Uve Kirsch

Gutland


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nach.

      Er rechnete kurz nach. Er musste sich eingestehen, er überschaute die Sache selber noch nicht. "Vielleicht müssen wir hunderttausend nachschießen."

      "Haben wir die?"

      "Nein. Wir haben die nicht." Er betonte das "wir".

      "Scheiße." Sie starrte auf die Tischplatte. Dann schrieb sie Zahlen auf das weiße Blatt Papier vor ihr. "Dann haben wir nur noch einhundertfünfzigtausend Euro. Das ist verdammt wenig."

      Allein der Kauf des Hauses würde zweihunderttausend Euro kosten, sie müssten den Restbetrag und die Kosten für die Umbauarbeiten komplett finanzieren. Ob da die Bank mitspielte? Für die Bank zählten ein möglichst hoher Eigenanteil und ein gutbezahlter, langjähriger Job. Da sah es schon schlechter aus. Er war der Wackelkandidat, nicht sie, denn sie saß wie festgeschweißt auf ihrer Arbeitsstelle. Er dachte nach. Was würde passieren, wenn er selber Pleite ging? Wäre er dann nicht besser dran? Aber wie würde er gegenüber seinen Kunden dastehen, wie verhielten sich die Lieferanten? Er musste dringend seinen Steuerberater um Rat fragen. Und danach seinen Anwalt.

      Wulf Lindau fühlte sich müde, ausgelaugt und am Ende seiner Belastbarkeit. "Schatz, ein paar Tage haben wir noch. Lass uns noch mal nachdenken, Informationen einholen. Vielleicht fällt uns ja noch was ein."

      Sie nickte apathisch.

      14. Dorfchronist

      Im Glas schwamm ein kleiner Rest Schaum und wenn man sich stark bemühte, konnte man in der verzerrten Spiegelung auf der Bieroberfläche die Fotos an der gegenüberliegenden Wand erkennen. Bromberger hatte Zeit für solche Betrachtungen, denn der Mann, der ihm im Deutschen Haus gegenüber saß, war alt und schien alle Zeit dieser Welt zu brauchen. Zeit, die Bromberger eigentlich nicht hatte, denn heute Abend tagte wieder die Gemeindeversammlung. Er war ungeduldig, doch der Studienrat Wesemeier ließ sich nicht hetzen. Er war als Heimatforscher bekannt und als pensionierter Gymnasiallehrer für Geschichte genau der Richtige für diese Art der Recherche. Bei seiner Einladung zum Grillen vor einigen Wochen hatte der Alte geschwiegen, nur eine gefüllte Paprikaschote zu sich genommen und dann eine einzige Frage gestellt: "Warum wollen Sie wissen, woher das Wappen stammt?" Die Frage brachte Bromberger in Verlegenheit und er suchte nach den richtigen Worten. "Weil es wichtig für das Selbstverständnis des Ortes ist, zu wissen, woher man kommt." Der alte Lehrer hatte verständig gelächelt, seine letzten Bissen gefüllter Paprikaschote zu sich genommen und war mit einem Nicken wortlos gegangen. Bromberger saß anschließend verständnislos vor den vier vorbereiteten Nackensteaks, die er nacheinander allein verdrückte.

      Einen Monat lang hatte er nichts von dem alten Lehrer Herr Wesemeier gehört. Dann hatte er sich gemeldet und dieses Treffen vorgeschlagen.

      Bromberger war schon bei seinem zweiten Bier, bevor sein Gegenüber endlich zur Sache kam.

      "Ich habe recherchiert. Das war gar nicht einfach. Die Dorfchronik beginnt erst um siebzehnhundertzwölf. Da gab es das Zeichen in seiner ursprünglichen Form schon. Natürlich in seiner historischen Gestaltung." Der alte Mann nahm seinen ersten Schluck Bier. "In den Kirchenchroniken von Wismar lässt sich das Wappen bis zum 13. Jahrhundert zurück verfolgen. Aber dann verschwindet seine Spur für einhundert Jahre." In Bromberger stieg die Spannung. Der Alte wusste, wie man jemanden bei der Stange hielt.

      "Ich musste bis nach Lübeck, ins Stadtarchiv. Sie wissen, dass der Stadt Lübeck im Jahre elfhundertachtundachtzig die so genannten Barbarossa-Privilegien verliehen wurden?" Bromberger nickte. "Was hat das mit dem Wappen zu tun?" "Sie haben Recht: Nichts. Aber die Geschichte des Wappens ist eng mit der Diözese von Lübeck verbunden. In den ältesten Aufzeichnungen aus dem 12. Jahrhundert habe ich schließlich einen Hinweis gefunden. Eine Erwähnung in altgermanischer Sprache und bildliche Darstellungen, die man als die Frühform des Wappens deuten kann."

      "Das ist aber interessant! Was war auf dem Wappen drauf?", drängelte Bromberger.

      "Warten Sie. Nicht so schnell." Studienrat Wesemeier wollte seinen Auftritt genießen und ließ den Bürgermeister noch etwas zappeln.

      "Bahlenbrede ist seit frühester Zeit besiedelt. Die ältesten Siedlungsspuren stammen aus der Bronzezeit." Dozierte der Lehrer. "Das wissen wir aus früheren geschichtlichen Forschungen."

      "Interessant."

      "Aber an diesem Ort lebten die Leute nur zeitweilig, manchmal nur für wenige Monate im Jahr - oder sie ..." "Wegen des Klimas?", fragte Bromberger eilfertig.

      "Vermutlich nicht." Studienrat Wesemeier blockte ab. "Weshalb sonst?"

      "Jetzt wird es spannend. Das hat etwas mit vorchristlichen Religionen zu tun. Und mit deren Ritualen." Der Satz hing in der Luft wie ein loses Stück Tapete.

      Bromberger nahm einen verständnislosen Schluck aus seinem Bierglas und wartete ab, bis der alte Lehrer bereit war, ihn an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Endlich ging es weiter. "Hier gab es umfangreiche religiöse Zeremonien. Jahrhunderte lang kamen Leute her, verbrachten hier einen kurzen Zeitraum und verschwanden wieder. Und da liegen die Ursprünge des Wappens." Allmählich nervte Bromberger dieses andauernde Frage- und Antwortspiel, aber er spielte es weiter mit, allein um dem Lehrer den Spaß nicht zu verderben. "Weshalb?", hakte er nach.

      Mit dunkler Stimme erklärte der alte Lehrer: "Am Ende der Zeremonien wurden Opfer gebracht."

      "Hier wurden also Tiere geschlachtet?"

      "Nicht nur Tiere."

      Sprachlos schaute Bromberger sein Gegenüber an. "Sie meinen ...?"

      Der alte Lehrer nickte bestätigend. Einen Moment betrachteten beide Männer die vor Ihnen stehenden Biergläser, bis der Lehrer fortfuhr. "Diese Tradition wurde auch lange nach der Christianisierung fortgesetzt."

      "Wie das denn? Man kann hier doch keine Menschenopfer gebracht haben, oder?" Der Bürgermeister war verunsichert. Welche Überraschung lauerte noch in der Geschichte des Ortes auf ihn?

      "Hierher wurden Kirchenbrüder gebracht, die der Ketzerei bezichtigt wurden. Und natürlich Hexen. Erst ab dem 15. Jahrhundert lebten hier dauerhaft Menschen."

      "Erst so spät?" Bromberger hatte insgeheim auf eine lange Geschichte mit rühmlicher Tradition gehofft, aber das was jetzt zutage trat, entsprach in gar keiner Weise seinen Erwartungen.

      "Ja."

      "Wieso?"

      Anstatt zu antworten legte der alte Lehrer Fotokopien von historischen Dokumenten auf den Tisch. "Das hier ist die älteste Abbildung, die ich finden konnte." Er schob eine Kopie einer Zeichnung in die Tischmitte.

      Bromberger drehte die Zeichnung um. Die zeichnerische Darstellung war eindeutig aus dem frühen Mittelalter, die Figurenbilder kannte er bereits aus anderen Darstellungen aus dieser Epoche, aber das Motiv hatte deutliche Ähnlichkeit mit dem aktuellen Stadtwappen. Nur zwei Details waren anders. Er sah einen Mann an einem Seil am langen Ast des Baumes hängen. Auf dem Baumstumpf darunter lag ein Kopf. Bromberger brach innerlich zusammen. Doch der Vortrag des pensionierten Lehrers war noch nicht zu Ende.

      "Der Name des Ortes ist schon ein sehr deutlicher Hinweis. Bahlenbrede hat einen altgermanischen Wortstamm. Es kommt von Balo bredo." Studienrat Wesemeier war sichtlich zufrieden mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen.

      "Und was bedeutet das?"

      "‚Bahlen‘ kommt vom Wortstamm ‚balwa‘ und das bedeutet ‚Verderben, Böse, Übel‘. ‚Bredo‘ bezeichnet eine Stelle. Zusammengenommen ist das die Bezeichnung für eine Kult-oder Hinrichtungsstätte. Oder wörtlich übersetzt: der böse Ort."

      "Der böse Ort." Bromberger jaulte innerlich auf. "Wo bin ich bloß hingeraten?"

      15. Traveblick

      Michael Beer schaute der