Julia Himmel

Stadt und Gespenster


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haben. Die schwimmen im Geld. Wissen gar nicht, wohin damit. Das retten die auch über diese Krise. Da müssen wir ran. Nur weiß bei uns niemand, wie man die anzapft. Bonjour Vanessa. Mein Gott, wie blass und schmal die geworden ist. Wie geht es Ihnen? All diese begabten jungen Forscher, die sich hier kaputt machen, weil wir ihnen keine ordentlichen Arbeitsbedingungen mehr bieten. Wir brauchen mehr Geld.

      Ach, Madame la Directrice. Gott, was hat die schon wieder für ein Tempo drauf. Bonjour Nathalie. Ja, danke, gut. Ich weiß auch, dass ich wie durch den Fleischwolf gedreht aussehe. Trotzdem toll diese Frau. Kompetent und dynamisch. Die einzige von all diesen verstaubten Direktoren, die sich dafür interessiert, wie sie die jungen Forscher finanzieren und fördern kann. Hat mir auch mit dieser Gates-Sache geholfen, Madame la Directrice. Das war toll. Aber letztlich hilft das alles nicht, wenn ich daraus keine guten Veröffentlichungen mache. Ich muss hartnäckig sein. Und ich darf mich von dieser Amerikanerin nicht abdrängeln lassen.

      Vanessa hat doch vor einem halben Jahr erst ein großes Forschungsstipendium von der Bill-und-Melissa-Gates-Stiftung gewonnen. Da müssen wir ran. Solche Leute brauchen wir. So, jetzt noch schnell im Slalom an all diesen Leuten vorbei. Mein Gott, haben die alle eine Zeit. So komme ich nie rechtzeitig zur Besprechung. Vielleicht sollte ich mal mit Vanessa und ein paar anderen jüngeren Forschern Mittagessen gehen. Diese prekären Mitarbeiter, die das Geld für ihre eigenen Stellen eintreiben müssen, die wissen viel besser als die Quasi-Beamten in gehobener Position wie man das anpackt mit dem Werben von Drittmitteln. Viel besser als wir.

      Die Postdoc-Frau, die mich gerade überholt hat – Name vergessen. Immer gestresst. Hat noch kein Kind. Dafür hat die sich viel zu sehr in ihre Forschung verbissen. Früher habe ich das auch so ernst genommen. Als ich noch nicht wusste, dass ich damit meine Familie an den Teufel verkaufe. Die bekommt aber noch eine. Beruhigt sich, bekommt ein Kind. Ach eins, was sage ich, drei. Ist ja schließlich Französin.

      Ich muss am Ball bleiben. Nach all diesem Theater, um Forschungsgelder einzuwerben. Da muss etwas dabei herauskommen.

      Und da haben wir. Madame la Directrice. Bonjour Nathalie. Immer eilig. Tolle Karriere. Zwei Kinder.

      Ich darf mich von dieser oberzielstrebigen Amerikanerin nicht abdrängeln lassen. Ich muss mich noch mehr anstrengen.

      Klipp, klapp, tagein, tagaus, klipp, klapp. Immer das Gleiche. Nette Kollegen, nette Arbeit, nettes Gehalt. Klipp, klapp.

      Der trottelige Wissenschaftler mit dem verschlissenen Anzug. Für immer. Unsichtbar.

      Klipp, klapp. Keine Risiken eingegangen, keine Chancen ergriffen. Immer im gleichen langen, ruhigen Fluss mitgeschwommen.

      Tolles Forschungsinstitut hier.

      Klipp, klapp, klipp, klapp. Tagaus, tagein. Klipp, klapp.

      Laborgespenster

      Das Institutsgelände war ein beeindruckendes Zeugnis französischer Architekturgeschichte. Den roten Backsteinbauten mit ihrer schlichten Eleganz aus der Gründungszeit des Instituts waren in fast jedem Jahrzehnt neue Gebäude hinzugefügt worden und so fand man bauhausartige Nüchternheit neben asymmetrischen Abenteuern aus den achtziger Jahren und den luftigen Glasbauten der Neunziger. Dazwischen erstreckten sich großzügige Rasenflächen. Vor einem der Gebäude war eine lange Tafel mit weißer Tischdecke aufgebaut. Vermutlich verabschiedete sich heute einmal wieder einer der zahlreichen ausländischen Gastwissenschaftler von seinen Kollegen mit einem Umtrunk.

      Als Julia vor Jahren zum ersten Mal als Doktorandin am Institut zu Gast gewesen war, hatten die jüngeren Wissenschaftler solche Gelegenheiten gerne ergriffen, um wilde Gelage zu veranstalten. Julia hatte damals nicht nur einmal bis morgens um fünf auf den Dächern der Institutsgebäude mit Franzosen, Russen, Amerikanern, Japanern und Chilenen getanzt. Inzwischen schien ein Umtrunk einfach ein Umtrunk zu bleiben. Entweder die jungen Studenten waren sehr seriös geworden oder sie feierten zuhause, fernab vom Druck der Laborergebnisse, Doktorarbeiten und Veröffentlichungen. Obwohl Julia es immer als sehr befreiend empfunden hatte, auf dem Dach des Instituts zu tanzen. Es war wie eine Art Exorzismus, die Forschung buchstäblich mit den Füßen zu treten.

      „Salut Sandrine!“ begrüßte Julia die technische Assistentin, als sie in das Labor kam. Sandrine, eine rundliche, gut gelaunte Brünette, war wie fast jeden Morgen gut eine Stunde vor ihr im Institut angekommen, um die Parasitenkulturen vorzubereiten. Julias Untersuchungen konnten damit reibungslos beginnen. Sandrine war eine wahre Perle. Sie hatte fast dreißig Jahre Laborerfahrung und Julia hatte noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, der ihr die Arbeit so sehr erleichterte. Ihr Berliner Institut stellte für die technische Assistenz Studenten zu Niedriglöhnen ein. Die waren zwar oft hochmotiviert, aber Sandrines Erfahrung konnten sie nicht mitbringen. Leider war Sandrine auch in ihrem französischen Institut eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Die Zeiten, als alle Mitarbeiter von der Putzfrau bis zum Direktor ihr gesamtes Berufsleben lang Institutsmitglieder und stolz darauf gewesen waren, gehörten längst der Vergangenheit an. Die Reinigungsarbeiten waren an ein externes Unternehmen ausgelagert, Studenten ersetzten die technischen Assistenten und die jüngeren Forscher hangelten sich von einem Jahresvertrag zum nächsten, wenn ihre Verträge überhaupt auf ein Jahr angelegt waren. Die älteren Institutsmitglieder behaupteten steif und fest, dass selbst das Essen in der Kantine früher um Klassen besser gewesen sei.

      Bald dreißig Jahre Berufserfahrung hatten Sandrine nicht nur zu einer erstklassigen Laborkraft gemacht, sie hätte auch gut als Chronistin des Instituts getaugt. Sie hatte alle Wendungen des Wandels vom Elfenbeinturm der Geschützten und Privilegierten zur ergebnisorientierten Forschungsfabrik miterlebt, kannte jeden Machtkampf und jede Eifersüchtelei zwischen den Alphatieren des Instituts, den Forschungsgruppenleitern, den Direktoren und denen, dies es gerne geworden wären. Sie hatte die Triumphe der einen miterlebt und die Enttäuschungen der anderen. Sie war Zeugin dramatischer Wendungen beim Wechsel der Institutsleitung gewesen, wenn die aussichtsreichsten Karrieren plötzlich ein abruptes Ende nahmen, während längst als zweitrangig eingestufte Forscher aus bis dahin von der allgemeinen Aufmerksamkeit völlig abgeschiedenen Labors auf einmal ihren Stern in neuem Glanz erstrahlen sahen. Sie kannte die geheimen Liebesaffären, die gebrochenen Herzen und die Fälle von sexueller Belästigung. Sie wusste um unzählige Geschichten von gescheiterten Laufbahnen und abgebrochenen Doktorarbeiten, die manchmal in ein zufriedenes, oft sogar erfolgreiches Leben mündeten, manchmal mit beruflichem oder persönlichem Niedergang endeten.

      Vor einigen Jahren hatte sich eine Doktorandin nach einem vernichtenden Urteil ihres Betreuers vom Dach eines der Institutsgebäude gestürzt. Als wenn die einschneidenden Ereignisse am Institut sie mit magischer Kraft anzögen, war es Sandrine gewesen, die den Körper am nächsten Morgen fand. Die Erinnerung an den zerschmetterten Schädel der jungen Forscherin würde sie sicher bis weit über die Pensionierung hinaus verfolgen.

      Sie war in die persönlichen Probleme der Mitarbeiter in den Kantinen eingeweiht und in die Freundschaften und Abneigungen zwischen technischen Assistenten. Sie wusste, wer von ihnen morgens gerne zur Arbeit kam, und wem die Zusammenarbeit mit den Kollegen solche Magenschmerzen bereitete, dass die Aussicht auf Frühverrentung der einzige Hoffnungsschimmer war.

      Julia hatte keine Ahnung, bei welcher Gelegenheit Sandrine all dieses Wissen ansammeln konnte. Abgesehen von der Mittagspause und einem gelegentlichen Schwätzchen in der Teeküche schien sie den ganzen Tag im Labor auf ihre Arbeit konzentriert zu sein.

      „Was gibt es Neues?“ fragte Julia.

      „Nichts Neues, nur das Übliche“, sagte Sandrine, ohne aufzublicken. „Joyce und Rachida haben sich gestern wieder so wild gestritten, dass ich dachte, jetzt fangen sie bald an, sich mit Parasitenkulturen zu bewerfen.“

      „Worum ging es denn?“

      „Afghanistan, Israel, Terrorismus – wie immer.“

      Joyce war eine amerikanische Gastwissenschaftlerin im Nachbarinstitut, die gerne und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die amerikanische Außenpolitik der vergangenen Jahre und die damit verbundene Weltsicht verteidigte. Damit war sie ausgerechnet auf Rachida gestoßen, eine selbstbewusste und leidenschaftliche Laborassistentin mit