Gitte Loew

Diebsgrund


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      1. Prolog

      Die alte Lok fuhr in den Bahnhof von Barnaul ein. Die Wärme der Maschinen verwandelte die kalte Luft in Dunst, der langsam aufstieg. Auf dem Bahnsteig hatten sich zahlreiche Menschen versammelt. Ein lautes Stimmengewirr hing über der Menschenmenge. Frauen trugen ihre Säuglinge auf dem Arm, während ältere Kinder fröhlich zwischen den vielen Koffern und Kisten umhersprangen.

      Valentin sah zu seiner Frau Greta hinüber. Sie hatte die Arme um den Hals ihrer Mutter geschlungen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der Schwiegervater stand mit undurchdringlicher Miene am Zug. Er hielt den kleinen Peter an der Hand. Valentin seufzte. Die Zeit drängte. Valentin ging auf die Mutter zu, zog sie wortlos von den Verwandten weg, die sich zum Abschied versammelt hatten. Er half ihr beim Einsteigen. Dann sprang er wieder ins Freie und begann die vielen Koffer ins Innere des Zuges zu tragen. Schon nach kurzer Zeit bildeten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn, die er ärgerlich wegwischte. Sie hatten zu viel Gepäck.

      Als er wieder auf dem Bahnsteig stand, riss er Greta vom Arm ihrer Mutter los. Sie schluchzte laut auf, aber Valentin schob sie energisch zwischen den Menschen hindurch zur Tür. Der Schwiegervater folgte ihm. Er hob den kleinen Peter über die Stufen hinweg in den Zug. Im Zugabteil versuchten Reisende die Fenster zu öffnen, aber sie waren eingerostet. Greta stand weinend am Fenster und winkte nach draußen.

      Valentin sammelte derweilen die restlichen Gepäckstücke ein. Nachdem er mit der letzten Kiste ins Abteil zurückkehrte, ließ er sich erschöpft in seinen Sitz fallen. Er atmete schwer. Sie mussten noch dreimal mit all dem Gepäck umsteigen. Die Reise dauerte vier Tage. Zwischen Barnaul und Berlin liegen ungefähr 4500 Kilometer. Plötzlich ruckte der Waggon, der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Er sah aus dem Fenster. Menschen standen auf dem Bahnsteig und winkten zum Abschied. Die Lok beschleunigte ihre Fahrt. Die Landschaft flog immer schneller vorüber. Valentin fühlte sich müde und schloss die Augen.

      2. Kapitel

      Drei Jahre später

      Valentin stand ungeduldig an der Tür. Als der Zug endlich anhielt, sprang er erleichtert ins Freie. Er brauchte dringend einen Druck, denn seine Hände flatterten bereits. Mit zittrigen Fingern zündete er sich eine Zigarette an. Die Fahrt mit dem Nachtzug von Berlin nach Frankfurt dauerte einfach zu lange. Es wurde von Zeit zu Zeit behauptet, dass man in Frankfurt günstiger als anderswo Stoff kaufen könnte. Vermutlich war das alles nur Gerede, aber jeder Junkie ist gierig auf solche Nachrichten und will es glauben.

      Eine Menge Touristen und Rentner standen auf dem Bahnsteig herum und hielten Ausschau nach Angehörigen. Hinzu kamen viele Pendler, die vom Bahnhof aus über die Kaiserstraße zu ihren Arbeitsplätzen in der City hasteten. Valentin versuchte, in der dichten Menschenmenge voranzukommen. Er verschwand im Strom der Reisenden durch den Haupteingang des Bahnhofs.

      Als er auf dem Bahnhofsvorplatz stand, hob er geblendet vom Licht die Hand vor die Augen. Im Dunst der aufgehenden Sonne spiegelten sich die silbrig glänzenden Hochhäuser des nahen Bankenviertels. Wer hier arbeitete, hatte vermutlich keine Geldprobleme. Gut gekleidete Menschen überholten ihn mit schnellen und energischen Schritten. Sie eilten mit hocherhobenen Köpfen ihren Geschäften entgegen.

      Valentins Deals waren ganz anderer Art. Durch seine abgetragene und schmutzige Kleidung sah man ihm schon von Weitem an, was mit ihm los war. Er stolperte achtlos an jungen Frauen vorüber, die an Hauswände gelehnt ihre Körper zu Spottpreisen anboten. Dazwischen eilten Männer mit stierem Blick durch die Straßen. Bei seinem letzten Besuch in Frankfurt hatte er beobachtet, wie die Polizei das elende Volk am Bahnhof kontrollierte und in alle Winde zerstreute. So wie die Stadtreinigung das Unkraut am Straßenrand entfernen ließ. Derweilen amüsierten sich andere in einem der vielen Etablissements des Rotlichtviertels.

      Valentin wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Er blieb einen Moment stehen und blickte ratlos den vorbeieilenden Gestalten nach. Er war momentan pleite und hielt Ausschau nach einem Mann, der ihm manchmal Geschäfte vermittelte. Zu Anfang seiner Drogenkarriere wollte er die Geschichten vom besseren Preis glauben. Mittlerweile war er schlauer geworden und wusste, dass nicht nur der Preis zählte, sondern die guten Verbindungen.

      Angefangen hatte alles im Knast. Er brauchte damals das Dope, um dem Albtraum des Knasts für einige Zeit entkommen zu können. Zu Beginn schluckte er Pillen, später brauchte er harte Drogen, damit sein Kopf endlich Ruhe gab. Durch die Tabletten verschwand auch die Angst, die im Gefängnis überall lauerte. Er lernte schnell, dass zwischen den Gefangenen ein ungeschriebenes Gesetz existierte. Da er klein und schmächtig war, machte er schon nach kurzer Zeit die Bekanntschaft der Schläger. Die Kerle waren für ihn nichts Neues, denn die gab es überall. In Russland versuchte man ihnen aus dem Weg zu gehen, im Gefängnis war das unmöglich.

      Seit seiner Entlassung aus der Haft pendelte Valentin zwischen den Großstädten ruhelos hin und her. Dabei spielte es keine Rolle, ob er sich im Süden oder Norden des Landes aufhielt, denn alle Orte blieben ihm gleich fremd. Als sie wieder einmal in Berlin davon quatschten, dass es in Frankfurt billigeren Stoff geben würde, hatte er sich auf den Weg gemacht. Vermutlich war alles nur Geschwätz, aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Ein weiterer Grund, nach Frankfurt zu kommen, war eine frühere Freundin, die im Gallus-Viertel wohnte und ihn hin und wieder in ihrer Wohnung übernachten ließ.

      Valentin hielt inne, denn er konnte Olli nirgendwo entdecken. Es würde besser sein, zuerst einmal zu Annemarie zu gehen. Er lief zurück in Richtung Poststraße. Überall versperrten Gitter und Bretterwände der Großbaustellen das Areal. An einer Straßenecke stand ein großes Schild, auf dem für ein neues Wohngebiet geworben wurde. Für ihn war das unwichtig, er konnte sich sowieso keine eigene Wohnung leisten.

      In wenigen Minuten erreichte er das Haus in der Niddastraße. Die Fenster zu Annemaries Wohnung waren geschlossen. Das bedeute erst mal nicht viel. Sie konnte wegen des Lärms der ein- und ausfahrenden Züge die Fenster nur zum Lüften öffnen. Valentin klingelte, aber es rührte sich nichts. Er versuchte es noch einmal. Vergeblich. Verdammt, so früh am Morgen, wo konnte sie nur stecken? Nachdem auf sein drittes Läuten niemand öffnete, wandte er sich wütend ab und schlug den Weg zurück zum Bahnhof ein.

      Er eilte durch die Eingangshalle, zwischen den Reisenden hindurch und nahm mit wenigen großen Schritten die Rolltreppe direkt ins Tiefgeschoss zur B-Ebene. Um diese Zeit war hier viel los. Menschen eilten zur Arbeit, und Touristen schleppten ihre Koffer von Bahnsteig zu Bahnsteig. Überall schlichen die Typen von der Bahnpolizei in Begleitung ihrer Schäferhunde herum. Als wäre das nicht schon genug, tauchten auch noch die Uniformierten vom Sicherheitsdienst auf. Diese Bande hatte es früher nicht gegeben. Valentin spuckte verächtlich auf den Boden und blickte sich unruhig um, konnte aber kein vertrautes Gesicht entdecken. Dann flitzte er die Rolltreppe zum Kaisersack hoch und hoffte, dort auf seinen früheren Kumpel zu treffen.

      Die Kaiserstraße endet vor dem Bahnhof als jene Sackgasse, in der sich seit Jahren die Drogenszene in Frankfurt traf. Frauen, die alt aussahen, obwohl sie vermutlich noch jung waren und Männer, die mit starren Augen in die Ferne blickten. Zwischen all diesen Typen wankten Gestalten umher, bei deren Anblick jeder sah, dass sie es nicht mehr lange machen würden. Wenn es in Frankfurt einen Platz gab, wo der Tod zum Leben gehörte, dann war er hier im Kaisersack. Valentin wandte sich enttäuscht ab. Der Mann, den er suchte, war verdammt noch mal nirgends zu sehen.

      Er spürte, dass seine Hände feucht wurden. Hastig fingerte er nach dem Rezept in seiner Hemdtasche und zog es heraus. Es war riskant das Rezept ausgerechnet in Frankfurt vorzulegen, wo falsche Verschreibungen zuhauf in Umlauf waren. Doch ihm brach allmählich der Schweiß aus und sein Hemd klebte am Rücken. Es gab für ihn keinen anderen Ausweg. Mit erhobenem Kopf steuerte er auf die Apotheke in der Kaiserstraße zu.

      So früh am Morgen waren nur wenige Kunden im Laden. Er legte das Rezept mit einem erzwungenen Lächeln auf die Verkaufstheke. Die Angestellte sah ihn prüfend an, dann kamen aus ihrem Mund die gefürchteten Worte:

      „Einen Moment bitte!“, sie nahm das Rezept und verschwand mit dem Papier in der Hand in die hinteren Räume der Apotheke.

      Es dauerte eine Weile. Valentin trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Das bedeutete nichts Gutes. Als die Frau