Irene Dorfner

Du kannst ihm nicht vertrauen...


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oder?“

      „Natürlich verstehen wir das, wir können uns den Selbstmord doch auch nicht erklären. Unsere Katharina hatte keine Freunde, zumindest haben wir nichts davon mitbekommen. Sie war immer fleißig und zuverlässig, wir konnten uns immer auf sie verlassen. Wir haben noch gemeinsam ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert und dann ist sie einfach verschwunden. Sie nahm nur eine Tasche mit, mehr nicht. Wir haben sie überall gesucht, aber nicht gefunden. Unsere Hoffnung war, sie nach den Sommerferien in der Schule anzutreffen. Mein Mann hat unsere Tochter abgepasst, aber sie wollte nicht mit ihm reden. Weitere Versuche, mit ihr zu sprechen, wurden vom Hausmeister vereitelt. Wir haben irgendwann aufgegeben und wollten sie nicht weiter bedrängen, darin waren wir uns einig. Wir waren froh, dass sie zur Schule ging und hofften darauf, dass sie irgendwann zur Vernunft kommt.“

      Toni stöhnte auf, denn langsam ging es ihm auf die Nerven, dass die Eltern ihre Tochter offenbar nicht kannten. Wie war das möglich?

      „Was machen Sie beruflich?“, wandte sich Diana an Jürgen Oberwinkler.

      „Ich bin im Außendienst tätig“, war die knappe Erklärung, die Diana aber nicht zufriedenstellte.

      „Welche Branche?“

      „Möbel, genauer Polsterungen von Sofas, Couchgarnituren und Liegen.“ Dass Oberwinkler diesen Job schon sehr lange nicht mehr ausübte, behielt er für sich. Was ging das die Polizei an und was hatte seine Arbeitslosigkeit mit Katharinas Tod zu tun?

      „Und was arbeiten Sie?“

      „Meine Frau kümmert sich um den Haushalt und um die Familie, das ist genug Arbeit.“

      Diana nickte und machte sich Notizen.

      „Sie haben einen Sohn?“

      „Ja. Elias ist sechzehn und geht noch zur Schule. Er soll Abitur machen und studieren, zumindest wünschen wir uns das. Für unsere Tochter hatten wir uns einen ähnlichen Weg gewünscht.“

      „Wo ist Ihr Sohn jetzt?“

      „In seinem Zimmer. Sie werden verstehen, dass er sich zurückgezogen hat, schließlich hat er seine Schwester verloren.“

      „Kann ich mit ihm sprechen?“, mischte sich jetzt Toni ein, der sehr froh wäre, wenn er dieser drückenden Atmosphäre entfliehen könnte.

      „Gerne“, sagte Greta Oberwinkler, „ich zeige Ihnen das Zimmer.“ Sie bemerkte nicht die Blicke ihres Mannes, die sehr vielsagend waren. Er hätte ein Gespräch mit seinem Sohn nicht erlaubt, das war Diana sofort klar. Mit diesem Mann war nicht zu spaßen. Hier gab er sich bieder und verständnisvoll, aber das war er sicher nicht immer. Sie war davon überzeugt, dass er der Chef des Hauses war und ein strenges Regiment führte. Er hätte protestieren können, was sein gutes Recht gewesen wäre, aber er tat es nicht.

      „Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie ein Gespräch mit Ihrem Sohn erlauben. Es ist für unsere Arbeit sehr wichtig, mit allen Beteiligten zu sprechen und so viele Informationen wie möglich zu sammeln“, sagte sie deshalb zu Oberwinkler, um ihn zu besänftigen. Diana wollte nicht wissen, wie er später reagierte, wenn sie und Toni das Haus verlassen hatten. Sie manövrierte Oberwinkler geschickt in ein Gespräch. Er erzählte von Urlauben und von seiner Tochter, als sie noch ein kleines Kind war. Am Leuchten in seinen Augen konnte Diana sehen, dass er sie sehr geliebt hatte. Allerdings fiel ihr auch auf, dass sich seine Geschichten nur um das Kleinkindalter drehten, obwohl Katharina achtzehn Jahre alt geworden war.

      Greta Oberwinkler klopfte nicht an die Zimmertür ihres Sohnes, sondern trat einfach ein. Elias lag auf seinem Bett und starrte vor sich hin.

      „Die Polizei möchte dich sprechen.“

      „Ich will aber nicht!“

      „Du musst, es geht um deine Schwester! Benimm dich bitte anständig! Und leg dich tagsüber nicht aufs Bett. Du weißt doch, dass Vati das nicht mag.“ Frau Oberwinkler sprach leise, aber Toni hatte trotzdem jedes Wort verstanden. Er sah sich um und war erschrocken. Das soll das Zimmer eines Sechzehnjährigen sein? Die Möbel waren altmodisch und die geblümte Bettwäsche gehörte eher zu einer alten Frau, als zu einem Jugendlichen. An den Wänden hingen keine Poster, sondern Familienbilder. Er schüttelte den Kopf, was Mutter und Sohn nicht sahen.

      „Darf ich mit Ihrem Sohn allein sprechen?“

      „Sehr gerne. Wenn Sie etwas brauchen, finden Sie mich im Wohnzimmer.“ Sie sah ihren Sohn an. „Du benimmst dich, ja? Ich verlasse mich auf dich.“

      Elias Oberwinkler nickte nur, auch wenn man ihm ansah, dass er keine Lust auf ein Gespräch hatte, vor allem nicht mit der Polizei.

      „Mein aufrichtiges Beileid, Elias.“

      „Passt schon.“

      „Hast du eine Ahnung, warum sich deine Schwester umgebracht hat?“

      „Nein, die habe ich nicht. Sie hatte doch alles, zumindest sehr viel mehr als ich.“

      „Wie muss ich das verstehen?“

      „Kathi war das Musterkind. Sie hat immer alles richtig gemacht und meine Eltern waren stolz auf sie. Egal was ich gemacht habe, ich habe nie genügt. Immer wurde ich mit Kathi verglichen. Außerdem hatte sie den Absprung geschafft, während ich dazu verdammt bin, hierbleiben zu müssen. Sie hat mich einfach im Stich gelassen.“

      Toni spürte die Bitterkeit und die Trauer.

      „Hatte sie Probleme?“

      „Es gab einige Vorfälle in der Schule, aber die sind lange her.“

      „Wovon sprechen wir?“

      „Keine Ahnung, Mann! Ich war nicht dabei und Kathi hat mir nichts erzählt.“

      „Hatte sie Liebeskummer?“

      „Das kann ich mir nicht vorstellen! Kein vernünftiger Junge hätte an ihr Interesse gehabt, das können Sie mir glauben. Sie gehörte zu den uncoolen Strebern, die niemand mag.“

      Toni musste schmunzeln, denn der Junge vor ihm machte auf ihn denselben Eindruck.

      „Deine Schwester und du habt keine Handys oder Laptops?“

      „Nein, unsere Eltern erlauben das nicht.“

      Toni spürte, dass Elias nicht ganz die Wahrheit sagte. Er musste versuchen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und zu dem Jungen durchzudringen. Sie sprachen über Musik, Fernsehsendungen und alles, was junge Leute interessieren könnte. Toni gefiel das Interesse und die Begeisterung, aber Elias wurde von seinen Eltern von allem ferngehalten.

      „Du warst noch nie in Tüßling bei einem Konzert? Das kann ich nicht glauben!“ Toni wusste von den dortigen Veranstaltungen, die jedes Jahr stattfanden und bei denen berühmte Sänger auftraten.

      „Nein. Meine Eltern mögen diese Art Musik nicht.“

      „Aber du schon, oder?“

      „Ja. Aber ich darf dort nicht hin.“

      „Sie müssen es ja nicht erfahren.“

      „Wie soll das gehen? Ich darf nach achtzehn Uhr nicht mehr raus, die Konzerte fangen alle sehr viel später an. In diesem Jahr finden wegen diesem dämlichen Corona keine Konzerte statt. Das finde ich gut, denn dann muss ich mich über das Verbot meiner Eltern nicht ärgern.“

      „Deine Eltern sind ganz schön streng, oder?“

      „Streng ist gar kein Ausdruck. Das, was mein Vater sagt, ist in unserem Haus Gesetz – und meine Mutter stimmt ihm in allem zu. Sie hat keine eigene Meinung und findet jeden Schwachsinn, den er von sich gibt, immer ganz toll. Ich darf nichts tun, was meinem Vater nicht gefällt. Die Kathi war in seinen Augen immer perfekt. Sie wurde gelobt und an ihr wurde ich gemessen. Sie hat nur ein einziges Mal aufgemuckt. Im letzten Jahr wollte sie zu einer Geburtstagsfeier und mein Vater ist fast ausgerastet.“ Elias merkte nicht, dass er noch so von seiner Schwester sprach, als wäre sie noch am Leben. „Aber Kathi hat gebettelt und gebettelt. Mein Vater ist in solchen Dingen