Tacheles reden.“

      „Du willst mich nur wieder belatschern!“

      „Wo werd ich, Sputnik! Bist doch ein cleverer Bursche, Dir kann ich doch nichts vormachen.“ Sich ein impertinentes Grinsen verkneifend, schloss Horst die Caban-Jacke und trat hinaus in die klirrend kalte Nacht. Die Hände in die Taschen gestopft, lauschte er einen Augenblick dem gedämpften Aufheulen ferner Jetdüsen, und fühlte sofort wieder die Ohnmacht seiner vergeudeten Jugend. Wie in jenen schrecklichen Stunden vermeinte er die Motoren der angloamerikanischen Bomber zu hören, das Näherkommen der Einschläge, und die den Luftschutzkeller erschütternden Vibrationen.

      Horst Szymanek schüttelte sich trotzig, und das Echo seiner unbewältigten Vergangenheit verwandelte sich übergangslos in simplen Fluglärm, ruhestörenden Krach, der ja für den Volltrottel an seiner Seite angeblich eine ganz andere Bedeutung besaß.

      Weltraumraketen und amerikanische Schundhefte! Ohne Karl Urban anzublicken, unterhielt sich Szymanek scheinbar mit den dunklen Fassaden auf der anderen Straßenseite: „Was für eine Nacht, Sputnik! Eisig wie am Nordpol, genau das richtige Wetter für wahre Helden. Für Abenteurer wie Dich, da irre ich mich doch nicht, oder?“

      Kalle antwortete nicht, und so stichelte der gewiefte Demagoge weiter: „Echte Heros sind es gewohnt etwas zu riskieren, alles auf die entscheidende Karte zu setzen. Alles oder nichts, noch einmal Ente oder Trente, wenn Du verstehst was ich meine?“

      Karl Urban wollte, oder konnte aber nicht den Sinn der verborgenen Botschaft enträtseln, und so kam Szymanek notgedrungen auf den Kern der Dinge zu sprechen. Mit wenigen, simplen Worten schlug er vor, erneut um die ausstehende Summe zu zocken. Wieder doppelt oder in den Arsch gekniffen, sozusagen fifty-fifty, das war doch eine verdammt reelle Chance. „Ehrlich Kalle, vielleicht küsst Dich ja heute Nacht die Glücksfee und Du zeigst es mir so richtig!“

      „Quatsch! Damit ich die sauer verdiente Kohle erneut verliere? Sag mal, für wie dämlich hältst Du mich eigentlich?“

      Szymanek breitete nur in einer vielsagenden Geste die Arme aus und stellte dann erneut fest, dass eine Gewinnchance von fünfzig zu fünfzig doch ein absolut faires Angebot wäre. „Überlege es Dir einfach Kalle, Du bist doch ein ausgeschlafener Typ, der genau weiß, wie viel er riskieren kann.“

      Das vermeintliche Lob trug der rote Horst aber derart herablassend vor, dass Kalles leichtsinniges Spielerherz der plumpen Herausforderung einfach nicht zu widerstehen vermochte. Ohne auf die mahnende Stimme in seinem pochenden Hinterkopf zu hören, grinste er bejahend und wollte sich wieder der Kneipe zuwenden, als ihn Szymanek stoppte. „Hey, nun mal langsam mit den jungen Pferden!“

      Eine schwielige Hand hielt Kalle am Ärmel fest, während der Verführer verständnisvoll vorschlug: „Nicht da drin, Sputnik. Das können wir doch weitaus gemütlicher, und vor allem billiger haben. In meiner Bude steht noch ein voller Kasten Schultheiss.“

      Gegen ein solches Argument ließ sich nun wirklich nichts mehr einwenden, und da Szymanek ja angeblich in der Nähe wohnte, stimmte Kalle ergeben zu. Mit finsterer Miene folgte er dem kleinen Mann zur Hermannstraße, die ihm an der Ecke Kienitzer schon viel Freude bereitet hatte. Direkt vor ihm lag nämlich das Union-Kintopp, in dem er regelmäßig aus dem tristen Alltag flüchtete, und gleich schräg gegenüber ein Spielzeugladen. Dass der flache Nachkriegsbau größtenteils Utensilien für werdende Mütter verkaufte, übersah Kalle allerdings immer großzügig, denn ihn faszinierten nur die im Vordergrund des Schaufensters platzierten Ritter und Indianer.

      Ja, die kleinen Karl May Elastolin-Figuren hatten es ihm als eifrigem Leser der grünen Bücher besonders angetan, und zu seinen besonderen Lieblingen zählte vor allem Old Shatterhand. Die alte Schmetterfaust bereinigte ihre Probleme stets mit einem Hieb gegen die Schläfe, und genau so hätte er gerne auch den roten Horst bestraft, aber diese Art von Gerechtigkeit kam ja im Augenblick leider nicht in Frage.

      Also löste Kalle widerwillig den Blick von dem jetzt unbeleuchteten Geschäft und stapfte seinem Rendezvous mit dem Schicksal entgegen. Horst wohnte nur zwei Seitenstraßen entfernt im vierten Stock eines alten Mietshauses, und bereits im Korridor erwarteten Kalle drei ihm völlig unbekannte Männer. Die Kerle besaßen genau jenen verkniffenen Gesichtsausdruck, den er schon bei Horsts anderen Kumpels gesehen hatte, und der anscheinend allen roten Genossen zu Eigen war.

      „Habe ich es doch gewusst! War doch klar, dass Du Dir Verstärkung besorgst, allein auf dich gestellt hast Du einfach zu viel Schiss.“

      „Na, zu zweit können wir ja wohl schlecht spielen. Oder?“ Szymanek grinste süffisant und öffnete die Tür des auf der linken Seite gelegenen Zimmers. „Du kannst dich gleich nützlich machen und mir beim Tragen helfen. Bist ja schließlich der Fachmann für volle Bierflaschen.“

      Vor der nicht beheizten Stube befand sich ein erstaunlich geräumiger Balkon, den Horst als Warenlager benutzte. Kartons mit Senatsreserve-Rindfleischbüchsen stapelten sich neben eingeschneiten Blumentöpfen, und in der rechten Ecke lockten die versprochenen Schultheiss-Kästen.

      Horst ergriff den ersten, während Kalle an das rostige Metallgitter trat, und auf die nächtliche Hermannstraße hinabschaute. Der ohnehin spärliche Verkehr war inzwischen zum Erliegen gekommen und nur die Scheinwerfer eines einsamen Ford Taunus beleuchteten für Sekunden den Eingang des U-Bahnhofs Leinestraße. Schräg hinter dem Treppenschacht begann eine scheinbar endlose Friedhofsmauer, und das von ihr beschützte, vom Schnee begrabene Gelände, erfüllte den sonst so abgebrühten Kalle seltsamerweise mit einem abergläubischen Schauer. Horst, der seinen irritierten Blick bemerkte, erklärte lakonisch: „Das ist der St. Michael Friedhof. Da liegt mein seliger Großvater mütterlicherseits.“

      „Na, wie günstig für Dich. Da hast Du es ja an seinem Geburtstag nicht weit.“ Fröstelnd packte Kalle einen Kasten und marschierte in die Wohnung zurück. Horst war schon in das Zimmer am Ende des Flurs verschwunden, das für den heutigen Abend als Casino herhalten musste. Zwei Heizsonnen erwärmten den zum Hinterhof liegenden Raum, und der von den glühenden Metallspiralen verbrannte Staub, reizte Kalles ohnehin trockene Kehle. Ohne zu fragen, öffnete er mit seinem Schweizer Taschenmesser eine Pulle, und genehmigte sich einen Schluck, bevor er sich an den runden Eichentisch setzte.

      Auf ihm lauerten zwei Rommee-Spiele, die ein verhungert aussehender Bursche mit Halbglatze immer wieder pedantisch durchmischte. Der Kerl hatte sich genau wie die anderen Bolschewiken nicht vorgestellt, und auf Kalle wirkte die düstere Truppe wie eine Meute hungriger Hyänen, mit der er sich lieber nicht einlassen sollte.

      Szymanek, der Kalles bauernschlaue Vorsicht natürlich wahrnahm, gönnte ihm einen aufmunternden Blick, bevor er seinen Nachbarn zur Rechten fragte: „Mensch, Paul! Ziemlich triste Stimmung für ein freundschaftliches Spielchen, findest Du nicht auch? Also ehrlich, ein bisschen Musik wäre vielleicht ganz hilfreich.“

      Paul erhob sich mit unbewegter Miene und schaltete das auf der Anrichte stehende Radio an. Sekundenlang flackerte das grüne Licht des „Magischen Auges“ auf, und schon übertrug der Siemens-Empfänger den RIAS. Da Paul den Sender aber nicht richtig eingestellt hatte, schnarrten die „Schlager der Woche“ leider nur verzerrt durch den Raum. Begleitet vom statischen Rauschen und knatternden Störungen drangen die ersten Takte von „Junge, komm bald wieder“ aus dem Äther, und Kalle, der ein großer Bewunderer von Freddy Quinn war, tröstete sich über den schlechten Empfang mit einem weiteren Schluck hinweg.

      Diesmal nippte er aber nur an dem Glasseidel, denn die Gesellschaft der roten Genossen mahnte ihn zur Vorsicht. Instinktiv spürte er, dass es galt einen klaren Kopf zu behalten, und so schlug er in einem, wie er meinte, möglichst harmlosen Tonfall vor: „Hör mal, Horst! Wenn wir alles auf eine Karte setzen, ist die Partie schneller vorbei, als Du das nächste Bier aufmachst. Also lass es uns etwas gemütlicher angehen, ja?“

      „Ganz wie Du willst, mein Guter.“ Horst grinste Kalle frech an. „Na, dass sieht ja ganz nach einem Rendezvous mit Lady Luck aus, und warum auch nicht? Manchmal küsst sie sogar Verlierer, und außerdem, nach deinem Sieg muss ja wirklich nicht gleich Schluss sein.“