Stimmlage und verdrehte die Augen so, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Seine Glupschaugen traten noch weiter hervor und Winfried wurde schlecht bei dem Gedanken, sie könnten augenblicklich herausfallen. »Meine Vision: Langsam rücken Kampfroboter im Zeichen des gelben M gegen die letzte Filiale des Bürgerkönigs vor und gehen in Stellung. Donald gibt den Angriffsbefehl, endlose Salven werden auf den Gegner abgefeuert – ratata, ratatata! In einem anderen Vorstadtviertel stellen derweil die Krieger der vier Streifen den Sportschuh-tragenden Legionären des weißen Hakens eine Falle …« Gernot setzte seine Rede nun mit normaler Stimme fort und rieb sich die Augen. »Und so weiter. Es wird einen Krieg um die Marken geben. Diese Zeiten werden wir wahrscheinlich nicht mehr erleben, am Ende wird es jedoch nur noch einen einzigen Franchise-Konzern geben.«
»Da muss man wohl hoffen, dass dieses Glück die Firma trifft, bei der du angestellt bist.«
»Das hast du nett gesagt, Winfried!« Gernot bedankte sich und stand auf. »Es war schön, wieder mit dir zu diskutieren. Jetzt muss ich mich sputen. Meine Ex-Freundin hat sich heute überraschend gemeldet und mir meinen unehelichen Sohn aufgedrängt. Den muss ich gleich abholen und in die Abenteuer-City fahren. Übrigens, da hätte ich etwas: ein Erfolgs-Seminar heute Abend. Ich hatte mir eine Karte besorgt, bei mir klappt es ja leider nicht. Aber du hast doch Zeit. Du erfährst, wie du mehr aus dir oder aus deiner Karriere herausholen kannst. Einen Flyer habe ich auch dabei, den lasse ich dir mit der Eintrittskarte hier. Adieu und bis zum nächsten Mal.«
»Adieu, Danke. Erfolgs-Seminar hört sich gut an.«
Eine Weile saß Winfried noch im Café und beobachtete eine Gruppe von vier Jugendlichen, die einen kleinen Jungen in den Schwitzkasten nahmen und brüllten: »Du ziehst sofort deine Schuhe aus, du Hurensohn! Mit den Dingern in unserem Viertel herumlaufen, das geht gar nicht!«
Auf einen Blick erkannte er, worum es bei dem Streit ging: die vier Großen hatten Turnschuhe mit einem weißen Haken, der Kleine trug Schuhe mit vier Streifen. Und er dachte: Der Krieg um die Marken hat begonnen.
60 Euro kostete die Show regulär, ein Plakat am Eingang verkündete in großen Buchstaben wortwörtlich: »Rick Money's Erfolg's-Seminar«, darunter prangte ein roter Schriftzug: »Mit Rick's Geheimtipps, dem Erfolgreichsten aller Erfolgreichen, werden sie Glück Ihres eigenen Schmied's!«
Hmm, dachte Winfried, Rechtschreibung wie ein Hauptschüler. Erfolgreich ist er dennoch. Vielleicht kann ich tatsächlich etwas lernen.
Längst hatten alle in der Stadthalle ihren Platz eingenommen. Der Vortrag hätte schon vor einer halben Stunde beginnen sollen, dennoch warteten die Zuschauer auf ihren teuren Sitzplätzen geduldig und starrten auf die Bühne. Das Licht flackerte. Auf einmal herrschte Totenstille, unterbrochen nur durch vereinzeltes Hüsteln. Die Beleuchtung wurde gedimmt, bis der Saal in vollkommene Dunkelheit gehüllt war. Trommelwirbel setzte ein. Anfangs als leises Geräusch im Hintergrund, wurde es lauter. Ein Schatten huschte über die Bühne, vereinzelte Funken sprühten, verwandelten sich in gleißendes Feuerwerk, es folgte ein greller Blitz und die Zuschauer wurden einen Sekundenbruchteil geblendet. Martialische Fanfaren erschollen, die Bühne wurde mit Licht geflutet und es erschien …
Ein Gnom! – dachte Winfried.
Rick Money, bekannter Erfolgsprediger, Arnulf Seidler mit bürgerlichem Namen, stand auf der erleuchteten Bühne. Stolz und mit hoch erhobenem Haupt ließ er seinen Blick über das Publikum schweifen. Die Ähnlichkeit mit einem Gnom fiel jedem sofort ins Auge. Oder seine Erscheinung wäre - da nicht eindeutig definiert ist, wie ein Gnom aussieht - eine gute Vorlage für einen Gnom.
Zurück zur Show: seine von Natur aus unvorteilhafte Erscheinung machte der leicht untersetzte, mit kahl rasiertem Haupt und abstehenden Ohren gesegnete Mann mehr als wett durch seinen perfekt sitzenden Anzug und dem wie in Stein gemeißelten glückseligen Gesichtsausdruck.
Rick hüpfte auf der Bühne hin und her, legte ein Headset an und begrüßte seine Zuschauer. »Ich kann es mit Worten kaum ausdrücken, wie ich mich über euch freue! Es ist einfach wundervoll, dass ihr alle gekommen seid. Mit meiner Show bin ich durch die große weite Welt gereist, war in New York, Paris, London. Und letzte Woche in Stuttgart. Wisst ihr, in welcher Stadt ich am liebsten bin? Wo es das beste Publikum der Welt gibt?« Nach einer effektvollen Kunstpause, in der sein Blick über die Zuschauer schweifte, beantwortete er die Frage selbst:
»In Frankfurt!«
Die Zuschauer applaudierten, einige riefen stolz: »Unsere Stadt!«
Ein perfekt gestylter Mann mit weißem Hemd und Sakko neben Winfried flüsterte: »Das ist witzig! Ich war bei der Show in Stuttgart. Rate mal, wo dort das beste Publikum der Welt sitzt? Natürlich in …«
»Pssst!«, zischte eine Dame in der Reihe hinter ihnen.
Rick weihte nun das Publikum in eines seiner Erfolgsgeheimnisse ein: »Ihr müsst euch einfach gut verkaufen! Ihr seid besser als all die anderen! Denkt immer an euren Erfolg und kämpft nur für euch. Schaut mich an: ich habe es geschafft! Sagt zu euch selbst: ich bin der Beste! Aber warum erzähle ich euch das und behalte dieses Wissen nicht einfach für mich?« Fragend richtete er seinen Blick unscharf in die hinterste Reihe: »Ja! Genau dich meine ich! Warum musst du der Beste sein?«
»Das werde ich erklären«, rief er laut: »Denn: was ist das Wichtigste im Leben? Familie, Freunde, Gesundheit?« Enthusiastisch hüpfte er auf und ab, warf dem Publikum eine Frage nach der anderen zu: »Eine Familie, auf die man sich in der Not verlassen kann? – Freunde, die zu einem stehen? – Gesundheit, auf die man sich nicht immer verlassen kann? Eine Familie kann ohne Geld nicht existieren. Geld kann aber ohne Familie existieren. Freunde? – die wollen wohl kaum befreundet sein mit jemandem, der pleite ist! Denn wer Geld hat, ist auf Freunde nicht angewiesen, kann sich aber seine Freunde aussuchen. Trifft man sich mit vielen nicht nur aus Höflichkeit, aus Mitleid? Scheut man sich nicht davor, zu selektieren und die Unbrauchbaren auszusortieren? Warum muss man sich ständig das ewige Gejammer, bei dem es meistens ums Geld geht, anhören?«
Im Publikum war aufgeregtes Gemurmel zu hören. Ein empfindlicher Nerv war getroffen.
»Ist nicht das Wichtigste im Leben: gesund zu bleiben? Was ist, wenn man krank wird und Geld braucht, um sich ein neues Organ zu kaufen?« Rick ließ sich in einer theatralischen Geste mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Boden fallen, hysterisches Geschrei aus dem Publikum folgte. Er sprang wieder auf, wandte sich mit eindringlichem Blick ans Publikum und flüsterte: »Also, was ist das Wichtigste im Leben?«
Einige Zuhörer standen begeistert auf und riefen: »Geld, Geld, Geld!«
»Wegen der Show bin ich gar nicht hier«, flüsterte der gestylte Mann neben Winfried, »ich suche nur nach einer Affäre. Alle Frauen, die in so ein Seminar gehen, sind leicht zu haben. Die kann ich leicht um den Finger wickeln, wenn ich von meinem Porsche erzähle, der Villa, meinem Pool und der Finca auf Mallorca. Sofort hängen sie an mir dran. Wollen alles sehen: dann Sorry, mein Porsche ist gerade in der Werkstatt, die Villa wird gerade umgebaut – deswegen muss ich momentan leider im Hotel übernachten. Nach einer Nacht, Ciao! Pech gehabt, aus der Traum und zerplatzt wie eine Seifenblase. Ein Riesenspaß, sage ich dir! Die Frauen sind alle willig, wenn man auf supererfolgreich macht. Schade, dass solche Erfolgsseminare so selten stattfinden. Das kostet mich als Hartz-4-Empfänger keinen Cent. Den Eintritt übernimmt die Arbeitsagentur als Qualifizierungsmaßnahme.«
So ein Schwätzer! - murmelte Winfried lautlos. Gleichzeitig meldete sich sein Magen mit heftigem Sodbrennen. Meine Nerven …
»Wem könnt ihr trauen?« Rick tanzte auf der Bühne und warf weitere Fragen in die Runde: »Freunden vielleicht? Die könnten schon am nächsten Tag ihre Masken ablegen und mit eurem Geld abhauen. Oder Geschwistern? Wenn's ums Erbe geht, zählt Verwandtschaft nichts. Ganz sicher doch: den Eltern? Im Alter haben die doch ihre eigenen Sorgen. Der Ehepartnerin?« Er stutzte. »Ich wollte niemanden diskriminieren, deswegen gilt das auch für den Ehepartner.« Nach kurzem Gelächter in den Zuschauerrängen fuhr er fort: »Auch der kann sich unerwartet mit eurem Geld aus dem Staub machen« Er grinste breit über das ganze Gesicht.
Eine Weile behielt er diesen Gesichtsausdruck bei. Einen