Dr. med. Günther Montag

Die Therapie entdeckt die Familie


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Märchen kommt solches Denken vor. Dieses Denken wird durch manche Aspekte der Religionen gefördert. In vielen Religionen gibt es die Vorstellung, durch ein Opfer den Willen Gottes oder der Götter zu beeinflussen. Wir nennen uns zwar aufgeklärt und halten mit unserem bewussten Verstand so etwas für Unsinn. Aber im Unbewussten wirkten solche Vorstellungen weiter. In der psychoanalytischen Sprache nennt man dieses Denken „magisches Denken“ (Darum dichtet man in der Skriptanalyse Märchen manchmal um, um sie ad absurdum zu führen.).

      Was bewirkt das Stellvertreten wirklich?

      Die Grundhaltung „ich für dich“ führt zu keiner Lösung, auch nicht wenn diese Kinder erwachsen geworden sind. Es gibt etwas wie ein Naturgesetz, dass Spätere nicht durch ein Opfer auf Frühere zurückwirken können und dürfen. (Dieses Naturgesetz ist eine der „Ordnungen der Liebe“.) Im Gegenteil, das Verwechslungs- Spiel geht weiter in die nächste Runde. Kinder der nächsten Generation übernehmen eine solche Verstrickung von ihren Eltern, so als würden sie heimlich denken „ich auch“ „ich für dich“ oder „lieber ich als du“. Sind unsere Kinder solche Kinder? Sind wir selbst solch ein Kind?

      Kann man das „Stellvertreter- Phänomen“ erklären?

      Immer wieder erstaunt uns die genaue Wahrnehmung der Stellvertreter, die auch schon in wissenschaftlichen Studien belegt ist, und die nicht physikalisch oder kognitiv erklärbar ist, denn die Stellvertreter haben ja keine Information – weder in Familien, wo man ja oft die Geheimnisse verschweigt, noch in der experimentellen Form, dem Familienstellen. Ein Versuch, es zu erklären, ist die Vorstellung eines Kraftfelds, das Informationen überträgt. Etwas ähnliches ist ja das elektromagnetische Feld, also die Radiowellen, bei Funk, Fernsehen, Handy oder W-Lan. Der Biologe Rupert Sheldrake beschreibt solche Felder bei den Pflanzen und Tieren. Jeder Mensch hat ein solches Kraftfeld, jede Familie hat ein gemeinsames Feld, und auch jede Gruppe. Es wirkt auch über weite Entfernung und auch über den Tod hinaus. Denken wir an die Berichte aus dem Krieg, vielleicht auch von unseren Großeltern, wo die Familie eines Soldaten über tausende von Kilometern hinweg Verletzungen, Tod, oder auch die erstaunliche Rettung ihres Sohnes oder Bruders oder Mannes genau zur gleichen Zeit gefühlt hat.

      Wo noch, außer in Familien, wirkt das Stellvertreter- Phänomen?

      Das Grundprinzip „jemand der später in eine Gruppe gekommen ist, muss einen Früheren vertreten, der ausgeschlossen oder nicht geachtet wurde“ zeigt sich nicht nur in Familien, sondern auch im Berufsleben. Spätere Mitarbeiter in einer Firma übernehmen zum Beispiel unbewusst Gefühle eines zu Unrecht vergessenen, verachteten oder ausgeschlossenen Erfinders oder Gründers oder früheren Mitarbeiters und verhalten sich wie er. Oder sie „vertreten“ jemanden, auf dessen Kosten die Firma sich unrechtmäßig bereichert hat. Oft spiegelt sich eine Familienkonstellation eines Mitarbeiters am Arbeitsplatz wider. Als würde dieser Mitarbeiter unbewusst seine Familienaufstellung inszenieren – mit seinen Kollegen als Stellvertretern. Auch in einer Gruppe von Helfern, die über Patienten spricht (z. B in Balint-Gruppen oder Supervisionsgruppen) beobachtet man, dass Teilnehmer sich mit unterschiedlichen Personen oder Gruppen aus der Familie des Patienten identifizieren. Somit können manche Patienten in einer Klinik das therapeutische Team spalten.

      Kann man diesen Zusammenhang, der krank macht, umkehren zum Heilen?

      Das Stellvertreter- Phänomen ist also nichts Neues. Das Neue ist nur, es wird bei den Aufstellungen bewusst und experimentell eingesetzt. Ohne es wären die Aufstellungen überhaupt nicht möglich. Das Stellvertreter-Phänomen hilft bei den Aufstellungen indirekt als Diagnostikum und auch direkt durch Fernwirkung zum Heilen. Das Kraftfeld der Aufstellung ist mit dem Feld der wirklichen Familie in Verbindung. Wir erfahren diese Verbindung als zweiseitig. Von der Familie fließt Information zu der aufstellenden Gruppe. Und von der Aufstellung gehen ordnende Impulse auf die wirkliche Familie aus.

      Diese Phänomene zu verstehen, zu achten und ernst zu nehmen, ist eine Vorbedingung um sinnvoll systemisch zu arbeiten.

      Ich gehe hier auf einige häufig gestellte Fragen zu den Methoden der systemischen Wahrnehmung, allen voran den Aufstellungen, ein.

      Wege der systemischen Wahrnehmung

      Ich werde meine erste Physikstunde nie vergessen. Besonders ist mir ein Satz in Erinnerung, den unser Lehrer über die Versuche in etwa so sagte:

      „Experimente sind Fragen an die Natur. Man muss die Fragen so stellen, dass die Natur eine klare und sinnvolle Antwort geben kann, und man muss die Antwort genau wahrnehmen, ohne Vorbehalte achten und etwas daraus lernen.“

      Weil das Stellvertreter-Phänomen sich als das brauchbarste, deutlichste, unbestechlichste „Experimentierbrett“ oder Messgerät in der Wahrnehmung von Zusammenhängen in der Familie erwiesen hat, finden systemische Wahrnehmungsübungen, auch bekannt unter dem Begriff „Aufstellungen“, in einer Gruppe statt.

      Wer ein Anliegen hat, wählt aus der Gruppe Teilnehmer, die er nicht kennt, als Stellvertreter aus für sich und für die Personen um die es geht, und stellt sie nach seinem Gefühl im Raum in Beziehung zueinander auf. Auch für eine „Störung“ oder ein Symptom kann ein Stellvertreter stehen. Wie in einem lebenden Bild wird deutlich, wie in dieser Familie wer zu wem steht und wer fehlt. Die Stellvertreter fühlen die Gefühle der Person, die sie vertreten – oft auch körperlich. Bewegungen, Blick und Stimme werden vorübergehend dieser Person ähnlich, sogar körperliche Symptome der betreffenden Person treten kurzzeitig auf.

      Wir suchen durch schrittweises Umstellen eine Lösungsaufstellung. Dabei findet jeder, auch die bisher Ausgeschlossenen, seinen angemessenen Platz, an dem er sich gut fühlt. Die gefundene Lösung kann durch heilsame Sätze vertieft werden, die meist laut ausgesprochen werden und mit großer Kraft in die Tiefe wirken.

      Beispiel: „Jetzt sehe ich dich, und ich achte dich, und ich lasse das bei dir, was zu dir gehört“.

      Diese Lösungssätze werden in jeder Aufstellung neu gefunden.

      Nicht immer gibt es eine „vollkommene“ Lösung – aber etwas kommt in Bewegung.

      Für welche Fragestellungen ist ein systemisches Vorgehen geeignet?

      Hier sind Beispiele, wie Aufstellungen helfen können im Bereich von...

      Ursprungsfamilie:

       Wie viele Geschwister habe ich?

       Frieden schließen mit den Eltern.

       Trage ich etwas für jemand aus einer früheren Generation?

      Gegenwartsfamilie:

       Was steht zwischen mir und meinem Partner?

       Will etwas aus einer früheren Beziehung gelöst werden?

       Wie viele Kinder habe ich?

       Was trägt mein Kind für mich / für wen?

      Beruf und Organisationen:

       Was hindert meinen Erfolg?

       Wer gehört dazu?

       Ist unsere Rangordnung in Ordnung?

       Hat eine Fusion oder Kooperation Zukunft?

       Welcher Mitarbeiter passt in den Betrieb?

       Entscheidungen: Ja-Nein-Aufstellung / Wen soll ich einstellen? / Welches Haus soll ich kaufen?

      Heilkunde:

       Ist meine Krankheit systemisch, karmisch oder aus diesem Leben bedingt?