Julia Himmel

Stadt und Gespenster


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Fahrerin nicht mehr zu helfen wusste, hatte sie einfach mitten auf der Autobahn angehalten. Die Fahrer vor Thomas und Robert hatten noch ausweichen können, aber Robert hatte das Auto zu spät gesehen und so waren sie hinein gerast. Thomas war nicht einmal angeschnallt gewesen. Jetzt beschrieb er, wie er sein Blut auf den Wangen gespürt und festgestellt hatte, dass seine Kopfhaut nach vorne geklappt war. Er beugte sich leicht nach vorne und hob seine Hand vom Gesicht über den Kopf, um zu demonstrieren, wie er seinen Skalp wieder zurück geklappt hatte. Das war seine letzte Erinnerung an die Unfallszene.

      Juliette verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

      „Das ist aber nicht das Schlimmste an der Sache“, sagte Julia. „Das eigentlich Perverse war, dass er sich gefreut hat, weil er zwei Monate krankgeschrieben war und endlich wieder Zeit hatte, auszugehen oder Freunde einzuladen.“

      Thomas arbeitete in der internen Unternehmenskommunikation, bis vor kurzem in einer der größten darauf spezialisierten Firmen Frankreichs. Angefangen hatte er in einem ganz kleinen Unternehmen, anscheinend ausschließlich mit Frauen als Kollegen, von denen viele noch heute eng mit ihm befreundet waren. Damals, als Julia in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung bei ihm nebenan gewohnt hatte, hatte die Arbeit ihm noch genügend Zeit gelassen, um mehrmals die Woche mit seinen Mitbewohnern für Freunde zu kochen, ins Konzert zu gehen, Picknicks zu veranstalten, und zum Aperitif einzuladen, auf seinem Balkon, der die Größe einer durchschnittlichen Pariser Single-Wohnung hatte. Solche Abende hatten nicht selten mit ausschweifenden Partys geendet. Wie oft hatte der geduldige Herr Lelius mit seinen Ringellöckchen, der jüdische Familienvater, der noch heute direkt unter der WG wohnte, in den frühen Morgenstunden geklingelt und ohne große Hoffnung versucht, der ausgelassenen Bande Vernunft beizubringen. Die Polizei hatte er nie gerufen. Das Schlimmste, was einem mit dieser gottergebenen Familie passieren konnte, war, dass Madame Lelius hochkam. Ihr fehlte die Geduld ihres Mannes.

      Einmal hatte Julia die Tür aufgemacht und da stand sie, nachts um elf im rosa Morgenmantel, und beschimpfte die Feiernden mit gellender Stimme als eine Truppe von Arschlöchern. Julia war das nicht besonders gottesfürchtig vorgekommen. Auf der anderen Seite hatten sich Thomas Freunde die letzte halbe Stunde damit beschäftigt, Eis mit einem Hammer zu zerkleinern. Julia hatte einsehen müssen, dass das an die Nerven gehen konnte.

      Später hatten sich mehrere Nachbarn zusammengetan und eine Petition verfasst, die entweder dem Zweck dienen sollte, Thomas und seine Mitbewohner zu nächtlicher Ruhe zu zwingen, oder sie aus der Nachbarschaft zu verjagen. Julia war das nie ganz klar geworden. Wie dem auch sei, die Nachbarn hatten nicht mehr viel Anlass zur Klage. Thomas war die Karriereleiter hochgeklettert und seither dauernd müde. Er verließ morgens um halb sieben das Haus und kam abends selten vor neun Uhr zurück. Meistens arbeitete er mindestens einmal die Woche bis in die frühen Morgenstunden. Abendessen und Feiern fanden in seiner Wohnung nur noch einmal im Quartal statt.

      „Am meisten stört mich an all dem, dass Thomas einfach viel zu schade ist, um sein Leben an seinen Arbeitgeber zu verkaufen“, räsonierte Catherine aus den Tiefen ihrer Polster. „Es gibt genug Leute, die nichts mit sich anzufangen wissen. Die können von mir aus auch im Büro sitzen. Aber keiner macht so erstklassige Konzerte ausfindig, kocht so gut und hat so viele Ideen für ausgefallene Partys. Du musst dringend einen radikalen Wechsel einleiten“, schlussfolgerte sie, und richtete sich dabei kurz auf, wahrscheinlich, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.

      Julia dachte an den Sommer, als Thomas arbeitslos gewesen war und eine Hitzewelle über Frankreich gelegen hatte. Damals hatte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihm klingeln können. Er hatte sie auf seinem Balkon bewirtet oder ihr ein interessantes Kulturprogramm vorgeschlagen. Am Wochenende waren sie morgens zum Bois de Vincennes gejoggt und hatten danach auf einem Arabermarkt voller Trubel ihre Einkäufe zusammen erledigt.

      Julia fiel auf, dass seine Haut jetzt beinahe transparent wirkte. Es lagen Welten zwischen dem unverwüstlichen Kerl mit der frischen Sommerbräune und den langen, unbändigen Haaren von damals und seinem Erscheinungsbild heute.

      „Wenn er die Krankschreibung nicht gehabt hätte, hätte er auch nie Zeit gehabt Cécile kennen zu lernen“, fuhr Catherine ihre Schmährede fort. Da sie wieder in ihre Kissen versunken und kaum zu sehen war, war nicht ganz klar, an wen sie das Wort richtete. „Man braucht schließlich Zeit, um einen Menschen zu erobern. Siehst du die überhaupt noch?“, rief sie, während sie andeutungsweise ihren Kopf in Thomas' Richtung drehte.

      „Aber du hast doch gewechselt“, sagte Julia, ohne die Antwort auf Catherines indiskrete Fragen abzuwarten. „Sind die Arbeitszeiten bei der neuen Firma denn immer noch so schlimm?“

      „Schlimmer“, kommentierte Catherine aus den Tiefen ihres Sofas. „Was auch nicht verwunderlich ist. Er hat einen neuen Job gesucht, der ihn mehr interessiert und ihm ein bisschen mehr Freizeit lässt. Und was macht er? Nimmt eine Beförderung auf dem gleichen Gebiet an, auf dem er vorher schon gelitten hat. Noch mehr Verantwortung, noch weniger Freizeit.“

      „Ist es denn wenigstens interessant?“, fragte Julia.

      „Interessant?“, Thomas überlegte. „Interessant ja, aber die Arbeitsbedingungen sind unmöglich. In der Branche stellen sie grundsätzlich zu wenige Leute ein. Das ist in diesem Unternehmen nicht anders als in dem davor.“

      „Das ist die Lohnmasse“, sagte Juliette mit einem wissenden Nicken. Sie arbeitete in Thomas altem Unternehmen und war eng vertraut mit dem Diskurs der Arbeitgeber. „Die wollen sie niedrig halten, um die Rentabilität zu erhöhen. Deswegen sollen wir immer mehr mit immer weniger Leuten machen.

      „Kannst du nicht ein bisschen mehr delegieren?“, fragte Julia. „Oder einfach oberflächlicher arbeiten, wenn sie dir so unmögliche Dinge abverlangen?“

      Thomas sah sie einen Moment lang nachdenklich an. Inzwischen kamen seine Augen ihr fast genauso transparent vor, wie seine Haut. „Ich glaube, das kann ich nicht“, befand er schließlich. „Ich liebe meine Arbeit und ich möchte sie gut machen. Sonst befriedigt mich das nicht.“

      „Und danken sie dir das?“

      „Ich danke es mir.“ Er lächelte so gut gelaunt, wie es ihm seine Müdigkeit erlaubte. „Ich sehe mich als Kunsthandwerker. Das Produkt meiner Arbeit muss gut sein, gelungen. Nur dann bin ich zufrieden.“

      „Audrey hat erzählt, dass er noch nicht einmal Zeit zum Mittagessen hat“, schaltete sich Catherine erneut in das Gespräch ein. „Sie wohnt direkt nebenan, fünf Minuten zu Fuß von seiner Arbeit. Hat ihm schon vor Wochen angeboten, für ihn zu kochen, damit sie wenigstens schnell eine halbe Stunde zusammen essen können, aber er ist noch nie gekommen.“

      Thomas stand auf, stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab, und hielt mit der anderen Catherine den Mund zu. Sie hatte ein paar Monate in Thomas WG gelebt, nachdem die ersten Mitbewohner aus seinem Heimatdorf ausgezogen waren, weil sie ins Ausland gingen, einen Job in einer anderen Stadt annahmen oder mit einer Frau zusammenzogen. Wie so viele Frauen hatte Catherine in der kurzen Zeit eine innige Freundschaft zu Thomas entwickelt, aus der sie heute das Recht ableitete, sich hemmungslos in sein Leben einzumischen.

      „Mittags muss ich Feuer löschen“, erklärte er, immer noch in seiner akrobatischen Stellung. „Die Kunden schaffen es fast jeden Tag, um halb zwölf mit einem riesigen Problem anzurufen, das unbedingt bis zwei gelöst sein muss. Dann esse ich eben schnell ein Brötchen am Computer.“

      „Klar, die rufen dich vor ihrer Mittagspause an – die machen nämlich eine“, rief Catherine, nachdem sie in einem rüden Gerangel ihren Mund befreit hatte. „Sie treffen sich mit Geschäftspartnern in einem schicken Restaurant und wenn sie wieder an den Arbeitsplatz kommen, mit mindestens einer Flasche feinstem Bordeaux intus, dann sollst du ihr Problem gelöst haben.“

      „Deswegen arbeitet er auch regelmäßig bis in die frühen Morgenstunden.“ Catherine zog die Schultern hoch und breitete die Armen aus, als wollte sie ihrem Auditorium ihre Hilflosigkeit verdeutlichen. „Die Kunden rufen abends an und fordern irgendwelche Artikel, Berichte oder Vorträge an, alles muss natürlich am nächsten Morgen fertig sein. Sie selber gehen nachhause und genießen ihren Feierabend.“

      Julia