Norbert Abts

Schonzeit - Landläufige Geschichten


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so oft, holt er den Schuhkarton aus dem alten Rollschrank. Deckel und Schachtel sind mit einem ausgeleierten Einmachgummi zusammen gehalten. Und wieder ist da dieser besondere Geruch, den nur alte Fotos haben, und den er so mag. Sein Bruder Paul war neun Monate alt als er starb. Auf dem Schwarzweißfoto mit den gezackten Rändern liegt er mit ge­falteten Händen, von Blumengirlanden bedeckt, wie schlafend, in einem offenen weißen Kindersarg.

      Seine Eltern wollten immer nur ein Kind. Das haben sie ihm schon öfter erzählt. Und deshalb glaubt Thomas, dass er nur geboren wurde, weil sein Bruder gestorben ist. Manchmal denkt er, dass sein Bruder für ihn gestorben ist und dass Gott etwas Besonderes mit ihm vorhat. Etwas, von dem er noch nichts weiß, das aber bestimmt kommen wird, irgend­wann.

      Er möchte um seinen toten Bruder weinen, aber er kann es nicht. Er konnte es noch nie.

      Thomas legt sich ins Bett und starrt an die Decke. Er muss wieder an die Menschen da oben im Flugzeug denken. Für einen Moment scheint es ihm sogar wahr­scheinlich, dass sie vielleicht gar nicht auf der Erde, sondern auf einem fremden Planeten landen werden. In einem anderen Sonnensystem, einer anderen Galaxie.

      Und als er sich diese schwarze Galaxie vorstellt, mit ihren tausenden Gestirnen und ihrer nicht zu begreifenden dunklen Unendlichkeit, schläft Thomas dann doch noch ein.

      Mit einem Gefühl von unbestimmter Angst. Und großen Erwartungen.

      Hinter Gardinen

      Jakob erwacht aus einem traumlosen Schlaf. Pulsierendes blaues Licht wirft seinen Schein an die Zimmerdecke. Er schaut auf den Wecker. Es ist kurz nach Mitternacht. Ein Unfall auf der Kreuzung, denkt er. Obwohl es um diese Zeit kaum Verkehr gibt. Er steht auf, steckt seine Füße in die Filzpantoffeln und schlurft zum Fenster. Polizei und Krankenwagen stehen auf dem Bürgersteig. Sonst sind keine Autos zu sehen, die in einen Unfall verwickelt sein könnten. Es regnet. Die Blaulichter spiegeln sich dutzendfach in der nassen Straße und in den Fenstern der Häuser. Vielleicht hatte jemand einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Es gibt einige Kandidaten in den Häusern gegen­über, die so wie er über siebzig sind und die dafür in Frage kämen. Zwei Polizisten sitzen in ihrem Fahrzeug und scheinen auf etwas zu warten. Einer gibt jetzt etwas über Funk durch. Die Seitenscheibe des Kranken­wagens ist zweigeteilt. Durch den oberen durch­sichtigen Teil kann Jakob schemen­haft den Oberkörper einer älteren Frau erkennen, die wild gestikulierend auf der Trage sitzt. Sie wird von zwei Sanitätern an den Armen festgehalten. Für einen Moment glaubt Jakob, es sei seine eigene Frau, die er da unten im Krankenwagen sitzen sieht. Sie hat eine Decke um die Schultern gelegt. Er sieht sie nur im Profil und die langen grauen Haare lassen nun kurz ihre Nasenspitze sichtbar werden und er spürt, wie eine plötzliche Hitzewelle sich in seinem Körper aus­breitet. Er hatte nicht neben sich geschaut, als er aufgestanden war und jetzt hat er Angst sich zu ver­gewissern, ob Barbara noch in ihrem Bett liegt. Stattdessen schließt er die Augen und konzentriert sich darauf, ihr Atmen zu hören. Oder eine leise Bewegung im Schlaf. Zehn Sekunden. Zwanzig Sekun­den. Aber Jakob hört sie nicht atmen, hört sie nicht sich bewegen.

      Er ist alleine im Schlafzimmer.

      Jakob nimmt seinen Morgenmantel vom Fußende des Bettes und zieht ihn sich über. Er nimmt auch gleich Barbaras Mor­genmantel, Socken und Pantoffeln. Sie wird frieren, denkt er. Sie hat immer kalte Füße, selbst im Sommer.

      Die Schlafzimmertür steht offen. Und auch die Wohnungstür. Er geht die Treppe hinunter und öffnet die Haustür. Der Regen nimmt ihn in Empfang. Er hat den Schirm vergessen. Er hat sich keine Socken angezogen. Und festes Schuhwerk wäre sinnvoller gewesen als seine Filz­pantoffeln, die sich schon nach den ersten Schritten mit Wasser voll gesogen haben. Er schaut nur flüchtig nach rechts und links und überquert die Kreuzung. Er erahnt die Nachbarn, die ihn hinter den Gardinen beobachten. Der Regen läuft ihm übers Gesicht und den Nacken hinunter bis an den Bund seiner Schlafanzughose. Er wird sich erkälten. Alte Menschen sterben gerne an einer Lungen­entzündung, denkt er. Das geht ganz schnell. Dann steht er neben dem Krankenwagen. Er klopft an die Scheibe der Seitentür. Ein Sanitäter öffnet.

      »’n Abend. Ich bin Jakob Engels. Das ist meine Frau da drinnen.«

      Jakob deutet zögerlich mit der Hand auf Barbara.

      »Mensch, kommen Sie rein, Sie sind ja klatschnass.«

      Der Sanitäter greift unter seinen Arm und zieht ihn in den Wagen. Jakob setzt sich neben seine Frau auf die Trage, legt einen Arm um sie und küsst sie auf die Wange. Barbara scheint sich wieder be­ruhigt zu haben. Er nimmt die Decke von ihren Schultern und zieht ihr den Morgen­mantel an.

      »Ich will nach Hause«, sagt Barbara und starrt einen der Sanitäter an, mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Angst.

      »Gleich können Sie mit Ihrem Mann nach Hause gehen, Frau Engels«, sagt die junge Notärztin, die irgendetwas auf ein Klemmbrett notiert.

      »Haben Sie ihr was gegeben?« fragt Jakob.

      »Nur ein harmloses Beruhigungs­mittel.«

      »Ich will nach Hause, ich will jetzt nach Hause.« Barbara macht Anstalten von der Trage aufzustehen.

      »Wir gehen ja gleich«, sagt Jakob und bedeutet ihr noch kurz sitzen zu bleiben. Sie schürzt die Lippen und ist offen­sichtlich böse auf ihn.

      Bemüht nicht dabei zu stöhnen, kniet Jakob sich vor seine Frau und zieht ihr Socken und Pantoffeln an.

      »Herr Engels, ist so was schon öfter mal vorgekommen? Ich meine, dass Ihre Frau so einfach weg läuft.«

      »Nein, das hat sie noch nie getan. Natürlich gibt es Tage, wo sie verwirrt ist und nicht genau weiß, wo sie ist. Aber das ist immer nur vorübergehend.«

      »Sie müssen in Zukunft besser auf Ihre Frau aufpassen«, sagt die Notärztin lächelnd und legt ihm ihre Hand auf die Schulter. Sie hat gelernt, wie man mit alten Menschen umzugehen hat, denkt Jakob. Es ist ihm unangenehm, dass die junge Frau ihn so berührt, so als wäre er ein kleiner Junge, der einen verzeihlichen Fehler gemacht hat. Sie ist so selbst­bewusst, so überzeugt von dem, was sie tut. Die Haare zu einem Pferde­schwanz zusammen­gebunden, hat sie eine voll­kommen klare Vorstellung von ihrer Zukunft, denkt Jakob. Er fühlt sich hilflos.

      »Schließen Sie vor allem nachts die Wohnungstür ab, ja? Am besten auch tagsüber. Sie hat Glück gehabt, dass sie nicht von einem Auto angefahren wurde.«

      Sie schaut auf ihr Klemmbrett.

      »Ein Herr Hoffmann, ein Nachbar von Ihnen, hat Gott sei Dank die Polizei verständigt.«

      Hoffmann, denkt Jakob. Natürlich musste er als erstes die Polizei rufen, statt ihm direkt Bescheid zu sagen. Dieses Arschloch hat bestimmt seinen Spaß daran, wenn alle im Dorf mitbekommen, dass Barbara verrückt geworden ist und nachts halbnackt auf die Straße läuft.

      »Dann lass uns gehen, ja?«, sagt Jakob.

      Barbara starrt vor sich hin und sagt nichts. Der Sanitäter schiebt die Tür auf. Der Regen hat aufgehört. Die Polizei ist nicht mehr da.

      »Danke für Ihre Hilfe«, sagt Jakob zu niemand Bestimmtem. »Vielen Dank.« Jakob hilft seiner Frau aus dem Wagen.

      »Kein Problem. Dafür sind wir ja da.« Die Krankenwagentür wird zuge­schoben.

      Und sofort spürt er wieder die Blicke hinter den Vorhängen und Gardinen. Auch wenn sie im Dunkeln stehen, sie sind da, sie beobachten ihn, sie flüstern sich etwas zu. Er glaubt es fast hören zu können, ihr Tuscheln, ihre Boshaftig­keiten.

       Sieh ihn dir an, sagen sie…sieh ihn dir an, da geht er…seit er Barbara kennen gelernt hat, hat sie ihn nur betrogen…das ganze Dorf hat es gewusst…und er hat zu ihr gehalten…sieh ihn dir an…und dann hat er sie doch tatsächlich geheiratet…er hat diese Frau auch noch geheiratet…alle haben über ihn gelacht…er ist es selber schuld…so dumm kann man nicht sein…in Weiß hat sie ihn geheiratet…in Weiß…ihre Hoch­zeit war ein großes Fest…da unten geht er…man glaubt es nicht…drei ihrer