Julia Himmel

Stadt und Gespenster


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dürfen keine Zeit verlieren, Sie wissen schon, Ihr Alter. Operation, um nachzusehen, was da los ist. Nichts Besonderes Madame, ein kleiner Polyp, ein bisschen Endometriose, wissen Sie, Gebärmutterschleimhaut, die sich außerhalb der Gebärmutter ansiedelt. Wir wissen auch nicht warum sie das tut, aber es behindert die Einnistung. Haben wir entfernt, diese Gebärmutterschleimhaut, die sich verirrt hat. Versuchen Sie es ein paar Monate weiter mit Ihrem Mann. Wenn es nicht klappt, kommen Sie wieder und wir machen eine künstliche Befruchtung. Im Glas. In-Vitro-Fertilisation, I-V-F. Sie sind schon ein bisschen alt, da muss man etwas rascher zu den härteren Methoden greifen. Als wir wieder kommen wollen, ist der Arzt natürlich im Urlaub. Sommer in Paris. Da kann man nichts machen, Madame. Nach der rentrée, der großen Heimkehr, wenn alle Pariser wieder in Paris sind und zur Arbeit hetzen. Im September, im September. Im September lässt er ein paar Blutwerte nehmen. Madame, ich bin sehr verärgert. So wird das nichts. Ihr Follikel-Stimulierendes-Hormon ist viel zu hoch, und Ihr Anti-Müller-Hormon zu niedrig. FSH und AMH. Ganz fürchterlich. Eins zu hoch und das andere zu niedrig. Wie bei einer Mittvierzigerin. Da bekomme ich nie vernünftige Eizellen, da kann ich noch so viel stimulieren. Gehen sie nach Spanien, hier ist eine Adresse, eine sehr gute Adresse, so glauben Sie mir doch. Die finden eine schöne Eizellspenderin für Sie, vielleicht eine Zahnmedizinstudentin aus Rumänien, na, das wäre doch etwas. Nun weinen Sie mal nicht so. Hier sind meine Kleenex. Stellen Sie sich doch vor, wie es für Ihren Mann wäre, wenn Sie auf eine Samenspende angewiesen wären. Der hätte gar keine Beziehung zum Kind. Sie tragen es wenigsten aus. Ein Kind zu machen, das ist sehr wichtig. Vielleicht tauschen Sie sogar ein bisschen Blut aus, so genau weiß man das doch alles gar nicht. Ich hätte eine kürzere Ausbildung machen sollen, dann wäre mir das nicht passiert. Grundschullehrerin vielleicht. Mit Sechsundzwanzig im Beruf. Dann hätte ich jetzt Kinder. Wahrscheinlich wäre ich getrennt, bei den Männern, die ich mir in den Zwanzigern angelacht habe, aber wenigstens hätte ich jetzt Kinder. Die könnte ich dann mit Sebastian großziehen. Macht doch nichts. Eine kleine Patchworkfamilie.

      Bonjour Julia.

      Salut Elise. Da geht sie, die Assistentin vom Nachbarlabor, hoch kompetent, immer in eleganten, konservativen Pumps, seit Jahrzehnten im Institut. Drei Kinder.

      Bonjour Monsieur Mergui.

      Bonjour Madame. Wie heißt sie noch, die Wärterin? Ach ja, Céline. Und da vorne geht dieser Letelier, der arrogante Pinsel. Der hat mich nicht mehr gegrüßt, seit sie den zum Forschungsdirektor gemacht haben, weil sein Doktorvater die Treppe hoch gefallen ist und in den Institutsvorstand gewählt wurde. Das ist siebzehn Jahre her. Siebzehn Jahre. Dabei hat sein Doktorvater die Stelle nur bekommen, weil dieser Loeb plötzlich an einem Hirnschlag gestorben ist und die sich auf keinen anderen Kandidaten einigen konnten. Siebzehn Jahre lang hat der mich nicht mehr gegrüßt. Und als Doktoranden haben wir am gleichen Forschungsprojekt gearbeitet, sind sogar zusammen Bier trinken gegangen. Der hat gar keinen Grund so arrogant zu sein, dieser Letelier. Einfältiger Pinsel. Ein absolut durchschnittlicher Wissenschaftler. Ich habe meine Veröffentlichungen doppelt so gut platziert wie er. Aber wenn sie dich einmal in diese Position befördert haben, dann bist du unanfechtbar. Und wenn du es bis 48 nicht geschafft hast, dann bleibst du unsichtbar bis zur Pensionierung, so wie ich. Unsichtbar. Die grüßen mich nicht einmal. Der Letelier, der hat ein schönes Haus in der feinsten Vorstadt, verkehrt in der vornehmen Gesellschaft, wird überall als großer Wissenschaftler umworben, und wir sind immer noch im Süden, in dem kleinen Reihenhaus. Ich bin der liebenswürdig trottelige Forscher mit den verschlissenen Anzügen, der nie aus seinem verstaubten Labor herauskommt, außer wenn er mal am Sonntag seinen Rasen mäht, sich dabei selbstverständlich die Finger quetscht. Natürlich! Ansonsten: unsichtbar. Weil ich die Beförderungshürden nicht genommen habe. Die Kollegen nehmen mich nicht einmal wahr. Na ja, diese Deutsche da, die vielleicht. Bonjour Julia. Hat ja auch keine Ahnung davon, wie das hier läuft.

      Guten Morgen Philippe. Philippe Mergui. Ja, die Welt ist ein Jammertal. Die Forschung erfüllt uns nicht. Aber wie gut du es hast, mit deinen vier Kindern, das merkst du gar nicht. Eines fröhlicher und begabter als das andere, doch so ist das im Leben, das Glück das wir haben, nehmen wir nicht wahr. Ich kann mich auch nicht darüber freuen, dass ich anders als meine Freundin Monika nicht mit 28 elendiglich an einem Tumor verreckt bin. Ich weiß, ich müsste mich freuen. Kann aber nicht. Stecke in meiner eigenen armseligen Haut, mit meinen eigenen jämmerlichen Problemen. Kein Blick mehr für das große Ganze.

      Bonjour Mademoiselle.

      Bonjour Madame. Die ist wirklich nett, diese Empfangsdame. Die sind alle so freundlich hier. Da muss man sich ja auch gut fühlen, wenn man einen Job in einem so berühmten Institut hat. Toll! Ich bin so froh, dass Jean-Luc mir dieses Praktikum vermittelt hat. Was für ein Glück. Als Studentin von einer Provinzuni. Was ich hier alles lerne! Die sind alle so kompetent hier. Ach, guck und da vorne ist Monsieur Mergui aus dem Labor nebenan. Der hat mir seine Forschung erklärt, das war vielleicht interessant. Mensch, wenn ich doch mein Studium und meine Promotion richtig gut hinbekommen und auch einen so tollen Job finden könnte. Guck, jetzt hat er doch zurück gegrüßt. Ein bisschen zurückhaltend, aber der ist bestimmt in Gedanken bei seiner Forschung. Ach, sind die nett hier, ich freue mich schon auf die Versuche im Labor. Die Laborassistentin hat mir versprochen, mir ein bisschen zu helfen. Die ist sehr erfahren. So tolle Forschung. So viele begabte Leute. Was für ein Glück, hier zu sein! Wenn ich hier doch später mal landen könnte.

      Da haben wir ein noch ganz junges Ding. Strahlt. Ist glücklich. Jung und glücklich. Warum auch nicht? Hat noch alle Chancen auf eine Familie. Aber daran denkt sie jetzt gar nicht. Sie denkt daran, was sie hier alles lernen kann, an ihre Doktorarbeit. Sie fragt sich, welche Abenteuer um die nächste Ecke auf sie warten, malt sich ihre nächste Reise mit dem Rucksack aus und träumt von dem Doktoranden, den sie neulich im Labor kennen gelernt hat. Mit dem geht sie wahrscheinlich demnächst ein Bier trinken. Sie denkt an all die Chancen und Möglichkeiten, die sich ihr bieten, sie fühlt sich, als läge ihr die Welt zu Füßen. Sie ahnt nicht einmal, was ihr blüht, später, wenn sie ein paar Chancen ergriffen hat, andere hat ziehen lassen, und sich schließlich umblickt und feststellt, dass sie schlecht beraten war, dass ihr ihre leichtfertigen Entscheidungen das Genick gebrochen haben. Noch während sie ihre Wunden leckt, schließen sich weitere Türen, eine nach der anderen. Sie merkt es gar nicht. Und was für eine Lüge, dass sich gleichzeitig irgendetwas anderes öffnet!

      Bonjour Vanessa. Mein Gott sieht die heute wieder blass aus, das arme Ding.

      Bonjour Céline. Ja, ich weiß, was du denkst. Die muss sich mal ausruhen, denkst du. Die muss mal in den Urlaub. Sechzehn Stunden gestern, sechzehn Stunden! Von acht Uhr früh bis Mitternacht, und nicht der Hauch eines brauchbaren Ergebnisses. Ich wollte heute wieder um acht Uhr kommen, doch es ging nicht. Am Bett festgenagelt. Ich muss aber weitermachen. Es muss weitergehen. Ich muss noch hartnäckiger werden. Ich brauche interessante Ergebnisse. Ich brauche die feste Stelle. Ich muss weiter machen. Mit noch mehr Biss. Wenn ich keine interessanten Ergebnisse bekomme, waren drei Jahre Arbeit für die Katz. Und ich brauche jetzt endlich mal eine Veröffentlichung in einer Spitzenfachzeitschrift. Sonst bekomme ich die feste Stelle nicht. Und wenn ich die nicht bald bekomme, bin ich raus. Ich liebe die Wissenschaft. Ich bin Biologin, was sonst? Nach fünfzehn Jahren Biologiestudium, Biologiepromotion, Biologieforschung. Was soll ich denn anfangen sonst? Diese Amerikanerin macht mich nervös. Diese hypereffiziente, nur auf ein Ziel fixierte Assistenzprofessorin an der Boston University. Arbeitet genau an meinem Thema. Wenn die meine Hypothese eher belegt als ich, bin ich geliefert. Drei Jahre Arbeit für die Katz und keine Zukunftsaussichten. Was soll ich denn anfangen, wenn ich nicht weiter als Biologin arbeiten kann? Diese Schlange. Natürlich denkt die nur an ihre Forschung, an ihren eigenen Vorteil. Und ich erkläre der auf der Konferenz in Venedig auch noch meine Ergebnisse im Detail. Völlig naiv. Hab mich wohl geschmeichelt gefühlt, als sie mir zu meinem tollen Vortrag gratuliert hat. Danach hat sie mir mit ihrer Fragerei alle Einzelheiten aus der Nase gezogen. Das kann sie jetzt schön für ihre eigene Forschung benutzen.

      Bonjour Madame la Directrice.

      Bonjour Céline, geht es Ihnen gut? Jetzt muss ich mich aber wirklich beeilen, in fünf Minuten fängt diese Direktoriumssitzung an. Die streichen uns schon wieder öffentliche Forschungsgelder. Und jetzt müssen sie noch all diese Banken retten. Auf den Staat können wir uns nicht mehr verlassen.