Werner Karl

Druide der Spiegelkrieger


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zu richten. Mit trockenen, vom Rauch geröteten Augen sah er von Pfahl zu Pfahl und versuchte, die Geschändeten zu identifizieren. Erst nach einer ganzen Weile fiel ihm auf, dass es sich fast ausschließlich um Krieger handelte, mit mehreren Wunden, abgeschlagenen Extremitäten, manch einer ohne Kopf. Doch alle erkannte er an ihrem Haarschmuck oder den Zeichnungen, welche allesamt trugen.

      Zu seinem Entsetzen gesellte sich nun unbändige Wut. Sie verdrängte seine Angst und sein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Gedanken rasten und lieferten ihm alle möglichen Erklärungen, wo der Rest seines Stammes geblieben war. Sicher war jedes Kind, das noch nicht das Jünglingsalter erreicht hatte, gefangen genommen worden, genau wie jede hübsche oder arbeitsfähige Frau. Sie würden den Römern als Sklaven dienen, ohne jede Chance, diese Grausamkeit jemals zu sühnen. Die Männer jedoch, ob Bauer, Händler oder Handwerker, würden auf die Galeeren geschickt werden. Oder in die Erzminen oder wo auch immer sie den Römern bis zum nahen Tod dienen konnten. Die Krieger hingegen, die das Pech gehabt hatten zu überleben, würden in den Arenen und Kampftheatern in Rom und anderswo im Imperium um ihr Leben kämpfen müssen. Gegen besser Bewaffnete, stärkere und erfahrene Gladiatoren, gegen blutrünstige, aufgestachelte wilde Tiere. Nur die Wenigsten würden dies lange überleben. Selten fand sich einer, der mehr als einen Kampf in so einem Blutpfuhl überstand.

      Wenn er in ferner Zukunft seine Freiheit wiedererlangen könnte, was würde er tun? Würde er sich bemühen, längst Verstorbene, an die sich niemand mehr erinnerte, zu rächen? Konnte er die Legionäre und Schlächter beim Namen nennen, könnte er sie herausfordern? Womöglich zum Zweikampf zwingen?

      Plötzlich fiel ihm der Centurio ein. Dessen auffälliges Mal würde es ihm, Túan, ermöglichen, diesen Mann und seine Einheit irgendwann in der Zukunft zu identifizieren. Das Gesicht mit dem dritten Auge brachte ihn dazu, vorwärts zu taumeln. Seine Beine mussten sich jetzt bewegen. Wenn er schon keine Chance hatte, dem Manipel nachzueilen, die Soldaten anzugreifen und sie für ihre Taten noch heute büßen zu lassen, dann musste er sich jetzt wenigstens bewegen. Wie ein Trunkener taumelte Túan durch das schwelende und brennende Dorf. Er nahm all die Bilder der Verwüstung wie durch einen blutroten Schleier wahr. Er fand nicht eine Hütte, die noch intakt war, kein einziges Vieh, das noch lebte, nur Vernichtung und Kadaver. Er stürzte zu Boden, rappelte sich auf, torkelte durch kleine Flammen, die ihm die Beinhaare versengten, aber er spürte nichts davon.

      Bis ihn sein Zickzackkurs an die Kante des kleinen Berges brachte, an dem sein Dorf lag, und über die Abfall und manchmal zum Tode Verurteilte gestürzt wurden. Sein Schritt verlangsamte sich, auch deswegen, weil hier keine Tierkadaver mehr lagen und das freie Gelände noch den Anschein von Normalität erweckte.

      Wäre da nicht von einem Moment zum anderen eine dumpfe Ahnung in ihm erwacht, dass er besser keinen Blick über die Kante werfen sollte. Doch Túan war nicht der Mensch, der vor Ahnungen zurückschreckte. Mit kleinen Schritten ging er vorsichtig näher und sein Herz bereitete sich auf das vor, was hinter der Kante liegen mochte. Die Tränen in seinen Augen versiegten und legten den roten Schleier ab. Das Zittern seiner Glieder erstarb und er machte einen letzten Schritt.

      Für Sekunden rührte er sich keinen Millimeter. Seine geweiteten Augen nahmen das Bild in sich auf und wie zäher Schleim kroch die Information die Sehnerven entlang zum Gehirn. Dort verharrten die Eindrücke, als weigere sich sein Gehirn, das Bild aufzunehmen und in verwertbare Informationen umzuwandeln. Doch schlussendlich tat das Gehirn, was es tun musste.

      Dort unten lagen sie.

      All jene, die nicht gepfählt worden waren. Alte Männer und Frauen, Bauern, Handwerker, alles, was weder Krieger noch Kriegerin war. Und Frauen … mit ihren Kindern. Túan sah, dass man ihnen allen die Kehlen durchgeschnitten hatte; ausnahmslos.

      Túan stand lange dort und das Bild brannte sich in sein Gehirn, das es nun plötzlich aufsog, als wäre es erpicht, es nie wieder in seinem ganzen Leben zu vergessen. Jedes entsetzte Gesicht, jede klaffende Wunde und jeder einzelne Blutstropfen prägte sich ihm ein.

      Sie waren alle tot, niemand war entführt worden, keinem drohte lebenslange Sklaverei. Niemand aus seinem ganzen Clan war mehr am Leben.

      »Neeeiiiiiin!«

      Sein lang gezogener Schrei hallte laut durch die Klamm, in der die Leichen lagen. Túan mac Ruith, letzter Spross des Clans der Ruith, schüttelte den Kopf. Er rannte von der Kante weg zurück ins Dorfzentrum. Die Wut, die in ihm kochte, steigerte sich zu tiefem Hass auf die Römer, die es sich nicht hatten nehmen lassen, auch noch ihr Zeichen inmitten des vernichteten Dorfes aufzupflanzen.

      Der neue Túan, der in ihm wuchs, zeigte ein anderes Gesicht. Verloren waren die kindliche Unschuld, die Freude am Leben und der Natur. Es brodelte in ihm und mit jeder Sekunde formte sich ein neuer Mensch, der mit dem vorherigen nichts, aber auch gar nichts gemein hatte.

      Mit wenigen Schritten ging er zur Standarte und trat sie mit einem wuchtigen Tritt in den Staub, nur um sie sofort wieder aufzunehmen und mit einem wütenden Schrei in den nächsten noch brennenden Schutthaufen zu werfen. Die Funken stoben auf und das Feuer fand neue Nahrung am trockenen Schaft des Heereszeichens.

      Túan blieb so lange stehen, zitternd vor maßloser Wut, bis die Standarte völlig im Feuer vergangen war, dann hob er sein Haupt und blickte ohne Ziel über das Dorf.

      Genau in dieser Sekunde vollzog sich der Wandel vom Jungen zum Mann, auch wenn er an Größe, Kraft und Alter noch weit davon entfernt war. Seine Muskeln, seine Stärke noch nicht in der Lage waren, einem Feind mit der Vehemenz entgegenzutreten, die in seinem Geist bereits anwuchs, sich mit einem Feuer erfüllte, das heller und wilder loderte als alles, was um ihn herum züngelte. Die Bilder, die er hier sah, verschmolzen zu einer gefährlichen Glut, die sein Innerstes erfassten wie ein tief in der Erde fließender Lavastrom. Túan fühlte diese Macht in sich aufwallen, spürte jede Faser seines Körpers bis ins Kleinste hinein durchdrungen von diesem verheerenden Brand, der wie ein grummelnder Vulkan darauf wartete zu explodieren, alles niederzuwalzen, zu töten und zu vernichten.

      Seine Gedanken kehrten zu der ohnmächtigen Erkenntnis zurück, dass diese verbrannte Standarte für lange Zeit das Einzige sein würde, was er den Römern heimzuzahlen vermochte. Ein finsteres Funkeln trat in seine – endlich wieder von Tränen überströmten – Augen. Teils aus Trauer um seine Eltern, seinen Clan, seinen Stamm, teils aus Zorn für die Mörder. Zu dem Funkeln fügte sich ein freudloses Lächeln, die Mundwinkel grausam verzogen, halb die Zähne fletschend. Aus tiefer Brust bahnte sich ein Grollen, ein Brodeln seiner Stimme, wie ein langsam aus der Hölle kriechender Lindwurm hervor. Der helle Ton der Knabenstimme war verschwunden. Der kräftige Schrei, der sich über diesen Ort des Grauens erhob, war der eines Mannes. Ringsum stoben Vögel in Scharen davon. Rehe, Hasen und anderes Wild flohen ob der brachialen Wut in dem Schrei, der lang und mächtig durch die Bäume brach. In diesem Augenblick konnte er nichts anderes tun, als zu überleben. Noch konnte er seine Rache nicht vollziehen. Aber seine Zeit würde kommen.

      Für einige Augenblicke spielte er mit dem Gedanken, das Feuer im Dorf erneut anzufachen, um die Leichen zu verbrennen. Dann überlegte er, ob er sie alle begraben sollte. Er allein. Schließlich schüttelte er den Kopf und beschloss, die Spuren der römischen Freveltat nicht zu beseitigen. Jeder, der an diese Stätte kam, sollte sehen, was die Besatzer angerichtet hatten. Er bedauerte sogar, dass er die Standarte verbrannt hatte. Mit diesem letzten Gedanken drehte Túan sich um und schritt langsam zurück in den Wald.

      Túan hatte längst den Teil des Landes verlassen, den er auf seinen früheren Streifzügen erkundet hatte. Er irrte mehr oder weniger seit Wochen ziellos durch den Wald und seine anfängliche Verwirrtheit und der grenzenlose Schmerz in seiner Seele waren einem permanenten Brodeln ungestillten Zorns gewichen. Es fühlte sich an wie eine ruhig vor sich hin glimmende Schwelschicht eines niedergebrannten Feuers. Doch diese Glut würde nie mehr verlöschen. Er dachte nicht darüber nach, ob eben diese Glut, dieser Hass auf die Römer, irgendwann von selbst verschwinden würde. Aber eine Überzeugung empfand er dennoch, dass dieser Hass entweder ihn oder die Römer versengen würde. Ein Erwachsener hätte in Túans Situation längst über Rache und entsprechende Möglichkeiten nachgedacht. Aber Túan war noch nicht erwachsen. Doch er befand sich auf dem allerbesten Weg, es zu werden, bloß wusste er es noch