Julia Himmel

Stadt und Gespenster


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herum, manchmal allein.

      Für den Fall, dass es sich doch nicht festhalten ließ, das Glück dieses Augenblicks, feierten es die Hochzeitsgäste. Mit großem Lärm und Heiterkeit. Die Chinesen von Belleville im wuchtigen, rosa Cadillac, die Franzosen, deren Vorfahren aus Nordafrika nach Paris gekommen waren, mit ohrenbetäubendem Hupkonzert, die schwarzen Afrikaner mit exotischen Zungengeräuschen und Ululu-Gebrüll, die weißen Franzosen mit dezenten Schwiegermuttertränen.

      Den Familien gehörte der Park, wie jedes Wochenende.

      Julia lief langsam nachhause zurück.

      Am Morgen, tiefschwarze Nacht

      Im Schlafzimmer war tiefschwarze Nacht.

      „Basti“, Julia berührte Sebastian leicht an der Schulter.

      „Hhhmmm.“

      „Können wir kurz sprechen?“

      Sebastian atmete laut und kräftig ein als wollte er seine Lungen mit Wachheit füllen. „Ja“, flüsterte er leise.

      „Ich bin so traurig.“

      Sebastian zog Julia an sich, legte sanft ihren Kopf auf seine Schulter.

      „Wir hätten nie auf diese Ärztin hören sollen. Diese Eso-Tante, die immer gesagt hat, wir sollen warten und uns entspannen.“

      Sebastian umschloss mit beiden Armen Julias Körper.

      „Und ich habe es doch kommen sehen. Ich wollte schon nach einem halben Jahr in die Kinderwunschklinik. Warum habe ich nicht darauf bestanden? Warum habe ich denn nur nicht darauf bestanden?“

      „Basti!“ Julia drückte Sebastian mit aller Macht an sich, als könnte sie ihren Schmerz mit dieser Umarmung ersticken. „Wenn wir damals die Behandlungen gleich gemacht hätten, dann hätte es vielleicht noch klappen können. Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du nicht dafür gesorgt, dass wir etwas unternehmen?“

      Sie schluchzte. „Jetzt ist es zu spät.“

      Sebastian stieß ein unterdrücktes Stöhnen der Hilflosigkeit aus.

      „Du hast dir doch auch Bücher zu dem Thema gekauft. Das steht überall, dass man keine Zeit mehr verlieren darf mit Mitte dreißig. Warum hast du nicht dafür gesorgt, dass wir uns gleich behandeln lassen?“

      Julia trat wütend in die Luft. „Ich hätte einfach ja sagen sollen, als dieser arrogante Hämatologe aus der Charité mich gefragt hat, ob ich eine künstliche Befruchtung brauche. Ich hätte sagen sollen ja, zeig mal, was du kannst, anstatt mich über die Indiskretion aufzuregen. Vielleicht hätte der wirklich etwas für uns tun können.“

      Sebastian schwieg.

      „Basti!“, rief Julia verzweifelt.

      „Ja“, sagte er leise.

      „Wir hätten nie nach Frankreich kommen sollen. Wenn wir in Deutschland geblieben wären, dann wären wir nach der Fehlgeburt viel eher wieder zum Arzt gegangen. Vielleicht wäre das noch rechtzeitig gewesen.“

      „Nicht immer in die Vergangenheit blicken“, flüsterte er. „Das bringt doch nichts. Wir leben jetzt.“

      Inzwischen hatten sich beide an die Dunkelheit gewöhnt. Julia sah Sebastian aus großen, verzweifelten Augen an.

      „Bist du nie traurig?“

      „Doch.“

      „Aber nicht so wie ich. Nicht die ganze Zeit.“

      Sebastian atmete tief durch. „Ich denke auch mal an was anderes.“

      „Wie oft denkst du daran?“ Julia betonte das „da“, als sei es die einzige Silbe von Bedeutung in ihrem Satz.

      „Ich weiß nicht.“

      „Sag doch mal.“

      Sebastian schwieg.

      „Einmal die Woche? Einmal am Tag? Einmal in der Stunde?“

      Sebastian stöhnte abwehrend.

      „Sag doch mal. Ich möchte wissen, wie du dich dabei fühlst. Ich möchte das einfach wissen.“

      „Einmal am Tag vielleicht.“

      „Aber warum bist du denn nicht traurig? Du wolltest doch auch immer ein Kind haben.“

      „Wir bekommen unser Kind noch.“

      „Basti“, Julias Schrei gellte durch die ganze Wohnung. „Verstehst du das denn wirklich nicht?“ Sie richtete sich abrupt auf. „Hast du den Arzt nicht verstanden? Ich habe dir die Artikel doch gezeigt. Weniger als ein Prozent. Ein Prozent.“ Julia schüttelte den ausgestreckten Zeigefinger vor Sebastians Gesicht. „Weniger als ein Prozent der Frauen mit meinen Problemen bekommen noch ein Kind. Ein Prozent.“ Sie ließ den Oberkörper wieder auf das Bett fallen. Mit den Händen krallte sie sich an zwei Büscheln ihrer dicken, dunklen Haare fest. „Warum kannst du das denn nicht verstehen?“

      Sie weinte leise.

      Sebastian stand auf und wusch sich im Badezimmer die Hände. Als er wieder ins Schlafzimmer kam, sah Julia ihn erschöpft durch eine Tränendecke an. Sie schüttelte langsam Kopf. „Wir haben alles vermasselt, Basti. Wir haben das Wichtigste im Leben verpasst.“

      „Wir haben ein gutes, schönes Leben.“

      „Wir haben kein Kind. Wir werden nie unser Kind bekommen. Warum sollen wir denn jetzt noch vierzig Jahre leben, wenn wir niemanden bei uns aufwachsen sehen können? Wenn wir uns um niemanden kümmern können? Wozu denn? Was sollen wir denn machen?“

      „Du tust so, als wenn wir nichts wären. Als wenn es uns gar nicht gäbe.“

      Diesmal stöhnte Julia abwehrend. „So meine ich das nicht. Du bist mein Schatz. Du weißt, dass du mein Schatz bist. Aber was sollen wir denn machen ohne Kind? Einfach nur reisen und konsumieren? Das ist doch nichts wert auf Dauer. Warum sollen wir denn leben?“

      „Um ein schönes, gutes Leben zu führen. Du und ich zusammen.“

      „Aber wir werden einfach nur alt und haben keine Kinder.“

      „Na und? Dann werden wir eben alt.“

      „Ich will so nicht leben.“ Sie schluchzte und bedeckte dabei ihr Gesicht mit den Händen. „Ich bin auch schon halb tot.“

      „Wieso bist du halb tot? Was soll denn das?“

      „Kein neues Leben kann mehr aus mir entstehen. Wer kein Leben mehr schenken kann, ist schon halb tot.“

      Sebastian lief mit laut stampfenden Schritten aus dem Zimmer.

      Julia richtete sich abrupt auf. „Basti, es tut mir leid. Ich höre ja schon auf. Es tut mir leid. Bitte komm zurück.“ Sie hielt die Bettdecke hoch. „Es tut mir leid. Bitte komm zu mir. Nur einen Moment. Ich höre schon auf.“

      Sebastian kam langsam ins Schlafzimmer zurück. Er atmete tief aus und legte sich unter die angebotene Decke. Julia und er umarmten sich.

      „Ich höre schon auf. Und dann gehe ich da wieder hin. Ins Labor. Es hilft ja nichts.“

      Die Stadt in der Metro

      Es dämmerte, als Julia in der Küche ihren Kaffee trank und die Zeitung las. Vereinzelt hörte sie die Türen der Nachbarn ins Schloss fallen. Wer weit draußen in der Vorstadt arbeitete, musste sich früh dem täglichen Wettrennen um Platz und Fortkommen in der Metro stellen. Ihre rothaarige Nachbarin mit dem gewinnenden Lächeln, die eine Schule in einer der von sozialen Problemen geplagten Vorstädte im Osten leitete, verließ das Haus um halb sieben. Im Sommer nahm ihr Mann sie manchmal auf dem Motorrad mit.

      Julia lag gewöhnlich im Mittelfeld des großen Heeres der Arbeiter und Büroangestellten, die täglich im Laufschritt durch die Metro-Schächte