L.U. Ulder

Taubenzeit


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sie genauso lautlos, wie sie gekommen waren. Die Plastiktüte mit der leeren Dose landete, weit entfernt von ihrem Verwendungsort, im Müllcontainer eines Mehrfamilienhauses.

      Kapitel 2

      Mit der linken Hand schloss Valerie umständlich die Tür auf und drückte sie schwungvoll in den Flur hinein. In der rechten Hand trug sie zwei volle Einkaufstüten und war froh, sie an der Wand neben dem Eingang zur Garderobe abstellen zu können.

      „Anna?“

      Keine Antwort.

       Wo steckte sie, wenn man sie schon mal brauchte?

      Valerie hatte Zoè in den Kindergarten gebracht und war auf der Rückfahrt schnell in den Supermarkt gehetzt, um sich einen zweiten Weg zu ersparen.

      Mit einer Handbewegung warf sie ihre Jacke um die Ecke auf einen Haken, nahm mit beiden Händen die Tüten auf und ging in die Küche. Mit hastigen Bewegungen sortierte sie nur die Lebensmittel heraus, die dringend gekühlt werden mussten, der Rest verschwand in einem Schrank. Darum würde sie sich nach dem Besuch kümmern.

      „Anna, wo steckst du?“

      Wieder keine Antwort. Valerie ging zurück in den Flur. Durch den Zugang des vom Wohnzimmer abgetrennten Arbeitsbereiches konnte sie sehen, dass der Computer auf dem Schreibtisch eingeschaltet war.

      „Hier steckst du. Warum antwortest du nicht?“

      „Ach, du bist wieder zurück? Hab dich gar nicht gehört.“

      Valerie war nicht entgangen, dass sich die Grundfarbe des Bildschirmes abrupt verändert hatte, als sie nähergekommen war.

      Sie schüttelte den Kopf und drehte ab, um im Bad zu verschwinden. Vor dem Spiegel kontrollierte sie schnell ihre Kleidung und den Sitz der Hochsteckfrisur. Beim Verlassen des Badezimmers fiel ihr Blick auf das Bild mit dem kleinen Mädchen im blauen Mantel. Der rotzige Blick, das selbstbewusste Auftreten der Stiefel. Sie war froh, den Kroyer an diesem zentralen Punkt im Flur platziert zu haben. Er strömte Ruhe aus und Familie. Wie keinen anderen Gegenstand verband sie ihn mit behüteten Kindheitstagen, mit Sonne und Ferien am Strand. An manchen Tagen meinte sie sogar, das Salz des Meeres auf ihren Lippen schmecken zu können.

      Heute nicht.

      Die Sorge um Zoés Zukunft schnürte ihr förmlich die Luft ab. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, dass sie am liebsten zehn Dinge auf einmal erledigen wollte.

      „Anna. Hast du den Frühstückstisch abgeräumt?“

      Wieder blieb die Antwort aus. Ärgerlich sog sie die Luft durch die Nase. Mit großen Schritten hastete sie durch den langen Flur, links vorbei an der Küche. Beim Vorbeigehen an dem schmalen Durchgang registrierte Valerie aus den Augenwinkeln, wie sich erneut der Computerbildschirm veränderte. Die dominierende Farbe wechselte von einem verwaschenen Grün zu grellem Weiß.

      Zum zweiten Mal!

      Irritiert zog sie die Augenbrauen hoch, war aber viel zu angespannt, um sofort zu reagieren. Sie ging einige Schritte in den Essbereich hinein und stellte erleichtert fest, dass der Tisch aufgeräumt war, sogar die mit dunklem Leder bezogenen Stühle standen ordentlich an ihren Plätzen. Vorsichtshalber bückte sie sich und entdeckte auf dem Teppich unter Zoés Stuhl einige Cornflakesbrösel, die sie mit spitzen Fingern aufnahm, um nichts zu zerdrücken. Ein letzter prüfender Blick in die Runde und sie begab sich zurück in die Küche, um die Krümel zu entsorgen. Am schmalen Durchgang zum Arbeitsbereich wechselte wieder schlagartig die Farbe.

      Laut fragte sie über die Schulter, während sie in die Küche abbog:

      „Was war das gerade eben?“

      „Nichts.“

      Das i kam so unnatürlich lang gezogen, dass aus dem winzigen Wörtchen eine kleine Melodie entstand.

      Niiiiiiiiiiiiichts.

      „Du schaltest jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, eine Seite weg, ich bin doch nicht blind oder blöd.“

      „Ach was.“

      Nun wurde das a länger und länger.

      Valerie sagte nichts. Noch hielten sich Stress und Ärger die Waage. Ihre ganzen Gedanken kreisten nur um den kommenden Termin. Jeden Augenblick musste die Klingel schrillen. Und obwohl sie schon die ganze Zeit gerade auf diesen einen Moment wartete, wusste sie genau, dass sie vor Schreck zusammenzucken würde. Trotz der Anspannung nahm sie sich die Zeit und war mit ein paar schnellen Schritten im Büro.

      „Wieder! Du hast wieder etwas weggeblendet!“

      „Was du auch immer hast. Ich schaue mir verschiedene Seiten an, da wirkt das schon mal so, als würde ich etwas wegschalten.“

      „Ich weiß doch, was ich sehe. Du warst wieder auf dieser versifften Chatseite.“

      „Und wenn. Verboten ist es nicht.“

      „Nein, verboten ist es nicht. Aber jeden Moment bekommen wir Besuch, du weißt das. Frau Berger vom Jugendamt. Wir müssen ein glückliches Paar vorspielen, wenn es keine Schwierigkeiten mit der Adoption geben soll.“

      „Und. Sind wir das nicht?“

      Der süffisante Unterton ließ Valeries grüne Augen zu gefährlichen Schlitzen werden.

      „Du nimmst mich nicht Ernst. Dabei weißt du genau, wie wichtig es ist.“

      Bevor Valerie weiter über den Dialog nachdenken konnte, klingelte es. Wie erwartet zuckte sie zusammen. Mit klopfendem Herzen eilte sie zur Tür.

      Frau Berger war eine Frau von irgendwo zwischen Anfang und Mitte fünfzig mit untersetzter Figur. Sie trug Jeans und Strickjacke.

      Erleichtert schaute Valerie an ihrer eigenen Jeans herunter.

      Helle, kritische Augen musterten Valerie von oben bis unten, der Blick verriet Skepsis. Valeries sportlich legeres Äußeres schien nicht so recht zur eleganten Wohnung im noch eleganteren Stadtteil Rotherbaum zu passen. Was hast du erwartet? Ein Luxusweibchen im Chanelkostüm?

      Schleichend trat die Frau ein, als beträte sie einen Tatort, an dem sie selber keine Spuren hinterlassen wollte. Die Augen wanderten unruhig und prüfend hin und her und schienen das Umfeld zu scannen.

       Der Computer!

      Valeries Puls jagte in die Höhe. Sie ging vor und wurde unwillkürlich schneller, als könnte der mickrige Vorsprung reichen, das befürchtete Unglück zu verhindern. Sie erreichte den kritischen Bereich und hielt vor Aufregung den Atem an. Der Bildschirm war dunkel. Erleichtert atmete sie aus. Anna hatte den Computer ausgeschaltet, war an den Esstisch herangerollt und tat so, als blättere sie interessiert in der Tageszeitung.

      „Darf ich vorstellen? Anna-Lena Holland, meine Lebensgefährtin, und das ist Frau Berger vom Jugendamt.“

      Anna setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und reichte brav die Hand.

      „Ich würde gern aufstehen, aber“, wie entschuldigend zeigte sie auf den Rollstuhl. Ihre dunklen Augen funkelten dabei unternehmungslustig, sie konnte es einfach nicht lassen.

      Valerie atmete tief durch. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie auf Anna aufpassen musste. Sie setzte sich links neben die Freundin und legte ihre linke Hand auf Annas rechte, als könnte sie sie damit an die Leine legen.

       Unsere Nagellacke passen nicht zusammen, wenn man die Hände nebeneinanderlegt. Die Rottöne harmonieren nicht miteinander.

       Merkwürdig, dass mir das nicht vorher aufgefallen ist.

      Was für idiotische Gedanken mir durch den Kopf gehen, erschrak sie sofort.

      „Verheiratet sind Sie beide nicht miteinander?“, kam auch schon die erste, zuckersüß gestellte Frage.

      „Nein, dafür hatten wir noch keine Zeit. Wir sind beruflich zu stark eingespannt.“

      Valerie