Gitte Loew

Diebsgrund


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neugierigen Blicke der Nachbarn, die womöglich hinter den Türen lauerten, abzuwehren. Es war mucksmäuschenstill.

      Sie drehte sich um und sah, dass Valentin noch immer auf dem Boden lag. Er schien wirklich am Ende zu sein. Kopfschüttelnd ging sie in die Küche, schenkte Schnaps in ein Wasserglas und reichte es ihm mit den Worten: „Hier, damit du wieder auf die Füße kommst.“

      Valentin hob den Kopf, rappelte sich auf die Knie und stürzte die braune Flüssigkeit mit einem Schluck hinunter. Dann stand er unsicher auf und blickte zu Annemarie. Sie sah müde aus und hatte große Tränensäcke unter den Augen.

      „Glotz mich nicht so an, ich hab dich nicht eingeladen“, schnauzte sie ihn wütend an.

      Valentin hob beschwichtigend die Hände, erwiderte kein Wort und wankte ins Bad. Als er auf der Toilette saß, legte er den Kopf auf die Arme, und seine Augen wurden feucht. Er schnäuzte sich ins Toilettenpapier und erhob sich schwerfällig. Dann drehte er den Wasserhahn auf und griff nach der Seife, um den Dreck abzuwaschen. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel. Entsetzt von seinem eigenen Anblick schloss er für einen Moment die Augen. Morgen früh musste er sich unbedingt rasieren, damit er auf der Straße nicht wie Rasputin herumlief. Müde schlurfte er zu Annemarie zurück, die in der Küche am Tisch saß.

      „Ich mach keinen Ärger, will nur eine Nacht schlafen und mich morgen früh waschen können. Dann verschwinde ich wieder. Brauchst keine Angst zu haben.“

      Sie blickte ihn spöttisch an.

      „Seit wann habe ich Angst vor Gespenstern? Du siehst ziemlich kaputt aus. Damit das klar ist, wenn du hier etwas mitgehen lässt, kommst du nicht mehr in meine Wohnung, egal wie schlecht es dir geht.“

      Sie zündete sich eine Zigarette an. Er schaute verlegen auf den Boden. Wenn sie so reagierte, musste es schlimm um ihn stehen. Valentin schüttelte den Kopf, als wolle er ihre Vorwürfe nicht hören. Dann zeigte er mit dem Finger nach unten.

      „Hast du ein Paar Schuhe für mich? Die Schweine haben mir die Turnschuhe geklaut.“

      Sie betrachtete seine nassen Socken und grinste breit.

      „Da warst du ja in einem feinen Hotel. Die einzigen Schuhe, die ich dir anbieten könnte, wären ein paar alte Sandalen von mir. Deine Füße sind zu groß.“

      Sie stand auf und verschwand in einem kleinen Abstellraum. Valentin kramte in der Zwischenzeit die restlichen Pillen aus seiner Tasche und schluckte sie mit dem Fusel hinunter, der auf dem Tisch stand. Sie kam mit einem Paar alter Latschen in der Hand zurück.

      „Hier, die könnten dir passen.“

      Valentin schlüpfte hinein und flüsterte: „Danke.“

      Sie lachte kurz auf und blickte ihm mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erschöpfung ins Gesicht. Dann begann sie leise zu reden:

      „Was ist nur aus dir geworden? Hattest große Pläne als du kamst, und jetzt bist du am Ende. Es wäre besser gewesen, du wärst geblieben wo du warst.“

      Valentins Gesichtsausdruck verwandelte sich in den eines getretenen Hundes. Er antwortete kaum hörbar:

      „Dort, wo ich war, gab es keine Zukunft für mich. Ich war der deutsche Drecksack. Der Nazi, der abhauen sollte. Hier bin ich das Russenschwein, das verschwinden soll. Ich drehe mich im Kreis und bin nirgends richtig.“

      „Ach, hör auf zu jammern. Wer sich nicht jeden Tag den Kopf vollballert und schaffen will, der findet im Westen Arbeit.“

      Annemarie sah ihn verärgert an und verschränkte die Arme vor ihrer Brust wie ein Schutzschild.

      Valentin erwiderte nichts, wischte sich verschämt das Wasser aus den Augen und starrte zu Boden. Es dauerte eine Weile, bis er auf ihre Vorwürfe antworten konnte.

      „Was weißt du schon. Meine Eltern sind nach Sibirien verschleppt worden. Die Russen haben sie als Nazis zu Zwangsarbeit verurteilt. Der Vater musste im Bergwerk arbeiten, und meine Mutter verschwand in einem anderen Lager. Es gab weder anständige Unterkünfte noch genug zu essen. Die meisten sind krepiert. Nach vier Jahren Zwangsarbeit kamen sie frei. Aber sie durften das Land nicht verlassen, sondern wurden weiter in Russland festgehalten. Nichts weißt du. Erst als Gorbatschow entschied, dass die Deutschen gehen durften, konnten wir ausreisen.“

      Annemarie hob die Hand wie ein Schutzmann auf der Kreuzung und schimpfte ärgerlich:

      „Aber du bist doch in Sibirien geboren, bist eigentlich Russe. Du hättest doch mit deiner Frau und dem Kind bleiben können“.

      Valentin schüttelte den Kopf und schimpfte sichtlich empört: „Sollte ich meine Eltern allein gehen lassen? Sie waren alt und krank. Wir sind Deutsche.“

      „Wie kannst du dich als Deutscher fühlen? Du kannst ja noch nicht einmal richtig Deutsch reden!“, erwiderte sie mit müdem Gesichtsausdruck.

      Valentin stierte mit trotzigem Gesichtsausdruck auf seine Hände. Ihm fiel nicht sofort etwas ein.

      „In Russland darf man nicht Deutsch reden. Ich fühle mich als überhaupt nichts. In Barnaul war ich kein Russe, sondern ein Außenseiter. Wir mussten den Mund halten, die Partei hatte immer Recht. Ihr im Westen seid verwöhnt. Könnt gut reden und wisst nicht, wie es dort wirklich ist. Nach Sibirien fährt niemand in Urlaub, warum auch? Ihr wisst nichts über das Land.“

      Er war bei seiner kleinen Rede in Rage geraten und schenkte sich schnell noch einen Schnaps zur Beruhigung ein.

      Annemarie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte und hielt den Mund.

      Valentin redete weiter: „Meine Mutter konnte weder russisch lesen noch schreiben. Sie ging in eine Fabrik arbeiten, damit die Familie etwas zu essen hatte. Da blieb keine Zeit zum Lernen. Ich bin mit einem Kauderwelsch aus Deutsch und Russisch aufgewachsen. Wer in der Schule nicht Russisch sprach, wurde verprügelt. Man wurde ständig für etwas verprügelt. In der Schule und zu Hause natürlich auch. Keine Ahnung hast du.“

      Annemarie verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

      „Ach, hör auf. Wer hat damals nicht Prügel bekommen? Das war so. Mein Vater hat uns Kinder auch verhauen. Meine Mutter erzählte uns immer, dass er früher anders gewesen wäre, doch das war kein Trost für uns. Sie hätte uns helfen müssen, aber dazu war sie zu feige.“

      Ohne darauf zu achten, was Annemarie gesagt hatte, erzählte Valentin seine Geschichte einfach weiter:

      „Ich bin weggegangen, weil ich geglaubt habe, in Deutschland wäre es besser.“

      Plötzlich hielt er inne und sah sie dabei böse an. Warum verstand sie ihn nicht?

      „Ich wollte endlich frei sein und ein besseres Leben haben. Wir waren arm.“

      Annemarie war zu müde und wollte nicht an frühere Zeiten erinnert werden. Die waren glücklicherweise vorbei. Doch Valentins Erinnerungen stiegen wie dumpfe Luft hoch, und er stammelte mit schwerer Zunge:

      „Ich habe gehofft, hier würde es besser sein. Doch alles ging schief. Die Arbeit, das mit der Wohnung und dann der Ärger mit meiner Frau. Hier im Westen hast du nur Freunde, wenn du Geld hast. In Sibirien waren wir arme deutsche Schweine unter armen russischen Schweinen. Wir mussten zusammenarbeiten und miteinander auskommen. Aber die haben mich wenigstens verstanden. Im Westen versteht mich kein Mensch.“

      Er spürte mittlerweile die Schwere des Alkohols, und die Tabletten zeigten ihre Wirkung. Sein Kopf neigte sich immer mehr nach vorn und sank nach einiger Zeit sachte auf den Tisch.

      Annemarie stöhnte bei diesem Anblick auf, schenkte sich noch einen Schnaps ein und beobachtete den schlafenden Valentin. Er zog sie runter. Sein ganzes beschissenes Leben zog sie runter. Warum hatte sie die Tür aufgemacht? Sie wusste es selbst nicht. Wusste nur, dass sie manchmal auch so kaputt und am Ende war wie Valentin jetzt. Schwerfällig stand sie auf und versuchte ihn hochzuziehen. Doch der schlafende Mann war schwer wie ein Stein. Sie rüttelte an seiner Schulter, aber er bewegte sich nicht. Er konnte nicht aufstehen, sondern rutschte stattdessen vom Stuhl. Lag auf dem Fußboden