Ana Marna

Wächterin


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ein Mann mittleren Alters wurde hereingeführt. Er trug Handschellen und ließ sich mit einem erwartungsvollen Lächeln ihr gegenüber nieder.

      „Valea Noack.“

      Seine Stimme war so rau und süffisant, wie sie es aus Filmaufnahmen in Erinnerung hatte.

      „Dr. Noack“, korrigierte sie ruhig, ohne sein Lächeln zu erwidern. Sie betrachtete ihn von oben bis unten. Pierre Leblanc war ein etwa vierzigjähriger Mann, mit blonden, kurzgeschnittenen Haaren und einem weichen, freundlichen Gesicht. Seine braunen Augen beobachteten sie mit einem erwartungsvollen Ausdruck.

      „Oh, ja stimmt“, grinste er. „Ich habe schon erfahren, dass Sie Ärztin geworden sind. Sie waren sogar in Afrika und haben dort Menschen gerettet. Wie nobel von Ihnen. Ein rettender Engel.“

      „Das war nicht nobel, sondern es war mir wichtig“, korrigierte sie erneut. „Aber diese Zeit ist nun vorbei. Ich habe mein Metier gewechselt.“

      „Oh, das klingt spannend.“

      „Nein, es ist nicht spannend. Aber vermutlich unvermeidlich. Ich bin jetzt kein rettender Engel mehr, so wie sie es formulieren. Nun bin ich eine Jägerin.“

      „Und wen jagen Sie?“

      „Leute wie Sie, Pierre Leblanc. Psychopathen, Mörder, kranke Menschen, die anderen Menschen Schaden zufügen.“

      Er fing tatsächlich an zu lachen.

      „Im Ernst? Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen.“

      Valea beobachtete ihn genau. Er lachte, aber in seinen Augen glomm ein wenig Ärger.

      „Es hat eine Zeit gedauert“, gab sie zu. „Ich musste mich erst wiederfinden. Aber das ist mir inzwischen gelungen. Afrika hat mir dabei geholfen, keine Frage.“

      „Dr. Noack.“ Er legte absichtlich einen verächtlichen Ton in seine Stimme. „Wollen Sie mir jetzt etwa triumphierend vorhalten, dass Sie ein besserer Mensch geworden sind, nur weil Sie Ihre eigenen psychischen Probleme mit der Jagd nach Mördern überspielen wollen?“

      Jetzt lächelte sie doch. Aber es war nicht freundlich, sondern beinahe mitleidig.

      „Nein, Herr Leblanc. Ich triumphiere nicht. Um ehrlich zu sein bin ich nicht hier, um Ihnen etwas zu beweisen. Ich wollte Ihnen nur einmal gegenübersitzen, um meine Vergangenheit endgültig abzuschließen.“

      „Abschließen?“ Jetzt grinste er verächtlich. „Das werden Sie nicht schaffen. Sehen Sie immer noch das blutige Gesicht ihres Mannes? Und Ihre kleine Tochter, wie das Blut aus ihrem Bauch läuft? Wie es aus ihr herausspritzt und sie um Hilfe weint?“

      Erwartungsvoll beugte er sich vor, um ihre Reaktion zu genießen.

      „Ja, oft“, gab sie zu und sah ihm ruhig in die Augen. „Und jedes Mal weiß ich, dass meine Entscheidung, Ihresgleichen zu jagen, die richtige ist. Ich weiß, wie es ist, seine Familie zu verlieren, und ich weiß, was Angehörige von Mordopfern brauchen. Nämlich Gewissheit. Und das Gefühl, dass der oder die Täter für ihre Tat auch bezahlen. Sie werden hier nicht allein bleiben. Dafür werde ich sorgen.“

      Sie lächelte ihn an. „Glauben Sie mir, ich vergesse es nicht. Niemals. Aber ich träume nicht mehr davon. Und das ist etwas, das ich Ihnen auch nehmen kann. Schon allein, dass Sie mich mit den Bildern meiner Tochter quälen wollten, wird meinen Kollegen genügen, um Sie wieder unter Medikamente zu setzen. Sie werden ebenfalls keine Träume mehr haben. Keine Schlechten, aber auch keine Guten mehr. Leben Sie wohl. Wir werden uns nicht wiedersehen. Ich werde gut schlafen, weil ich weiß, dass Sie hier sind und niemandem mehr wehtun werden. Aber Ihr Schlaf wird sicherlich trist und öde sein, so wie Ihr gesamtes restliches Leben. Sie werden dieses Haus nicht mehr verlassen. Nie mehr. Sie werden hier sterben. Und das ist gut so.“

      Sie erhob sich und sah auf ihn herunter.

      Pierre Leblanc war bei ihren letzten Worten blass geworden und hatte die Fäuste geballt. Jeglicher Hohn war von ihm gefallen.

      „Miststück! Verfluchtes Miststück. Das werde ich dir heimzahlen!“

      „Das glaube ich nicht“, erwiderte Valea sanft und verließ den Raum, ohne auf seine wüsten Beleidigungen zu reagieren.

      Das Kapitel Pierre Leblanc war ein für alle Mal abgeschlossen.

      August 2010

       Idaho, USA

      Die Fliegen kreisten in dichten Wolken um die fauligen Überreste der Leiche. Ein penetranter Gestank lag in der Luft, der kaum auszuhalten war.

      Detective Butch Grey musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass er gerade an die Grenze seiner Belastbarkeit angekommen war. Die Hitze war unglaublich und die Sonne knallte unbarmherzig auf das tote Wesen zu seinen Füßen. So wie es aussah, mochte man es kaum als menschlich bezeichnen, doch die Form war eindeutig. Er glaubte sogar, erkennen zu können, dass es eine Frau war. Zumindest war noch die Andeutung ihrer Brüste zu sehen.

      Er trat einen Schritt zurück und sah sich um. Sie befanden sich in einem abgelegenen Waldgebiet mitten in Idaho. Die Leiche lag in einer kleinen Senke und die Spuren und Blutreste legten nahe, dass sie hier gestorben war.

      Detective Grey seufzte. Normalerweise wäre diese bedauernswerte Frau nie gefunden worden. Der Ort war einfach zu abgelegen. Es war blanker Zufall, dass eine Gruppe Wanderer auf die kreisenden Truthahngeier aufmerksam geworden war.

      „Okay“, meinte er zu einem der Cops, die in einigem Abstand auf weitere Anweisungen warteten. „Sobald die Spurensicherung durch ist, lasst die Leiche nach Boise transportieren. Hier hilft nur noch eine Obduktion.“

      Mit einem unguten Gefühl stapfte er zu seinem Wagen zurück, der etwa eine Meile weiter entfernt parkte. Er hatte bereits einige Leichen zu sehen bekommen. Keine war ein schöner Anblick gewesen. Doch diese hier hatte etwas an sich, das ihm den Magen umdrehte.

      Zwei Tage später wusste Detective Grey auch, warum. Mit leichter Gänsehaut las er den Obduktionsbericht.

      Die Frau war noch nicht identifiziert worden, doch sie war Anfang zwanzig Jahre alt, blond und vermutlich kerngesund gewesen.

      Bis sie auf ihre Mörder stieß. Wobei die Mehrzahl irgendwie schwer zu definieren war. Es war eine anscheinend verunreinigte DNA auf der Frau gefunden worden. Sie war zweifellos menschlich, doch hatten sich auch Caniden-DNA-Segmente gefunden. Übersetzt: hundeartige Gensequenzen. Das würde zumindest die zahllosen Bissspuren erklären, auch wenn diese ungewöhnlich groß waren. Außergewöhnlich groß, hatte der obduzierende Arzt vermerkt. Passen würden auch die Haare, die auf der Leiche verteilt waren. Lange Hundehaare, die keiner bekannten Rasse zugeordnet werden konnten.

      Das teils menschliche Sperma im Vaginaltrakt und schwere Verletzungen in diesem Bereich deuteten zweifellos auf mehrfache Vergewaltigung hin.

      Doch dies alles war nichts, was ihn beunruhigte. Frauen wurden leider viel zu oft Opfer von Vergewaltigern. Dass dabei Hunde auf sie gehetzt wurden, war sicher scheußlich, doch viel schlimmer war die Erkenntnis, dass der jungen Frau bei lebendigem Leib die Haut abgezogen worden war. Und da keine Reste von dieser zu finden gewesen waren, konnte man wohl davon ausgehen, dass der Hund sie gefressen hatte. Ein Teil der Haut war mit einem Messer abgelöst worden, doch ein weiterer Teil der Muskulatur trug Anzeichen von Zahnspuren.

      Detective Grey lehnte sich zurück und atmete tief durch. Die Vorstellung von den Qualen der Frau verursachte ihm Übelkeit. Wer das getan hatte, war eindeutig geisteskrank und hochgradig sadistisch. Und die Schlussfolgerung ließ ihn erneut erschauern. So jemand beließ es nicht bei einem Mal.

      Er griff zum Telefon. Es wurde Zeit, dass er das FBI benachrichtigte.

       Pressemitteilung

       Killerdog zerfleischt Frau

       Vor drei Tagen wurde die Leiche einer jungen, noch unbekannten Frau gefunden. Laut der polizeilichen