Werner Karl

Druide der Spiegelkrieger


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Körpers, das immer noch am Boden lag, genau unter ihm. Seine Füße standen in zwei weiteren Füßen, die ebenfalls ihm gehörten. Mit Verwunderung und Grimm verfolgte er, wie sich eine zweite Gestalt aus der am Boden liegenden erhob, dann eine weitere und noch eine und noch eine.

      Alle, die sich um ihn scharten, waren ein Spiegelbild seiner selbst, so identisch, dass sogar die blauen Linien und Runen auf der Haut sich bis ins letzte Detail ein wenig blass im kargen Mondlicht abzeichneten. Mit Neugier betrachtete er den Rücken eines Doppelgängers und erfreute sich an einem kunstvollen Ornament, das er selbst noch nie gesehen hatte.

      Plötzlich lachte er wild auf und hielt einem seiner Duplikate spontan die Rechte hin. Dieses war noch verwirrt und zögerte einen Moment, dann ergriff es die Hand und drückte zu. Der wiedererwachte Krieger lächelte, als er die perfekte Ausgewogenheit ihrer beider Kräfte in dem Handschlag fühlte und ihre Anerkennung besiegelte.

      Rings um sie geschah es so bei allen Gefallenen, die nun diese Bezeichnung nicht mehr verdienten. Hunderte erhoben sich, wo vorher Dutzende gestorben waren. Mehr als eintausend Krieger verließen die Wallstatt des Todes und wandten sich alle in eine Richtung. Ein unsichtbares Band schien sie alle zu umfassen und noch Norden zu ziehen. Die letzten und besonders wagemutigen Aasfresser sträubten die Federn, als sich ihr verlorenes Festmahl in losen Gruppen auf den Weg machte und durch die Nacht marschierte.

      Kapitel IV

      Kreuz und Pfahl

      A. D. 167, Mai

      Túan duckte sich blitzschnell und glitt mit leisem Rascheln in ein dichtes Gebüsch hinein. Er dankte Avnova dafür, dass die Büsche reichlich – und vor allem bunte – Blätter trugen und es noch viele Tage dauern würde, bis diese herabfielen. Er hatte diese hervorragende Deckung bitter nötig, denn etwa hundert Schritte vor ihm bewegte sich ein großer Trupp Römer durch den Wald.

      Er verhielt sich völlig still, als die - völlig ungewohnt hintereinander marschierenden Soldaten einem schmalen Tierwechsel folgten. An ihrer Spitze ritt ein einzelner Offizier, ein Centurio, wie Túan erkannte. Rasch zählte er die Legionäre, die in wenigen Augenblicken nur in Speerlänge an ihm vorbeiziehen würden, und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Manipel handeln musste. Er hatte diese römische Bezeichnung wie viele andere den hitzigen Debatten der Dorfältesten entnommen, sie aber erst später einer bestimmten Anzahl Soldaten zuordnen können. Dieser Manipel bestand aus rund 100 Mann und Túan wunderte sich, dass er so gut wie keine Verletzten entdecken konnte. Noch einmal zählte Túan die Soldaten und kam auf 121 Mann. Er wusste, dass die Römer ihre Gefallenen nach der Schlacht ehrenvoll verbrannten und deren Asche in speziellen Urnen nach Hause brachten. Hier sah er aber niemanden solche Urnen mit sich tragen.

       Sie haben nicht einen Gefallenen zu beklagen.

      Sein Herz stockte für einen Moment, als er darüber nachdachte, was dies wahrscheinlich – nein, ziemlich sicher – bedeutete. Es war ihm völlig klar, dass diese Einheit für die Rauchsäulen über seinem Dorf verantwortlich sein musste, und Angst und Wut kämpften augenblicklich um die Vorherrschaft in seiner Brust und in seinem Herzen.

      Er ließ sich noch ein wenig niedriger in das Blattwerk des Busches einsinken, als der Reiter nur noch wenige Pferdelängen von ihm entfernt war.

      Túan musterte den Mann genau. Er war noch jung, nicht älter als zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Also gerade einmal acht oder neun Jahre älter als Túan. Auch er war so gut wie unverletzt, nur wenige Kratzer zeigten sich auf der Haut. Staub und Asche vermischt mit Schweiß überzogen Körper und Kleidung. Der Gesichtsausdruck des Centurio drückte … Genugtuung aus. Und eine grimmige Entschlossenheit, das hinter ihm Liegende immer wieder zu tun, wenn es seine Vorgesetzten von ihm verlangen würden.

      Túans Blick war anscheinend so intensiv, dass der Mann im Sattel plötzlich genau in seine Richtung sah.

      Túan wagte nicht einmal mehr zu atmen, und zwar aus doppeltem Grund. Túan hatte einen wachen Verstand, doch einen gewissen Anteil an abergläubischer Furcht konnte auch er nicht von sich weisen. Einige der ältesten Frauen im Dorf erzählten immer wieder Geschichten vom Bösen Blick, den manche zu besitzen für sich in Anspruch nahmen.

      Auch wenn Túan bemüht war, seine Augen abzuwenden, konnte er nicht vermeiden, dass sie an einem Merkmal des Römers förmlich hängen blieben. Ein Muttermal auf der Stirn hatte Túan fälschlicherweise zunächst für einen Dreckfleck gehalten. Der Reiter war ihm aber mittlerweile so nah gekommen, dass Túan befürchtete, dieser könnte sein wild schlagendes Herz hören. Nun war das Gesicht des Mannes unmittelbar vor seinem Versteck, sodass er es deutlich sehen konnte. Das Muttermal saß genau in der Mitte der Stirn und hatte beinahe die Form eines Auges. Die braune Stelle hatte sogar eine Pupille, geformt aus einer haarigen Erhebung, wie Túan es schon bei manchem Hautmal gesehen hatte. Der Eindruck eines dritten Auges ließ den Jungen erneut an die Schauergeschichten der alten Weiber denken. Beinahe hätte er sich bewegt, um seine eigenen Augen zu bedecken, was nach Meinung der Frauen die einzige Methode sei, dem Bösen Blick zu entgehen und dessen Eintauchen in die eigene Seele zu verhindern.

      Nur mit Mühe konnte Túan endgültig seinen Blick abwenden und auch der Römer sah wieder auf den Weg vor sich.

      Der gesamte Manipel zog an Túan vorbei, ohne ihn zu entdecken. Weder die Soldaten noch Túan selbst ahnten, dass einige von ihnen in der Zukunft wieder auf ihn treffen würden.

      Túans Lunge gab leichte Pfeiftöne von sich, als er den Rand seines Dorfes im vollen Lauf erreichte. Er war die Strecke bis hierher in einem gewaltigen Tempo gerannt, ohne Rast, ohne Blick zurück. Je näher er kam, desto stärker wurde der beißende Geruch verbrannten Fleisches, desto dichter hoben sich grauschwarze Rauchwolken vor seinen mit Angst erfüllten Augen gen Himmel und sein Herz schien zehnmal so stark zu pochen wie normal. Mit aller Gewalt unterdrückte er die Gedanken, die ihm erbarmungslos zubrüllten, was hier auf ihn wartete. Sein Unterbewusstsein hatte längst erkannt, was sich vor seinen Blicken noch gnädig verbarg.

      Als die Erkenntnis dieses Umstandes doch an die Oberfläche seines mit Panik erfüllten Verstandes drang, hielt er abrupt im Lauf inne, sodass er beinahe gestürzt wäre. Vielleicht versagte ihm sein Gehirn den Zutritt zum Dorf, um ihn vor dem Anblick zu verschonen.

      Doch all seine Befürchtungen und schrecklichen Erwartungen wurden übertroffen von dem, was sich nun mit aller Brutalität aus den schon abnehmenden Feuern und dem dünner werdenden Qualm herausschälte.

      Das ganze Dorf war niedergebrannt. Keine Hütte, kein Wagen, kein menschliches Werk war unversehrt. Jegliches Vieh war sinnlos abgeschlachtet worden, anstatt es wenigstens mitzunehmen. Doch all dies war nichts gegen die Pfähle und Kreuze, die in dichtem Abstand im gesamten Dorf verteilt waren. Hoch stand so ein Pfahl, schwarz angesengt, und an seinem oberen Ende geschmückt mit einem Leichnam, durch dessen blutige Brust die Spitze des Pfahles ragte oder dessen Glieder von fingerdicken Eisen durchbohrt ihn an ein Kreuz nagelten. Jeder Pfahl trug einen Menschen, den er nur zu gut kannte, mit dem er gelebt, gesprochen, gespielt hatte. Túans Herz verkrampfte sich in der Erwartung, seine Eltern und seinen Bruder auf diese fürchterliche Art platziert an den Stämmen gemartert vorzufinden. Die gleichen Stämme, die einmal einen Pferch für die Rinder gebildet hatten.

      Mit einem Mal vernahm er keinen Laut mehr, kein Knistern verlöschender Feuer, kein Brutzeln brennenden Fleisches, keinen Wind mehr, nichts, gar nichts. Wieder schien sein Gehirn ihn in Schutz nehmen zu wollen, doch seine Nase nahm trotzdem die ekligen Gerüche wahr, die von allen Seiten auf sie einströmten.

      In seiner inneren Stille zerbrach etwas in ihm, das bisher sein Leben erfüllt hatte. Der glückliche Junge war mit einem Schlag verschwunden und eine neue Identität enthüllte ihre ersten Schatten.

      Túan lief wie ein Schlafwandler durch das, was einmal ein lebendiges Dorf gewesen war, mit lachenden Kindern, von denen – den Göttern sei Dank – kein einziges die Pfähle zierte oder tot am Boden lag. Ein Dorf mit jungen und alten Männern und Frauen, die ihrer Arbeit nachgingen und sich Scherze zuriefen.

      Túan blieb stehen und benötigte mehrere Minuten,