Gitte Loew

Diebsgrund


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er sich in den Eingang eines Nachtklubs und blieb einen Moment stehen, um Luft zu holen.

      „Na Kleiner, hast du schon so früh am Morgen Lust?“, gurrte eine dunkle Stimme hinter ihm.

      Valentin drehte sich um und sah in das stark geschminkte Gesicht einer Frau.

      Als sie erkannte, wen sie vor sich hatte, zischte sie ihm aus verkniffenem Mund zu: „Hau ab, du Junkie, für Hungerleider haben wir keine Zeit!“, und schubste ihn unsanft auf die Straße.

      Valentin war zu erschöpft, um sich zur Wehr setzen zu können und murmelte nur matt: „Alte Fregatte.“

      Doch die Frau hatte das Schimpfwort gehört, hob blitzschnell den Fuß und trat ihm heftig vors Schienbein. Er schrie vor Schmerz auf, drehte sich entsetzt um und humpelte hastig davon. Keuchend stolperte er die Straße entlang und fand schließlich Zuflucht in einer der zahlreichen Kneipen des Viertels. Er steuerte, ohne sich weiter umzusehen, auf den Tresen zu und bestellte einen Doppelten. Der Alkohol brannte in seiner Kehle und verbreitete für einen kurzen Augenblick ein wärmendes Gefühl im Magen. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Er konnte sich nicht erinnern. Zwei Betrunkene neben ihm stritten lauthals.

      „Sie hat mich betrogen, das Luder, und dann habe ich ihr gezeigt, wer der Herr im Haus ist. War doch richtig?“, brüllte er in das voll besetzte Lokal.

      Sein Saufkumpan antwortete nicht, sondern schüttelte den Kopf und grölte dabei: „Noch einen, Willi!“

      Der Wirt sah die beiden an. Nicht mehr lange und die würden für Ärger sorgen. Kurz angebunden meinte er: „Ihr habt genug, sonst zeige ich euch, wer die Hosen anhat.“

      Die Säufer erhoben sich von ihren Sitzen und protestierten lauthals. Als ein Stuhl mit Getöse umflog, warf Valentin das Geld auf den Tisch und verdrückte sich. Schwitzend irrte er durch die Straßen und stand plötzlich vor dem Café Fix, das er von einem früheren Besuch in Frankfurt kannte. Zwei Männer und eine Frau drückten sich vor dem Eingang herum.

      „He, was geht ab?“, wollte Valentin wissen.

      Die Frau hob den Kopf und blickte ihn aus rot entzündeten Augen an. Dann öffnete sie den Mund, in dem eine Kippe klebte und murmelte:

      „Hier brauchst du einen Ausweis, sonst kriegst du nichts, bist wohl nicht von hier?“

      „Ich weiß“, meinte Valentin ungeduldig, „aber ich brauch dringend was.“

      „Hast du Kohle?“, wollte die Frau wissen.

      „Nein, aber mir geht es echt scheiße!“

      Die Frau warf ihm einen bösen Blick.

      „Glaubst du mir geht’s besser?“, sie schüttelte den Kopf und murmelte mit leiser Stimme: „In der B-Ebene gibt‘s Pillen und die Stricher sind auch nicht weit!“

      Nach diesen Worten drehte sie ihm wieder den Rücken zu. Valentin wimmerte leise und stolperte zum Hauptbahnhof zurück. Es war zu gefährlich, sich im Tiefgeschoss aufzuhalten. Die vom Sicherheitsdienst schossen wie Giftpilze aus allen Ecken des alten Gemäuers. Er schlich nass geschwitzt weiter in Richtung Kasseler Straße. Dort beobachtete er kurze Zeit das Treiben auf dem Parkplatz. Hier traf sich ein weiterer Teil der Szene. Ihm fielen zwei Afrikaner auf, die sich angeregt unterhielten. Sie lachten laut und klatschten ebenso geräuschvoll ihre Hände aufeinander. Valentin ging auf die beiden zu. Einer der Männer sah sich um, nickte kaum merklich und rannte davon. Der andere Kerl hatte Locken, die bis zu den Schultern reichten und trug einen buntgestreiften Pullover. Er erwiderte Valentins Blick und grinste ihn stumm an.

      „Wie sieht’s aus?“, wollte Valentin wissen.

      Der Mann zog die Stirn in Falten und betrachtete ihn jetzt misstrauisch und sagte: „Alter, ich bin der Weihnachtsmann!“

      „Mach kein Theater! Hast du Stoff?“

      Valentin war für solche Spielchen zu erschöpft.

      „Hast du Kohle?“, kam prompt die Gegenfrage, und dabei tänzelte der Kerl von einem auf den anderen Fuß.

      Valentin nickte verzweifelt. Er war kurz davor umzufallen.

      Der Afrikaner flüsterte: „Crack oder Pillen?“

      Valentin deutete auf das Päckchen und kaufte die billigeren Tabletten. Er hastete zum Bahnhof, besorgte sich einen Flachmann am Kiosk und spülte den Inhalt der Schachtel mit dem Schnaps hinunter. Endlich, er atmete erleichtert auf. Allein die Gewissheit, das Zeug geschluckt zu haben, beruhigte ihn schon. Er wusste allerdings aus Erfahrung, dass er sich nun schnellstens nach einem Platz zum Schlafen umsehen musste. Im Zug hatte er kaum ein Auge zugetan, und mittlerweile spürte er seine müden Glieder, die immer schwerer wurden. Vermutlich würde er sich nicht mehr lange auf den Beinen halten können. Die Mixtur aus Tabletten und Alkohol wirkte wie ein Brandbeschleuniger und brachte selbst den Stärksten zum Umfallen. Das Zeug zwang einen buchstäblich in die Knie.

      Er humpelte hinter das Bahnhofsgelände und suchte am Rand der vielen Baustellen nach einem geeigneten Platz. Der größte Teil des Geländes war eingezäunt und mit Schlössern gesichert. In den wenigen freien Ecken lagen bereits andere Obdachlose.

      Als er sich einer solchen Behausung näherte, schimpfte jemand laut: „Hau ab du Penner!“ Valentin stolperte schachmatt zum Bahnhof zurück und betrat das Gleisgelände. Es war verboten und man musste aufpassen, nicht von der Aufsicht erwischt zu werden. Vor lauter Hektik taumelte er über ein Kabelbündel und flog der Länge nach hin. Mühsam rappelte er sich wieder hoch und fand dann endlich einen alten Güterwagen, der mehr oder weniger ungenutzt herumstand. Bevor er einstieg, schaute er sich nochmals prüfend um. Mit letzter Kraft kroch er in das dunkle Loch. Versuchte in dem diffusen Licht zu erkennen, ob schon ein anderer hier lag, aber der Wagen schien leer zu sein. Erschöpft ließ er sich in eine Ecke fallen, legte seinen Rucksack unter den Kopf und sank sofort in einen tiefen Schlaf.

      3. Kapitel

      Das Piepsen der Mäuse weckte Valentin wieder auf. Er fühlte, wie die kleinen pelzigen Tiere an ihm vorbeihuschten. Es war jetzt dunkel draußen. Sein Kopf fühlte sich schwer wie Blei an, und seine Knochen waren durch die Kühle des Abends steif geworden. Schwerfällig richtete er sich auf und versuchte, auf die Füße zu kommen. Und dann sah er es. Wo waren seine Schuhe? Seine Schuhe waren verschwunden. Irgend so ein Tippelbruder hatte ihm im Schlaf die Schuhe geklaut. Es hatte wohl noch ein anderer Unbekannter im Waggon geschlafen. Wie fertig musste er gewesen sein, dass er nicht wach geworden war? Na warte, wenn er den Kerl zu fassen bekam. Valentin fluchte leise vor sich hin, denn auf Strümpfen würde er nicht weit laufen können.

      Er kletterte aus dem Güterwagen, spürte die nasse Erde unter den Füßen und tappte vorsichtig zwischen Baustellenschutt und Schotter zum Bahnhof zurück. Als er im Licht der Bahnhofshalle stand, blickte er auf die Anzeige. Es war mittlerweile 22 Uhr. So konnte er nicht weiterlaufen. Es gab nur noch eine Möglichkeit, Annemarie musste ihm unbedingt helfen. Frierend und zitternd machte er sich an diesem Tag zum zweiten Mal auf den Weg zu ihrer Wohnung.

      Bis er endlich an ihrer Haustür stand, schmerzten seine Fußsohlen von all den spitzen Steinen und seine Socken waren völlig durchnässt. Zum Glück brannte ein Licht hinter ihrem Fenster. Auf sein Klingeln ertönte der Türsummer und er fiel vor Erleichterung ins Treppenhaus. Langsam erklomm er die Stufen bis in den zweiten Stock. Als Annemarie ihn sah, hob sie die Hand vor den Mund und rief erschrocken:

      „Ach nein, wo kommst du denn her? Mann, wie du aussiehst!" Sie wich unwillkürlich vor ihm zurück.

      Valentin begann stotternd zu erzählen: „Sie haben mir im Schlaf die Schuhe geklaut. Ich kann nicht mehr.“

      „Warum immer ich? Geh doch zur Bahnhofsmission", schimpfte sie und wandte sich angewidert ab.

      Jetzt sank Valentin völlig in sich zusammen, fiel wie ein Häufchen Elend auf den Boden und wimmerte leise vor sich hin: „Ich kann nicht mehr, hilf mir, ich bin völlig fertig.“

      Annemarie trat widerwillig zur Seite und flüsterte: „Komm herein, aber nur für eine Nacht.“