Günter Billy Hollenbach

Berkamp - Ein langer schwarzer Schatten


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Keiner fällt einfach vom Balkon.“

      „Janina, Mädchen, er ist tot, leider. Reicht das nicht?“

      Unerwartet heftig fährt sie mich an:

      „Sind Sie auch so einer? Der mich nicht ernst nimmt? Der alles verheimlicht?“

      Sie zuckt etwas zurück, und ich befürchte schon, sie springt auf und läuft davon. Ich greife kurz nach ihrem Knie und ziehe es ein wenig in meine Richtung. Janina bleibt sitzen, dreht sich mir halbschräg zu.

      „Okay, Du willst es genau wissen? Auch wenn es unschön wird?“

      Sie schaut mich eindringlich an, nickt kaum sichtbar und erklärt mit dünner Stimme:

      „Ja bitte, sagen Sie.“

      „Höchstwahrscheinlich hat er sich fallen lassen. Freiwillig. Es war keine andere Person in der Wohnung, niemand hat ihn herabgestoßen. Er muss ziemlich viel getrunken haben, vorher, vielleicht Whisky. Die Polizei hat keine Schlüssel und keinen Ausweis bei ihm gefunden. Die mussten erst die Nachbarn befragen, um herauszufinden, wer er war und aus welcher Wohnung er kam.“

      „Oh Gott, nein.“

      Wieder kriechen ihr Tränen über die Wangen.

      „Und jetzt? Vorbei? Einfach vorbei. Es geht nicht mehr weiter.“

      Sie blickt leer vor sich hin, wischt den Ärmel durchs Gesicht.

      „Was geht nicht mehr weiter, Janina?“

      „Wie, was? Ach so, ist doch egal jetzt.“

      Was geht den Kerl da neben mir mein Leben an?

      Für sie bin ich fremd und uralt.

      „Du mochtest Herrn Marx, richtig?“

      Sie presst die Lippen zusammen, nickt sehr langsam, blinzelt mit ihren schwarzen und goldbraunen Augen in meine Richtung.

      „Warum hat er mir nichts gesagt? Warum hat er ... einfach so ... weg?!

      Ich brauche ihn doch, gerade jetzt, nach der langen Zeit.“

      Oh, oh! Da steckt mehr dahinter als der überraschende Verlust eines Lehrers. Lass sie nicht gehen, Berkamp, bring sie zum Reden.

      „Hat er dir Nachhilfe gegeben?“

      „Wie? Ja, das auch.“

      Dranbleiben, möglichst ungenau und unaufdringlich.

      „Für dich war das sehr hilfreich, stimmt ’s?“

      „Klar, Mann. Er hat sich um mich gekümmert, richtig gekümmert. Hat die ... hat die Polizei nach mir gefragt?“

      „Die Polizei? Wieso sollte die nach dir fragen?“

      „Ich dachte nur. Weil, die waren doch in seiner Wohnung, oder?“

      „Ich weiß es nicht, Janina. Ich war nicht dabei. Ich habe meine Aussage gemacht, hier vor dem Haus. Später war die Kriminalpolizei da, hat aber nicht mit mir gesprochen. Ich glaube, die haben in der Wohnung nachgeschaut. Und das war es.“

      „Wie, das war es?“

      „Ich vermute, für die Polizei steht fest, dass es freiwillige Selbsttötung war. Kein Grund für weitere Ermittlungen.“

      Wir schauen uns an, länger als bisher. Tja, Mädchen, was gibt es da noch zu sagen? Oder zu fragen?

      „Sag mal, Janina, hast Du zufällig einen Schlüssel für seine Wohnung?“

      „Nee, leider noch nicht. Er war ja bloß Mieter. Die Frau, der die Wohnung gehört, die ist ziemlich lahm. Die braucht ewig, bis sie den Extraschlüssel bestellt. Weil, wegen dem Sicherheitsschloss, da kann man den Schlüssel nicht einfach nachmachen lassen.“

      „Also, Herr Marx wollte dir einen Schlüssel geben?“

      „Hm, hm, ja.“

      „Sind von dir Sachen in seiner Wohnung?“

      Sie zögert, errötet und schaut zu Boden.

      „Meine Lernsachen. Und mein Radio, so ein kleines gelbes Radio. Hab ich mal vergessen da.“

      „Hat Herr Marx Angehörige? Eltern, einen Bruder, eine Schwester?“

      „Keine Ahnung, nöh, glaub nicht, weiß ich nicht. Er wohnt ja erst seit zwei Jahren hier. Hab nicht gefragt.“

      „Weißt Du, wo er vorher gewohnt hat?“

      „In Weimar, das ist in Thüringen, grenzt glaube ich an Hessen.“

      Für einen winzigen Augenblick hellt sich Janinas Miene auf.

      „Er wollte mal mit mir da hinfahren. Auch so ein Versprechen, was keiner hält.“

      „Also hat er ein Auto.“

      „Ne, hat er nicht. Der fährt immer Fahrrad, lebt total öko. Wenn er will, mietet er ein Auto. Ist billiger und ganz praktisch, meint er.“

      „Er war Lehrer, sagst Du? Hat er hier in der Gegend gearbeitet? Wo, an welcher Schule?

      „IGS in Stierstadt.“

      „IGS?“

      „Integrierte Gesamtschule. Gesellschaftskunde, Sport und Deutsch und nachmittags Werken und Kunst.“

      „Da hast Du ihn kennen gelernt?“

      Janina nickt stumm.

      Ein paar Kleinigkeiten, die sie mir beiläufig mitteilt, passen zu Monas Eindruck. Marx und dieses Mädchen waren sehr vertraut miteinander. Dennoch scheue ich davor zurück, das Verhältnis der beiden zueinander anzusprechen.

      „Weißt Du, die Polizei überlegt, wen sie vom Tod benachrichtigen muss. Und wer sich um die Bestattung kümmert. Darf ich denen sagen, dass Herr Marx Lehrer in Stierstadt war, an dieser IGS?“

      Janina springt auf.

      „Ich muss weg. Nachhause.“

      „Augenblick. Also, darf ich denen das sagen?“

      „Das machen Sie doch sowieso.“

      Ich zögere, bleibe unentschlossen sitzen, möchte gern mehr von ihr und über sie erfahren. Sie fasst den Lenker ihres Fahrrads, überlegt, dreht sie wieder mir zu.

      „Bitte, sagen Sie nichts von mir, bitte. Das geht die nichts an. Das geht überhaupt keinen was an.“

      „Warte doch mal, Mädchen, Janina. Ich heiße Robert Berkamp und wohne im vierten Stock, unter der Wohnung von Herrn Marx. Wenn Du noch Fragen hast oder reden willst ... komm vorbei, klingele einfach, viertes Stockwerk. Okay?“

      Aber Janina hat ihr Fahrrad bereits umgedreht. Sie verzieht das Gesicht zu einem flüchtigen Wer-weiß-Blick, nimmt Schwung und radelt los. Ich stehe erst auf, als sie um die Wegbiegung hinter den Büschen verschwunden ist.

      Mittwoch, 17. Juli

      Mona ist vorgestern nach Giessen gefahren. Um besser über den Studienbeginn entscheiden zu können, ein Gefühl für die Stadt zu bekommen und Wohnmöglichkeiten zu erkunden.

      Die Nahtod-Erfahrung nach dem Angriff der „Rache-Hexe“ hat Monas Vorstellungen vom Sinn ihres Lebens tiefgreifend verändert. Aus dem bisherigen Beruf als auskömmlich verdienende Labortechnikerin in einem großen Pharmabetrieb in Frankfurt-Fechenheim hat sie sich verabschiedet. Fest entschlossen, ein Studium in forensicher Psychologie und Kriminologie zu beginnen.

      Allerdings schwankt sie noch, mit welchem Fach sie einsteigt. Denn damit ist eine Entscheidung über den Wohnort verbunden. Die Frankfurter Uni glänzt mit dem besseren Angebot in Psychologie. Für Gießen spricht deren guter Ruf im Fach Kriminologie. Insgeheim