L.U. Ulder

Taubenzeit


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hätte Anna gepackt und ordentlich durchgeschüttelt.

      Stattdessen musste sie die Situation irgendwie retten. Valerie umarmte Anna und zog sie an sich, bis sich ihre Wangen berührten. Deutlich spürte sie den Widerstand, den die Freundin aufbaute.

      „Zu stark angespannt ist nicht das richtige Wort. Ich bin selbstständig tätig und Frau Holland unterstützt mich dabei, aber von hier, von zu Hause aus. Es ist nicht so, dass wir ständig unterwegs sind. Vieles kann ich vom Computer aus erledigen. Und einen Trauschein haben wir bislang nicht gebraucht, um glücklich zu sein.“

      Die Jugendamtsmitarbeiterin notierte sich alles mit einem Kugelschreiber, der sich ähnlich widerspenstig anstellte wie Anna. Das Kratzen der Spitze auf dem Papier war für einen endlos wirkenden Moment das einzige Geräusch im Raum.

      „Durch ihre,“ angestrengt suchte sie nach einem passenden Wort, die dadurch entstehende Pause wirkte peinlich, aber es fiel ihr einfach nichts Eleganteres ein, „durch ihre Behinderung ist Frau Holland, also Anna, an das Haus gebunden. Jeden Vormittag kommt eine Physiotherapeutin, um mit Anna zu trainieren. Es ist eigentlich immer jemand hier.“

      Valerie spürte, wie eine unangenehme Hitze langsam in ihr hochstieg und sie sich verhaspelte wie in einer schlecht vorbereiteten mündlichen Prüfung.

       Reiß dich bloß zusammen, kein legasthenisches Gestammel.

      Für einen winzigen Moment meinte sie Ablehnung im prüfenden Blick der Besucherin zu erkennen, oder bildete sie sich das nur ein?

      „Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage ...“

      „Sie können alles direkt fragen,“ fiel ihr Anna ins Wort. „Damit haben wir überhaupt kein Problem. Was genau wollen Sie wissen?“

      Die Frau tippte mit dem Kugelschreiber in Richtung Rollstuhl.

      „Sind Sie von Geburt an an den Rollstuhl gefesselt?“

      „Nein.“

      Nur ein kurzes Nein, keine Erklärung, nichts.

      Valerie schaute hilfesuchend nach oben, als suche sie Beistand bei einer höheren Macht.

      Wieder atmete sie tief ein, es ging los.

      „Anna-Lena sitzt erst seit zwei Jahren im Rollstuhl, sie wurde, sie hatte ...“

      „Ich hatte einen Unfall, vor zwei Jahren. Ich wäre beinahe ertrunken und habe zu wenig Sauerstoff bekommen. Seitdem kann ich meine Beine nicht mehr kontrollieren, weil im Gehirn der Bereich der Motorik betroffen war. Alles andere ist nicht geschädigt worden. Oder? Habe ich einen Schaden?“

      Beinahe verschlagen der Blick, den sie Valerie zuwarf.

      „Nein, natürlich nicht“, obwohl die etwas ganz anderes auf der Zunge hatte.

      „Kannten Sie sich damals schon?“

      „Aber natürlich“, was zunächst nicht einmal gelogen war, aber dann. „Damals waren wir auch schon zusammen.“

      Eifrig schrieb die Dame mit.

      „Warum wollen Sie ausgerechnet dieses Kind adoptieren?“

      „Sie ist die Tochter eines Freundes, der verstorben ist. Sie hat sonst niemanden mehr außer mir, außer uns. Ihr Vater hat es in seinem Testament so verfügt.“

      Die Frau ließ sich lange Zeit, in den Unterlagen zu blättern und sprach dabei wie zu sich selbst.

      „Fünf Jahre alt, britische Staatsangehörige, die Mutter bei der Geburt gestorben, der Vater 2008 in Rom verstorben. Was für ein Schicksal für so ein kleines Würmchen. Die britischen Behörden haben einer Adoption bereits zugestimmt.“

      Endlich schien sie zugänglicher zu werden.

      „Sie spricht nur ein paar Brocken englisch. Als ihr Vater starb, war Zoè drei Jahre alt. Ich habe sie zu mir nach Den Haag geholt, während ich gleichzeitig über einen britischen Anwalt das Adoptionsverfahren angestrengt habe. Wir waren eine Zeitlang zusammen in Den Haag und kurz in Southampton, bevor wir nach Deutschland zurückkamen. Für eine zweisprachige Erziehung war sie meiner Meinung nach zu jung, also haben wir deutsch gesprochen und sie war in der ganzen Zeit in einem deutschen Kindergarten. Wenn sie zurück nach England müsste, könnte sie sich dort nicht verständigen.“

      „Was machen Sie eigentlich genau beruflich, Frau Leving?“

      „Ich bin Privatermittlerin und Frau Holland bekommt eine Rente.“

      „Privatermittlerin? Im Kaufhaus?“

      „Nein, natürlich nicht.“

      Wieder kratzte die Mine über das Blatt.

       Privatermittlerin!

       Kann eine Mine spöttisch klingen?

      Valerie kam sich vor, als säße sie auf einer immer heißer werdenden Herdplatte. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.

      Die Brille der Besucherin war weit auf der Nase nach unten gerutscht. Eigentlich sah die Frau ganz freundlich aus, vor allem, wenn sie lächelte, auch wenn durch die Fragen der Eindruck entstand, dass dies eher versehentlich geschah. Die heruntergerutschte Brille ließ Valerie an ihre Schulzeit zurückdenken. Ihr unbeliebter Physiklehrer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, seine mehr oder weniger unschuldigen Opfer mit stechendem Blick über die dicken Gläser hinweg zu fixieren und paralysieren. Nach einer kurzen Pause holte er dann zur nächsten Frage aus.

      Die Augen der Besucherin wanderten durch das großzügig dimensionierte Wohnzimmer. Vom riesigen Fernseher glitten sie über das Designersofa und blieben an einer Bilderserie hängen, die Zoè schwarzweiß und lebensgroß in verschiedenen Posen zeigte.

      „Finanziell scheinen sie ganz gut dazustehen.“

      Sie ließ offen, ob dies eine Frage oder eine Feststellung war.

      Valerie sah Anna unsicher an, bevor sie antwortete.

      „Ich habe eine Erbschaft gemacht, mein Vater war ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt. Deshalb bin ich finanziell unabhängig. Früher war ich bei der Kriminalpolizei, nach meiner Hospitation bei Europol in Den Haag habe allerdings gekündigt, um mich um Zoè kümmern zu können. “

      Früher, das klang so, als wäre sie schon uralt. Aber genauso kam es ihr vor, als wäre alles ganz weit weg und konnte sie nicht mehr erreichen.

      „Sie haben also Ihren sicheren Beruf aufgegeben, um für das Kind da zu sein.“

      Frau Berger vertiefte sich in ihren Notizblock. Valerie fragte sich, ob die Feststellung gut oder schlecht für sie war.

      „Sind Sie denn in der Lage, sich um ein Kind zu kümmern?“, fragte Frau Berger an Anna gewandt und meinte doch nur den Rollstuhl.

      „Natürlich. Auf Rädern bin ich wesentlich schneller als früher zu Fuß“.

      Anna hatte die Frage sofort durchschaut.

      Valerie schnaufte. Wie lange hatten sie über diesen Tag diskutiert, sie hatte gehofft, dass die Positionen klar waren. Aus Erfahrung wusste sie zur Genüge, wann es Anna reichte und sie die Kratzbürste auspackte. Schnell sprang sie ein.

      „Wir haben eine Haushaltshilfe, die uns entlastet. So haben wir mehr Zeit für Zoè.“

      Wieder der Kugelschreiber, kratz, kratz, kratz.

      „Brauchen Sie tägliche Pflege? Muss sich Frau Leving um Sie kümmern?“

      Annas Augen wurden größer, erst auf Valeries Blick hin schluckte sie tapfer die Antwort herunter und blieb stumm.

      „Anna ist vollkommen selbstständig, bis auf die Physiotherapeutin benötigt sie niemanden.“

      „Mit Männern wird das Kind in seiner Entwicklung nicht in Berührung kommen?“

      Valerie wurde noch wärmer im Nacken.

       Warum gibt es