Sie finden den Ausgang durch die Bürotür sicher ohne meine Hilfe.«
Winfrieds Füße führten ihn in den Aufenthaltsraum. Eine Pause und einen Schluck Kaffee hatte er sich jetzt redlich verdient. Dort verweilte auch sein Chef und dessen korpulente Zimmernachbarin, Frau Maier, die wie üblich einen ihrer Monologe hielt: »Der gesamte Vorstand war letztes Wochenende beim Führungskräfte-Coaching. Eine ausgezeichnete Erfahrung, wir haben viel über uns gelernt. Man denkt erst: das ist doch ziemlich albern, alle in Badeanzügen und malen sich gegenseitig mit Fingerfarben an. Aber was man an Menschenkenntnis gewinnen kann, ist wirklich beeindruckend!«
»Das ist sicherlich …«, setzte Winfried zu einem Kommentar an und dachte: das hat meinem Chef sicherlich gefallen. Frau Maier führte den angefangenen Satz zu Ende: »eine wunderbare Stärkung der Sozialkompetenz!« Sein Chef warf ihm einen Blick zu, als wollte er ihn töten.
Um sich der Situation zu entziehen, schlich sich Winfried zum Automaten und drückte die Tasten für Kaffee mit Milch und Zucker. Die automatische Pumpe spülte heißen Kaffee in das Ausgabefach. Danach - Plopp - erschien der Becher.
*
Am nächsten Tag saß Winfried konzentriert vor seinem Bildschirm. In komplizierte Berechnungen vertieft, richtete sich sein starrer Blick auf die im Stakkato wechselnden Zahlen. Unsanft wurde er aus den Gedanken gerissen. »Herr Kunze!«, bellte jemand.
Er zuckte zusammen und wandte seinen Drehstuhl zur störenden Lärmquelle. Dort stand sein Chef mit zwei schlaksigen jungen Männern. Einem Südländer, gekleidet in einen frisch gebügelten Nadelstreifenanzug, mit einer schmalen Bartlinie um seine Lippen – so, als würde dort Schokolade vom letzten Osterfest kleben. Der Andere war betont lässig gekleidet. Sein Haupt krönte eine umgekehrt aufgesetzte Baseballkappe und sein beschränkt wirkender Gesichtsausdruck wurde untermalt durch starken Überbiss und reichlich Akne.
»Ja, Herr Silowski?«
»Herr Kunze! Ich habe Sie ja gestern darauf vorbereitet, dass wir Besuch bekommen werden. Von diesen vielversprechenden jungen Männern, die sich als Werkstudenten bei uns beworben haben. Bitte führen Sie die beiden Herren wie besprochen durch unseren Betrieb und erklären ihnen, wie das Ganze hier läuft, was wir für einen Job machen.«
Winfried fiel aus allen Wolken. Nichts war abgesprochen, Chef! Du hast mal wieder deinem Vorgesetzten versprochen: Klar, mach ich. Und weil anstelle junger, hübscher Studentinnen diese Typen aufgetaucht sind, drehst du den Job mir an. Er zögerte einen Moment und überlegte, wie er angemessen reagieren sollte und sagte schließlich: »Ich kann mich nicht an eine Absprache erinnern …«
»Kein Wort mehr!«, schnitt der Chef ihm das Wort ab. An die zwei Studenten gewandt, sagte er: »Herr Kunze erklärt Ihnen alles ganz ausführlich. Er nimmt Sie später zum Mittagessen in die Kantine mit. Ich habe einen wichtigen Termin und muss fort. Adieu, viel Spaß!«, verabschiedete er sich und eilte davon.
Eine Weile blickten sich die zwei Besucher und Winfried ratlos an, bis er sich einen Ruck gab. »Gut, fangen wir an. Dies ist mein Bildschirm und damit analysiere ich Zahlen und Charts.«
Die Gäste warfen einen kurzen Blick darauf und murmelten gelangweilt: »Schön!« »Das ist ja interessant!«
»Mir gegenüber, auf diesem Stuhl, würde Waldemar sitzen. Er ist unser Statistiker«, sagte Winfried mit einem Blick zum benachbarten Arbeitsplatz. »Wenn sich irgendwo eine Wirtschaftskrise anbahnt, weiß er es zuerst.«
Ein Schild über dessen Schreibtisch verkündete einen Spruch aus der Bibel: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, so sprecht: »Wir sind unnütze Sklaven, wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.« Lukas Kapitel 17, Vers 10. Es lagen unzählige Zettel herum, wild verstreut.
»Der ist wohl sehr fleißig!«, kommentierte der südländische Besucher mit einem Blick auf das Chaos. Winfried stimmte kurz zu und verkniff sich, zu erläutern, dass dessen Fleiß primär künstlerischer Natur war und das Papier ausschließlich für Origami-Basteleien verwendet wurde.
Sie wanderten ein paar Schritte weiter. Am nächsten Arbeitsplatz saß ein vollschlanker Herr mit Brille und dicken Gläsern, den Winfried begrüßte: »Hallo Burkhart!«, und den Besuchern erklärte: »Dies ist Herr König. Er vermarktet unsere Wertpapiere.«
Einen Moment später blieben sie bei einem Herrn mit hoher Stirn und noch größerem Körperumfang stehen. »Mahlzeit, Rainer!«, sprach er ihn an und sagte zu den Studenten: »Das ist Herr Dietrich. Er verfolgt Nachrichten und bewertet sie. Jederzeit ist er über das gesamte Weltgeschehen informiert und immer auf dem aktuellsten Stand.«
Beim Weitergehen konnte Winfried einen Kommentar nicht verkneifen: »Jetzt habt ihr gesehen, wie ihr vielleicht aussehen werdet, wenn ihr mehr als zwanzig Jahre diesen Job macht.«
Erneut stoppten sie. »Hallo Richard!«, sprach er den nächsten Kollegen an und stellte dessen Tätigkeit vor: »Das ist Herr Mühlstein. Er gestaltet das Design für unsere Zertifikate.«
Der schlaksige Junge mit der Baseballkappe schaute forsch zu Winfried: »Dürfte ich eine Frage stellen, Herr Kunze?«
»Nur zu!«
»Wieviel verdienen sie?«
»Zwanzigtausend im Jahr Festgehalt. Dazu kommt ein Erfolgshonorar. Der Hauptanteil unseres Gehaltes sind Prämien.«
»Könnten Sie mir eine Aufstellung Ihres Vermögens zusenden?«
»Wieso das denn?«
»Ich mache eine Ausbildung zum Vermögensberater, Herr Kunze. Detailliert kann ich analysieren, ob Ihr Vermögen gut angelegt ist. Ich würde Sie gerne bei Ihrer Zukunftssicherung beraten und kann Ihnen helfen, eine Menge Steuern zu sparen!«
»Bei Vermögensanlagen kenne ich mich selbst bestens aus«, entgegnete Winfried alarmiert, »außerdem gebe ich private Informationen ungern in fremde Hände. Speziell, was meine Finanzen angeht.«
Der junge Mann reichte ihm eine Visitenkarte: »Wir beide arbeiten für ›Boppermann Financial Consulting‹, einem führenden Finanzdienstleister. Sie haben sicher von uns gehört. Und Sie haben nun die einmalige Chance, eine Top-Beratung von einem Top-Spezialisten zu bekommen! Unser Motto: Wir beraten …« »…auch Kastraten«, beendete sein gestylter Begleiter den Satz, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Moment!« Richard drehte sich mit seinem Bürostuhl um. »Was für Typen hast du reingeschleust, Winfried?« Er wurde laut und brüllte: »Du kannst doch nicht einfach Leute von der Konkurrenz mitbringen und zeigen, wie wir hier arbeiten!«
Später saß Winfried nach vielen erfolglosen Versuchen, die beiden Besucher abzuwimmeln, in der Kantine und musste für sie mitbezahlen. Denn sie sahen sich nun als seine Gäste. Wenig später erschienen auch seine Kollegen. Richard zeigte zu ihrem Tisch und murmelte etwas, worauf die Anderen ein entsetztes Gesicht zogen, die Köpfe schüttelten und stumm am Tisch vorbeiliefen.
Die kommenden Tage wurde Winfried gemieden und saß in der Kantine alleine, bis Waldemar - der lange auf einem Einzelplatz bestanden hatte und sich immer weigerte, den Tisch mit Kollegen zu teilen - sich mit den Worten: »Wir Randgruppen müssen zusammenhalten« zu ihm setzte.
*
Ein Wochenende war überstanden und am Montagmorgen wurde er von seinem Chef ins Büro gebeten. »Herr Kunze, mir wurde zugetragen, Sie würden Firmengeheimnisse verraten?«
»Ich? Auf keinen Fall! Es waren Ihre Werkstudenten!«
»Es ist ihre Angelegenheit, wenn Sie Gäste herumführen. Es gelten bei uns strenge Vorschriften. Zuallererst müssen sie die Besucher genau prüfen und ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen.«
»Aber … es waren doch ihre Gäste!«
»Werden Sie nicht frech. Das war Ihr Job, also hätten Sie vorab Informationen einholen müssen, wer die Besucher sind!«
Winfried begann zu zittern. Vor Aggression. Sein Chef bildete sich ein, es wäre die Angst vor der Macht des Vorgesetzten. Er