Julia Himmel

Stadt und Gespenster


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Nichts eine Lücke geschaffen hatten, die es ihnen erlaubte, ihre eigenen Nasen an der Tür plattzudrücken, während die Massen von hinten ihren Brustkorb zu zerdrücken drohten. Julia entschloss sich, auf die nächste Metro zu warten, die eine Minute später kommen sollte. Wenn zwei Züge so dicht aufeinander folgten, war der zweite fast immer viel leerer. Die Leute aber hatten es eilig. Sie drängelten sich lieber in den ersten Zug und haderten gleichzeitig mit ihrem Transportschicksal.

      Julia fuhr zwei Stationen mit der nächsten Metro, in der vergleichsweise humane Zustände herrschten, und stieg dann um. Neben ihr tastete sich ein blinder Mann mit seinem Stock durch die Menschenmenge und fing sich verärgerte Blicke ein, wenn er die Hacksen einer feinen Dame berührte, oder die Waden eines geschäftigen Herrn. Er strebte geradewegs auf das Romamädchen mit dem Kindergesicht zu, das jeden Morgen auf der Treppe am Bahnsteigausgang saß und ihrem Zweijährigen die Brust gab oder ihm beim Spielen und Schlafen zusah.

      Vor Julias geistigem Auge entstanden Szenen einer unheilvollen Karambolage der Benachteiligten. Blinder stürzt über Kinderkarre und landet auf zwei Zigeunerkindern. Chaos und Geschrei. Entnervte Pariser versuchen schleunigst vom Katastrophenort zu fliehen. Einer fühlt sich am Ende doch verpflichtet, den Notarzt zu rufen. Heimlich ärgert er sich, dass er nun warten muss, anstatt weiter so schnell seine ihn Beine tragen durch dunkle, stinkende Metroschächte laufen zu können.

      Julia sah das als die Gelegenheit an, beherzt einzugreifen und die drohende Katastrophe abzuwenden. Sie bot dem Blinden an, ihn zu seinem Ziel zu führen. Es folgte ein ungeschicktes Armehakeln mit dem Ergebnis, dass er schließlich von oben auf Julias angewinkelten Unterarm fasste. Julia ließ sich die Unbequemlichkeit der Lage nicht anmerken. Sie führte ihren Galan zur nächsten Metro als wäre sie ein hochrangiger Diplomat auf dem Wiener Kongress, der eine Dame zur Tanzfläche geleitet. Zufällig hatten der Mann und sie den gleichen Weg. Er erklärte Julia auf dem Bahnsteig, dass er ans andere Ende der Stadt wollte, dabei sah er sie aus einem totem und einem anscheinend noch ein wenig funktionstüchtigem Auge aufmerksam an. Julia verbarg ihr Schaudern und erwiderte standhaft seinen zerstörten Blick.

      In der Metro führte Julia ihn zu einem Klappsitz, der noch frei war, und setzte sich selbst daneben, um ihr Buch zu lesen. Am anderen Ende des Wagens schimpften zwei Frauen. Eine war der anderen auf den Zeh getreten und die Entschuldigung hatte zu lange auf sich warten lassen.

      Der Rest der Fahrt verlief disziplinierter. Die Fahrgäste lasen Bücher und Zeitungen, lösten Kreuzworträtsel und hörten Musik. Die Klappstuhlinhaber standen widerwillig auf, um Platz zu machen, wenn die schiere Masse der neu herein strömenden Fahrgäste solidarisches Verhalten gebot. Alle gemeinsam ignorierten sie so gut sie konnten das Geschehen um sich herum. Julia nannte ihrem blinden Begleiter vorsichtshalber die Haltestelle, als sie schließlich ausstieg. Damit er Bescheid wusste.

      Während Julia die Metro verließ, begann langsam die dritte Schicht, die privilegierteste, das Haus zu verlassen. Einige von ihnen rekelten sich vielleicht noch im Bett. Das waren die hohen Beamten, die Banker und die Unternehmensberater, deren Status es nicht vorsah, dass sie sich vor zehn Uhr im Büro zeigten. Sie hatten üppige Gehälter und Sitzplätze in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn sie sich endlich an ihren Schreibtischen installiert hatten, surften sie erst einmal im Internet oder plauderten mit Kollegen. So richtig hektisch wurde es bei ihnen erst am Abend, nachdem ihre wichtigsten Arbeitstreffen stattgefunden hatten und die dringenden Anfragen und Aufträge der Kunden und der Geschäftsleitung eingetroffen waren.

      Der Himmel hatte ein helles, mattes Blau angenommen, als Julia aus den Metro-Schächten auf die Straße trat. Die Sonne ließ die Zinkdächer der Haussmann-Gebäude funkeln und tauchte die obersten Stockwerke in ein warmes Ocker. Auf den Straßen gingen die Menschen ihren morgendlichen Verpflichtungen nach. Eine dunkle Schönheit mit Tuch im Zebramuster auf dem Kopf schritt mit sinnlich wiegenden Hüften über die Straße und zog dabei einen kleinen Jungen hinter sich her, der aufmerksam das Geschehen hinter sich betrachtete. Die blondierten Mütter auf dem Weg zur katholischen Privatschule trugen Haarreifen in dem gleichen Marineblau wie die Hosen und Pullover ihrer Kinder. Ein kleiner, dünner Vater im dunklen Anzug und mit konservativem Seitenscheitel trieb zwei Kindergartenkinder zur Eile an, die weiße Hemden mit steifem Kragen unter ihren Wollpullovern trugen. Gleichzeitig versuchte er mit seiner etwa zehnjährigen Tochter Schritt zu halten, die auf ihrem Roller die Führung übernommen hatte.

      Julia bog mit einem Heer von Technikerinnen, Ingenieuren und Forschern auf das Gelände des Forschungsinstituts ein.

      Stimmen der Wissenschaft

      Bonjour Elise.

      Bonjour Céline. Seit 23 Jahren komme ich nun schon so zur Arbeit mit meinen klappernden Absätzen. Klipp, klapp, klipp, klapp. Zuhause vier Etagen die Treppe hinunter. Klipp, klapp. In die Metro hinein, in Montparnasse den Zug wechseln. Klipp, klapp, klipp, klapp, durch lange Gänge zur Linie 6. Wieder rein in die Metro, sechs Stationen fahren und raus. Klipp, klapp, drei Straßen weiter zum Institut. Mit einem freundlichen Gruß an der Wärterin vorbei, schließlich kennen wir uns seit fünfzehn Jahren, Céline und ich. Ab ins Labor, mittags in die Kantine und abends wieder zurück. Klipp, klapp, klipp, klapp. Und da bin ich nun wieder. Die Bakterienkulturen meiner Forschungsleiterin warten schon auf mich, wie jeden Morgen. Die Kollegen sind nett, natürlich. Ich freue mich, morgens immer wiederzukommen, irgendwie. Und doch: immer die gleichen Kulturen, immer die gleichen Tests. Nie etwas wirklich Neues. Keine Herausforderungen. Seit 23 Jahren. Ich bin nach dem Abitur einfach so hineingerutscht in diesen Job. Habe mir gedacht, ich mach mal die Ausbildung, dann ist das schon einmal etwas, danach kann ich immer noch studieren. Dann wollte ich noch ein bisschen weiter arbeiten, die Reisen finanzieren, von denen ich träumte. Und dann war das regelmäßige Gehalt so angenehm, und die Sicherheit war so bequem. Mit 29 dachte ich, jetzt ist es auch zu spät für ein Studium. So ein Quatsch! Da ist man doch noch blutjung. Ich hätte das einfach machen sollen. Hätte ich doch auch halbtags oder im Abendstudium machen können und im Job bleiben. Aber dann, wenn man mit seinem Studium fertig ist, dann muss man hier weg. Schluss mit klipp, klapp. Sonst geht es einem wie Nadine. Hat erst ein Biologiestudium gemacht und sich schon gefreut, dass sie jetzt vom einfachen Labordienst zur Ingenieurin aufsteigen kann, da hatte sie aber nicht mit der Personalabteilung gerechnet. Nein, Madame, das ist noch zu früh für Sie, Sie müssen warten bis Sie an der Reihe sind. Inzwischen hat sie ihre Doktorarbeit fertiggestellt und arbeitet immer noch im einfachen Labordienst. Ihre Zeit wird schon noch kommen, Madame. Man sagt, sie hätten sie nicht befördern wollen, weil ihnen dann eine kompetente Vorarbeiterin im einfachen Labordienst verloren gegangen wäre. Wer soll die dann anleiten, die Leute? Wo denken Sie hin? So ist das, wenn nur die Leistung zählt. Klipp, klapp, klipp, klapp.

      Bonjour Julia.

      Bonjour Céline, wie geht es Ihnen? Da biege ich wieder ein, auf den Campus. Leidlich erfolgreiche Forscherin, Promotion mit Auszeichnung, zahlreiche Forschungsaufenthalte im Ausland. Passable Veröffentlichungen. Kein Kind. Kein Kind! Einfach vergessen. Oder besser gesagt: Zu lange gewartet. Mit 34 angefangen. So alt ist das ja auch wieder nicht. Da bekommen viele noch Kinder. Aber mancher hat eben Pech. Einfach Pech gehabt. Ein Jahr lang vergebliche Versuche. Tränen, Verzweiflung. Das wird nichts. Die Ärztin mahnt zur Geduld: Leichtigkeit! Zur Fruchtbarkeit gehört auch Leichtigkeit. Fahren Sie doch mal mit Ihrem Mann in den Urlaub. Urlaub, ja Urlaub. Urlaub in Asien. Kolonialstädte, Teeplantagen, Nonyaküche, Urwald, Trauminseln. Liebe. Sex. Hab immer eine Kerze gemacht danach, damit das Sperma auch schön in den Körper fließt. Haha. Was haben wir gelacht. Und dann - schwanger. Sieben Wochen später fängt es an zu bluten. Mitten im Vortrag, auf einer Konferenz in Brüssel. Der in Panik konsultierte Notarzt beschwichtigt. Sehen Sie doch Madame, auf dem Ultraschall. Das ist Ihr Baby. Das Herz schlägt. Vierzig Prozent aller Schwangeren bluten. Drei Tage später ist die Fehlgeburt perfekt. Tiefschwarze Nacht. In einem Meer von Tränen aufgewacht. Fehlgeburt. Aber nein, das ist doch positiv. Ja, traurig, traurig. Gewiss. Aber doch auch ein gutes Zeichen. Das kommt wieder. Leichtigkeit. Entspannen Sie sich einfach. Leben Sie! Ins Ausland umgezogen, wegen des Berufs, Sebastians Beruf vor allem. Man kann nicht nur an die Fortpflanzung denken, da kann kein Mensch entspannen. Man muss weiter leben, Leichtigkeit empfinden. Weil auch nach Monaten überhaupt nichts wieder kam, wieder Ärzte konsultiert. Dreimal