Gitte Loew

Diebsgrund


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eine halbe Stunde“, gab sie sich zu guter Letzt geschlagen.

      Margarete nickte sichtlich zufrieden über ihren Erfolg und hakte sich unter. So spazierten die beiden Frauen die Straße entlang und betraten nach kurzer Zeit die Eisdiele Cortina. Nachdem der Kaffee serviert worden war, begann Margarete von ihrer Tochter und ihren Enkelkindern zu erzählen.

      „Das mit den Kindern ist doch eine schöne Aufgabe“, versuchte Karoline den nicht enden wollenden Redefluss der Bekannten zu unterbrechen. Doch Margarete holte kurz Luft, und dann ging es erst richtig los.

      „Stell dir die Sache nicht so einfach vor. Die Kinder sind heute ganz anders als wir damals. Das fängt schon beim Essen an. Die ganze Familie lebt vegetarisch und trinken tun sie nur Tee. Dieser Tee sieht aus, als wenn du Heu aufgebrüht hättest. Und was die Erziehung betrifft, muss ich mich ganz raushalten, denn sonst gibt es nur Ärger.“

      Karoline hatte keine Ahnung von Erziehung, aber etwas anderes interessierte sie.

      „Was ist denn das für ein Tee?“

      Margarete presste die Lippen aufeinander und drückte das Kinn gegen ihren dicken Hals.

      „Das ist Zeug, das man in der Tasse nicht sieht und das nach nichts schmeckt. Ohne Zucker trinken sie die Brühe, und du könntest genauso gut warmes Wasser hinunterschlucken.“

      „Wasser schadet nicht“, meinte Karoline leichthin.

      „Stimmt, aber wenn ich Tee trinke, will ich auch Tee schmecken können“, fügte Margarete verärgert hinzu.

      „Und das geht so weiter. Keinen Zucker will heißen, keine Süßigkeiten. Kein Fleisch, überhaupt nichts, was zwei Augen hat, denn sie essen nicht ihre Brüder und Schwestern. Denk dran, wenn du die nächste Forelle verspeist.“

      Margarete hielt atemlos inne. Karoline war sprachlos. Das mit den Kindern schien tatsächlich nicht so einfach zu sein. Um die Sache nicht noch schwieriger zu machen, ließ sie das Thema lieber beiseite und stellte keine weiteren Fragen. Stattdessen lächelte sie etwas hilflos. Margarete hielt erstaunlicherweise den Mund. Man konnte sehen, dass sie bedrückt war. Als Frau ohne eigene Kinder wusste Karoline nicht so recht, wie man eine Oma trösten könnte. Sie beobachtete stattdessen den eloquenten Kellner des Eiscafés. Er bewegte sich schlank wie ein Matador zwischen den kleinen Tischchen hindurch und wollte wohl alle glauben machen, dass er der attraktivste Mann auf der Leipziger Straße wäre. Friedrich hatte sich bewegt wie ein Mann, selbst beim Walzertanzen war er geschritten. Das war übrigens einer der Gründe, warum Karoline auf Tanzabende verzichtet hatte.

      „Auch Linchen, du träumst ja wieder. Änderst dich auch nicht mehr“, bemerkte Margarete und gab dem Matador ein Zeichen, die Rechnung zu bringen. Sie zahlte und winkte ab, als Karoline ihr Portemonnaie in die Hand nahm.

      „Ich mach das schon. Es war doch schön, ein bisschen zu plaudern.“

      Während sie sprach, war ihr Gesicht ernst geworden und es zeigten sich auf einmal viele Falten. Sie sah plötzlich sehr alt aus. Die beiden Frauen standen auf und verließen die Eisdiele. Als Karoline sich verabschiedete, umarmte sie Margarete aus einem Impuls heraus und war über sich selbst überrascht.

      „Lass es dir gut gehen“, meinte Margarete sichtlich gerührt und fügte schnell hinzu:

      „Melde dich mal, überlass nicht alles dem Zufall.“

      „Mach ich. Ach übrigens, da fällt mir ein, wir haben im Sommer immer ein kleines Fest im Garten. Hättest du Lust zu kommen?“

      Margarete nickte begeistert und erwiderte sofort:

      „Aber natürlich, ein Picknick im Garten ist doch wunderschön. Du musst mir nur rechtzeitig Bescheid sagen. Ruf mich einfach an, du hast meine Telefonnummer.“

      „Ja, das werde ich tun. Bis dann mal wieder“, rief Karoline ihr zu, drehte sich um und ging beschwingt und sichtlich guter Laune ihrem grünen Paradies entgegen.

      5. Kapitel

      Annemarie war früh am Morgen wach geworden. Es machte sie in letzter Zeit nervös, wenn noch jemand in ihrer Wohnung schlief. Sie schlüpfte unruhig aus dem Bett, ging in die Küche und beobachtete den schlafenden Valentin. Er schnarchte mit offenem Mund und lag mittlerweile zusammengerollt wie ein Kind auf dem Sofa. Er war ein hoffnungsloser Fall. Valentin musste heute verschwinden. Wenn er plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte, erschreckte sie sein schlimmer Anblick von Mal zu Mal mehr. Sie hatte ihm oft genug eine Chance gegeben, doch Valentin war schnell wieder in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen. Er musste seine Probleme allein und vor allem woanders lösen. Sie konnte ihm nicht helfen, auch wenn er ihr leidtat. Annemarie schluckte. Sie drehte den Wasserhahn auf, füllte den Kessel und setzte ihn geräuschvoll auf den Herd. Valentin sollte aufwachen und gehen.

      Ein leises Stöhnen war zu hören. Als Valentin die Augen öffnete, würgte ihn Übelkeit. Sein Kopf schmerzte und fühlte sich schwer an. Langsam erinnerte er sich, wo er lag und was gestern Abend geschehen war. Er sah sich im Zimmer um und nahm alles wie durch einen Schleier wahr. Annemarie hantierte am Herd. Plötzlich zog Kaffeeduft an seiner Nase vorbei. Er riss die verquollenen Augen auf und beobachtete, wie sie heißes Wasser in eine Thermoskanne füllte.

      „Morgen, Annemarie“, murmelte er mit trockenem Mund.

      „Na, ohne Schuhe auf Traumpfaden gewandelt?“, spöttelte sie und sah ihn dabei resigniert an.

      Valentin gab ihre keine Antwort, sondern richtete sich auf und schlurfte auf wackeligen Beinen ins Bad. Wusch sich die Hände und spritzte kaltes Wasser ins Gesicht. Versuchte den schalen Geschmack aus dem Mund zu spülen und trocknete sich langsam ab. Das kalte Wasser erfrischte ihn nur wenig, und er sah nicht nur im Spiegel erbärmlich aus, er fühlte sich auch so. Seine Haut spannte sich dünn wie Pergament über den Schädel. Venen schimmerten rötlichblau hervor, und die Augen lagen dunkel in tiefen Höhlen. Kopfschüttelnd verließ er das Badezimmer. Als er in die Küche zurückkam, trat er auf Annemarie zu, gab ihr einen Kuss und wollte sie umarmen. Sie wehrte ihn ab.

      „Ach, hör auf, Valentin, das ist lange vorbei.

      Er sah sie enttäuscht an.

      „Wir haben uns doch immer gut verstanden.“

      „Ja, ja, aber du weißt, was los ist. Ich will mein Leben ändern. Versteh doch, ich muss allein neu anfangen.“

      Er verstand sie nicht. Was hatte das mit ihm zu tun?

      Annemarie redete weiter, ohne auf ihn zu achten: „Ich kämpfe jeden Tag gegen den Schnaps, und trotzdem wirft mich das Zeug immer wieder aus der Bahn. Aber seit Januar stehe ich morgens auf und gehe zur Arbeit. Egal, wie mein Kopf schmerzt, verstehst du? Ich will davon loskommen und ohne Schnaps leben.“

      Er nickte: „Ich weiß, was du meinst.“

      „Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, aber ich hab kapiert, dass ich dir nicht helfen kann.“

      „Es wird zu viel für dich“, fügte er hinzu.

      Annemarie sah ihn mit einem Ausdruck von Verzweiflung an, während sie die Arme vor ihrer Brust verschränkte.

      „Es geht nicht nur um dich, sondern auch darum, was aus mir wird. Ich habe unzählige Male versucht aufzuhören. Jetzt muss Schluss sein. Seit Januar gehe ich zu einem Arzt, der mir hilft. Er ist der Erste, der mich nicht wie den letzten Dreck behandelt.“

      Aufgewühlt lief sie zum Tisch, griff nach dem Tabak und drehte sich eine Zigarette.

      „Ich weiß, bei dir gibt es Hoffnung“, meinte Valentin müde und setzte sich auf einen Stuhl.

      „Es gibt immer Hoffnung“, erwiderte sie.

      „Ach Annemarie, ich bin zu alt und hab nicht nur den Schnaps am Hals. Das Gift ist viel schlimmer. Und mal ehrlich, welche Aussichten hätte ich denn? Glaubst du, dass ich Arbeit finden würde? Oder soll ich bis ans Lebensende zum Sozialamt rennen? Nein, danke.“

      „Ich glaube, das wäre letzten Endes besser für dich, als