Ana Marna

Wächterin


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sind. Wenn diese Tierbisse nicht wären, würde man wohl eher einen psychopathischen, vielleicht sogar sadistischen Serienmörder vermuten.“

      „Seit wann beschäftigen Sie sich mit der Forensik?“, fragte Dr. Moreau. Valea konnte nicht verhindern, dass sie leicht errötete.

      „Erst seit gestern“, gestand sie. „Wie gesagt, diese Fälle gingen mir in den letzten Wochen nicht aus dem Kopf, aber ich hatte keine Zeit, mich mehr in das Thema einzulesen. Und die Obduktion des Toten im Camp war leider nicht sehr gründlich. Wir hatten so viele Notfälle und meine Kollegen haben alle dafür plädiert, dass es ein Raubtier gewesen sein muss.“

      „Doch Sie haben Zweifel?“

      Sie zögerte mit der Antwort.

      „Ja“, meinte sie dann. „Aber ich weiß nicht, ob diese Zweifel berechtigt sind, oder nur ein Hirngespinst. Deswegen komme ich ja zu Ihnen.“

      Dr. Moreau stand auf und ging zu einem großen Schrank.

      Er öffnete ihn und zog einen dicken Aktenordner hervor. Den legte er vor Valea auf den Tisch und setzte sich ihr dann wieder gegenüber.

      „Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Sehen Sie sich diesen Ordner an und lassen Sie mich an Ihren Gedanken teilhaben.“

      Neugierig öffnete Valea den Ordner und stockte erst überrascht. Dann blätterte sie langsam weiter. Fotographien von zerfetzten Körpern, Zeichnungen und Fotos von Obduktionen, Obduktionsberichte, Zeugenaussagen und Zeitungsartikel blätterten sich vor ihr auf.

      Alle hatten sie eines gemeinsam: Sie zeigten das typische Muster, das sie so irritiert hatte. Valea zählte beinahe dreißig Fälle, die innerhalb der letzten siebzig Jahre dokumentiert wurden. Die Ältesten waren entsprechend dürftig belegt, aber die Beschreibung der Wunden war eindeutig.

      „Das ist unglaublich.“ Sie holte tief Luft. „Wenn ich das richtig erfasst habe, gab es bei all diesen Fällen keine Augenzeugen. Es wurde nur vermutet, dass es sich um Großkatzen handelte.“

      „Die Bissspuren, die identifiziert werden konnten, sind eindeutig von einem Leoparden - allerdings von einem außergewöhnlich großen Exemplar“, wandte Dr. Moreau ein. „Aber Sie haben natürlich recht. Niemand hat gesehen, wie diese armen Menschen ums Leben kamen. Die Vermutung, dass es sich um ein Raubtier handeln musste, lag natürlich immer sehr nahe.“

      „Sie haben diese Fälle gesammelt, nachdem Sie das Kinshasa-Opfer vor sich hatten“, vermutete Valea.

      Er nickte.

      „Ja. Mir kam die Vorgehensweise genauso merkwürdig vor wie Ihnen.“

      „Zumal ein Leopard in Kinshasa wohl kaum unbemerkt herumstreifen könnte.“

      „So ist es. Und dazu kam, dass wir noch etwas anderes an dem Opfer fanden, was bei den Vorherigen noch nicht möglich war.“

      „Die DNA-Spuren.“

      „Genau. Es war sehr viel menschliche Fremd-DNA auf dem Opfer verteilt.“

      „Ein Sadist, der einen zahmen Leoparden zum Morden benutzt? Das ist - irgendwie absurd.“

      Er seufzte.

      „Sie denken wie ich. Das gefällt mir einerseits, aber andererseits bringt es uns nicht weiter.“

      „Diese Fälle sind innerhalb von siebzig Jahren aufgetreten. Wie alt müsste der Mörder dann sein? Achtzig? Neunzig? Das ist nicht wirklich vorstellbar. Oder „vererbt“ er seine Vorgehensweise?“ Valea schüttelte frustriert den Kopf. „Das ist alles absurd.“

      Dr. Moreau nickte zustimmend.

      „Sie können sich vielleicht vorstellen, wie frustriert ich damals war. Offiziell wurde der Fall als Tod durch Raubtier abgeschlossen, aber Zweifel blieben natürlich. Wissen Sie, Dr. Noack, ich habe über dreißig Jahre Leichen obduziert und viel Schreckliches gesehen. Schlimmeres sogar, als das, was diesen Menschen in dem Ordner vor Ihnen widerfahren ist. Man kann es manchmal nicht fassen, wozu Menschen in der Lage sind. Was sie anderen Menschen alles antun können. Und manche Fälle lassen einen nicht los. Immer wieder denkt man über sie nach, überlegt, was man vielleicht übersehen hat, und hat das Gefühl, dass da etwas ganz Entscheidendes fehlt. Dieser Fall war einer davon. Und da Sie heute vor mir sitzen, glaube ich tatsächlich, dass mein Bauchgefühl mich nicht betrogen hat.“

      Er seufzte leise.

      „Leider ist es für mich jetzt zu spät. Ich werde wohl nie erfahren, wer oder was diese armen Menschen umgebracht hat. Meine Zeit mit den Opfern ist vorbei. Sie wissen, dass ich seit zwei Jahren im Ruhestand bin?“

      Valea nickte. Dies hatte man ihr mitgeteilt.

      „Nun, das ist vermutlich auch gut so. Ehrlich gesagt haben meine Augen in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. Jüngere sind jetzt gefragt. Menschen wie Sie, Dr. Noack.“

      „Ich bin keine Rechtsmedizinerin“, wehrte Valea verlegen ab. Dr. Moreau betrachtete sie nachdenklich.

      „Sind Sie sich sicher? Ich glaube, Sie haben ein Auge, ein Gespür dafür. Und dass Sie hier sitzen, zeugt zumindest von einem gewissen Interesse.“

      „Ich bin Ärztin geworden, um zu heilen. Zu helfen.“

      „Was glauben Sie denn, was Forensiker tun?“

      „Nun.“ Valea zögerte. „Sie versuchen herauszufinden, wie Menschen zu Tode gekommen sind.“

      „Genau. Und es lohnt sich, darüber nachzudenken, wem Sie damit helfen.“

      Er erhob sich.

      „Dr. Noack. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen. Sie scheinen mir eine sehr gescheite und sympathische Person zu sein. Es tut mir leid, dass ich Ihre Fragen nicht zufriedenstellend beantworten konnte.“

      Valea stand ebenfalls auf.

      „Das ist nicht schlimm, Dr. Moreau. Ich bin dankbar, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“

      „Leider nur wenig.“ Er schien es ehrlich zu bedauern. „Trotzdem muss ich Sie jetzt verabschieden. Ein alter Mann hat auch noch Termine, die er nicht versäumen sollte. Falls Sie irgendwann wieder in Kinshasa sind, dürfen Sie gerne bei mir vorbeischauen. Ich hoffe, dass wir dann mehr Zeit zum Plaudern finden. Eines möchte ich aber noch tun.“

      Er hob den Aktenordner vom Tisch und reichte ihn ihr.

      „Nehmen Sie ihn bitte. Ich weiß nicht, ob er für Sie relevant ist. Ob Sie jemals wieder hineinsehen werden. Aber ich habe so das Gefühl, dass er bei Ihnen gut aufgehoben ist.“

      Valea blickte etwas sprachlos auf den Ordner in ihren Händen.

      „Dr. Moreau, ich - ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

      Sie sah hoch und in seine freundlichen Augen.

      „Sie brauchen nichts zu sagen, meine Liebe. Wie gesagt, meine Zeit mit den Opfern ist um. Wenn ich irgendwann mal sterbe, würde man diese Unterlagen einfach in den Müll werfen. Deswegen ist diese Gabe nicht wirklich viel wert. Doch ich sehe es ein wenig als symbolische Übergabe.“

      Er zwinkerte ihr zu. Valea konnte ein spontanes Lächeln nicht unterdrücken.

      „Vielen Dank, Dr. Moreau. Ich kann Ihnen nicht viel versprechen. Aber ich werde über unser Gespräch nachdenken.“

      „Das ist das, was ich hören wollte“, lächelte er zurück.

      Eine Stunde später saß Valea wieder in ihrem Hotelzimmer und starrte auf den Ordner, der zentral auf ihrem Tisch lag. Sie war sich nicht sicher, was sie bei seinem Anblick empfand. Es ehrte sie, dass Dr. Moreau ihn ihr anvertraut hatte. Aber was erwartete er von ihr? Dass Sie sich tatsächlich der Forensik zuwenden sollte?

      Natürlich wusste sie in etwa, was diese Fachdisziplin beinhaltete, doch richtig beschäftigt hatte sie sich noch nie damit.

      Sie griff nach ihrem Laptop. Nun, noch hatte sie ein paar Tage Zeit. Zeit,