Julia Himmel

Stadt und Gespenster


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unterwegs. Ein kleiner, dunkelhäutiger Menschenschlag aus aller Herren Länder, dem die Anstrengungen schlecht bezahlter Arbeit und eines in vielen Fällen ungeklärten Aufenthaltsstatus deutlich ins Gesicht geschrieben standen. Lagerarbeiter aus Indien, Personal der chinesischen Gastwirtschaft ohne Papiere und Reinigungskräfte aus ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, manche mit schwarzen Rastalocken, andere mit bunter afrikanischer Kopfbedeckung oder islamischer Verschleierung. Stumm und in ihr Schicksal ergeben glitten sie wie Schatten durch die frühen Pariser Morgenstunden. Ihr einziges Privileg war ein Sitzplatz in der Metro, von dem die meisten Büroangestellten, die zwei oder drei Stunden später losfuhren, nur träumen konnten.

      Manchmal gesellte sich Julia zu den morgendlichen Schatten, wenn sie dringend einen Artikel fertig schreiben musste oder wenn ihre Sorgen sie nachts wach hielten und sie nach einem langen Kampf mit der Schlaflosigkeit schließlich entschied, dass sie die Zeit ebenso gut im Labor verbringen konnte. Sie fühlte sich immer fremd unter diesen Menschen. Was war schon ihr bisschen Schlaflosigkeit gegen die Einsamkeit, in der viele von denen sich um ihr Dasein schlagen mussten? Ihre Sorgen um die nächste Veröffentlichung gegen deren Geldnöte? Ihre Kinderlosigkeit gegen deren Papierlosigkeit? Sie mit ihrem lieben, lustigen Mann zuhause in der schönen Wohnung, mit den Reisen und den Wochenendausflügen, mit den Abendessen und den Partys mit Freunden.

      Anders war das in ihrer eigenen Schicht, der in der Mitte. Da war sie unter ihresgleichen. Büroangestellte aller Industrie- und Dienstleistungszweige, Männer im Anzug und sorgfältig geschminkte und frisierte Frauen waren dann auf dem Weg zur Arbeit. Sie waren in Eile und nahmen es einander übel, dass sie sich dabei gegenseitig Platz wegnahmen. Um diese Uhrzeit waren die Straßen voller Leben. Die Stadt war erwacht und mit ihr ihre Prinzessinnen und ihre Bettler, ihre Arbeitsbienen und ihre Müßiggänger, ihre ehrlichen Kaufleute und Arbeiter ebenso wie ihre Schlitzohren, Betrüger und Diebe.

      Als Julia den kleinen Weg hinter ihrem Haus hinunterlief, begrüßte sie der hünenhafte, schokoladenbraune Mann von der Stadtreinigung mit Handschlag. Beinahe täglich pflegte er hier den Sportplatz. Es musste der sauberste Sportplatz im Großraum Paris sein. Einmal hatte er ihre Hand geküsst. Ein andermal hatte er ihr ein Praktikum angeboten. Mit dem Anlernen meinte er es offenbar sehr ernst, denn gelegentlich drückte er Julia einen Mülleimer in die Hand, den sie auf ihren hohen Absätzen über den unebenen kleinen Weg zur Straße hinunter schieben sollte. Wahrscheinlich wollte er demonstrieren, dass sie ohne weiteres Training für die Stadtreinigung nicht geeignet war. Vor Weihnachten hatte er ihr eine gemeinsame Reise zu seiner Familie auf die Antillen angeboten. Irgendetwas ließ er sich immer einfallen.

      Auf der rue de Belleville traf Julia meistens auf ihre nächste Bekannte, eine Frau mit lederner, grauer Haut und öligen, aschblonden Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Jeden Morgen empfing sie Julia mit der gleichen Frage: „Sie hätten wohl keine Münze für mich?“ Ihr Tonfall war wie ihr Gang, mit dem sie Tag für Tag die Straße auf und ab schlich: einförmig, ohne jede Akzentuierung. Manchmal fügte die Frau hinzu, dass sie schließlich nicht gleich um Scheine bitten könnte. Dann deutete sich in ihrem Gesicht etwas an, was an ein Lächeln erinnerte, Schalk. Doch das war selten. Wenn Julia länger stehen blieb, um ihr Portemonnaie in der Tasche zu suchen, erzählte die Frau von ihrer Familie oder von Ärzten, die sie mit einem bösem Zauber belegen wollten, wenn sie ihr nicht gleich nach dem Leben trachteten. Heute war sie nicht da. Wenn Julia so recht darüber nachdachte, war sie schon eine ganze Weile verschwunden. Manchmal schien diese Stadt ihre Bewohner einfach zu verschlucken.

      Heute hatte eine Bürgerin sich aufgerufen gefühlt, der Stadtreinigung bei der Müllabfuhr behilflich zu sein. Die Frau schob geschäftig Abfalltonnen über die Straße, während ein grün gekleideter Müllmann nervös neben ihr herlief. Eine heftige Diskussion entstand zwischen den beiden. Um sie herum liefen Chinesen eilig zur Arbeit, transportierten auf hohen, länglichen Gestellen Waren in ihren Laden oder brachten ihre Kinder zur Schule. Als Julia in den Metroeingang einbog, wo mehrere Zeitungsausteiler und die Zeugen Jehovas um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlten, war es zwischen dem Müllmann und seiner Helferin zum Handgemenge gekommen. Die verschmähte Reinigungskraft schrie laut ihre Wut in die Straßen von Belleville hinaus.

      Ein kleiner Junge mit Schulranzen auf dem Rücken war im engen Korridor der Zeitungsleute und Missionare plötzlich stehen geblieben und blickte durch seine dicken Brillengläser fasziniert um sich. Er schien die Vielfalt des Angebots um sich herum kaum fassen zu können. Julia hätte ihn um ein Haar überrannt. Im morgendlichen Pendelverkehr war es nicht vorgesehen, dass jemand stehen blieb. Sie wartete geduldig, bis der Kleine sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, und widerstand dabei der Versuchung, sein dichtes Haar zu streicheln. Die versierteren Pariser hinter ihr hatten das Hindernis deutlich schneller erkannt als sie und waren ausgewichen, indem sie einen zackigen Bogen um den Informationskorridor geschlagen hatten.

      Als Julia es endlich in den Metro-Schacht geschafft hatte, hielt ihr ein Anfang Dreißigjähriger im Anzug und leichtem Mantel die Tür hinter dem Drehkreuz auf, wie es in Paris üblich war. Er nickte ihr ohne ein Lächeln zu, bevor er im Laufschritt weiterlief, als gelte es, die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

      Die Bewohner der Metro-Station schliefen noch. Einer lag auf den roten Plastiksitzen, mit einem schmutzigen Schlafsack zugedeckt. Der andere hatte sich quer über dem Bahnsteig ausgestreckt, seine Decke bedeckte weder seinen entblößten Rücken, noch die zerrissenen Strümpfe. Julia fragte sich, wie viele Frauen auf hohen Absätzen und Männer in teuren Anzügen heute noch über seine Beine steigen würden, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

      Einmal war sie den beiden Obdachlosen am Abend begegnet. Der Mann, der heute den eiligen Parisern seinen entblößten Rücken entgegenstreckte, hatte sich auf seinem Plastiksitz gekrümmt, die Hand auf dem Magen. Sein Bahnsteigmitbewohner hatte mit schwerer Zunge auf ihn eingeredet. Julia hatte etwas hilflos angeboten, einen Notarzt zu rufen. Der Mann, der die Rolle des Trösters übernommen hatte, hatte sie aus seinem zerfurchten Gesicht verständnislos angesehen.

      „Das bringt nichts“, hatte er kurz befunden. Dann war Julias Metro gekommen. Der Impuls war so stark gewesen, dass sie sich nur kurz bei den Männern entschuldigt hatte und dann hinein gesprungen war. Beim Sambakurs danach war Julia die Reflektion ihrer runden Armbewegungen im Spiegel wie das Flügelschlagen eines Todesengels vorgekommen.

      Auf dem Rückweg hatte sie Mineralwasser und Schokolade aus dem Automaten gezogen. Sie hatte sich bei dem Mann mit dem zerfurchten Gesicht nach seinem Freund erkundigt, der inzwischen auf dem Boden eingeschlafen war. Sein Helfer schien die Episode schon längst wieder vergessen zu haben. Das Mineralwasser und die Schokolade hatte er mit einem knappen Kopfnicken entgegengenommen. Immer, wenn Julia den Männern jetzt begegnete, spürte sie sich wieder mit einem Satz in die einfahrende Metro springen. Dann sah sie die Flügel des Todesengels in dem zerkratzten Spiegel einer Mehrzweckhalle schlagen.

      Irgendwann, wenn der Sommer endgültig Einzug gehalten hatte, beendeten die Obdachlosen ihr Schattendasein in der Metro und verschwanden. Niemand wusste wohin. Sie schienen sich einfach in Luft aufzulösen. Doch im nächsten Winter waren sie wieder da. Die, die überlebt hatten. Julia fragte sich, wie groß die Chance für diese Menschen war, den Weg von der Straße in eine warme Wohnung zu finden. Und wo kamen sie wohl her? Was hatte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie auf dem Bahnsteig leben mussten? Julia nahm sich vor, freiwillige Arbeit in einer Suppenküche zu leisten, anstatt jeden Tag so lange im Labor zu bleiben. Vielleicht würden dann auch die Flügel eines Tages aufhören zu schlagen.

      Während die Metro einfuhr, grüßte Julia den Mandolinenmann. Er kam jeden Morgen, etwa um die Zeit, wenn Julia zur Arbeit fuhr, packte seine Mandoline aus und hielt sie auf dem Schoß. Manchmal schien er sie zu stimmen. Einmal hatte Julia sich zu ihm gesetzt und ihn um ein Lied gebeten. Er hatte eine kurze, orientalische Melodie gespielt. Danach hatte Julia ihn nie wieder spielen sehen. Trotzdem warfen immer wieder Passanten Münzen in seinen Hut. Er lebte in erster Linie von seinem sanften, schüchternen Lächeln und seinem Blick, der so treu war, dass die gelbe Färbung seiner Augäpfel kaum störte. Julia war nicht die einzige Frau auf dem Bahnsteig, die ihn begrüßte wie einen alten Bekannten.

      Die einfahrende Metro war voll. Die Fahrgäste schienen sich Bauch und Gesicht an den Fenstern der Tür platt zu drücken. Das hielt die echten Pariser nicht