Siegfried Placzek

Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie


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unter vorbeugenden Suggestionen, selbst bei hysterischen Mono- und Paraplegien niemals mehr. Forel nennt die »zones« und »points« hysterogene Artefakte, d. h. Symptome, die, wie alle Symptome der Hysterischen, dadurch fixiert werden, dass man sich damit beschäftigt Der Hypnotismus. Enke, Stuttgart 1902, S. 134.. Auch Babinski Deutsche med. Wochenschr. 1907, Nr. 6 und Sem. méd. 1919 Extr. p. 6.warnte vor der Überschätzung dieser Zeichen. »En ce qui concerne les prétendus stigmates je puis dire que depuis des années je n'en trouve plus chez les hystériques qui n'ont pas été préablement en contact avec des personnes capables de les avoir suggestionnés.« Kollarits Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 49. Bd. 1919.spricht von einer Pseudoanästhesie, einem ›nicht immer, aber in den meisten Fällen iatrogenen Kunstprodukt‹;, von den Ärzten bei der Untersuchung unbewusst verursacht.« Mit dem bedenklichen Anlauf gegen die Kriterien einer Hysterie, die diagnostische Bedeutsamkeit der Stigmata, geriet das ganze Krankheitsbild der Hysterie ins Wanken. Hoche Die Differenzialdiagnose zw. Epilepsie und Hysterie, Berlin 1902. sagt unumwunden: »Wer die These aufstellen würde, dass der hysterische Charakter gar nichts mit der Hysterie zu tun hat, sondern ein Zeichen der Entartung darstellt, dass es überhaupt ein Krankheitsbild der Hysterie nicht gibt, sondern nur eine besondere Form psychischer Disposition, die man als hysterisch bezeichnet, wäre gar nicht zu widerlegen.« An anderer Stelle sagt Hoche Hoche, Handb. d. ger. Psychiatrie. Aug. Hirschwald, Berlin 1901, S. 44.: »Für die forensische Praxis hat die Pseudologia phantastica der Entarteten und der Hysterischen ( die zum großen Teile auch nichts anderes sind als Entartete) sehr große Bedeutung.«

      Also eine unumwundene, einschränkungslose Einreihung der hysterischen Eigenart in das Krankheitsbild der Entartung. Forel nennt die Hysterie »kein ganz abgeschlossenes Krankheitsbild, sondern einen pathologischen Symptomenkomplex oder Syndrom l. c. S. 138«. Die von Hoche als möglich bezeichnete These stellte endlich Steyerthal Was ist Hysterie? Karl Marhold, Halle 1908. auf und verficht sie mit selten beredten Worten:

      »Eine selbständige, einige und unteilbare Krankheit ›die Hysterie‹; gibt es nicht, es gibt nur einen ›hysterischen Symptomenkomplex‹, auch genannt die ›hysterischen Stigmata‹. Diese Symptome sind Ermüdungs- und Erschöpfungszeichen, ihr Vorkommen bei den verschiedensten somatischen und psychischen Affekten ist leicht erklärlich, um nicht zu sagen selbstverständlich. Nichts ist natürlicher, als dass sich ein Schwächezustand auf körperlichem oder geistigem Gebiet durch Erschöpfungssymptome manifestiert: sie sind gewissermaßen das Exanthem der Schwäche. Mithin ist das, was wir Hysterie nennen, eine aus den verschiedensten pathologischen Gebieten künstlich zusammengelesene Gruppe von Krankheitstypen, die nichts miteinander gemeinsam haben als eben jene Stigmata« Zum Wesen der Hysterie. Therap. d. Gegenw. 1911, Febr. S. 43.

      Auch Strohmayer Dittrichs Handb. d. ärztl. Sachverst.-Tätigkeit. Braumüller, Wien und Leipzig 1910, Liefg. 31-33. For. Psychiatrie 2. Bd. betont die Bedeutung der erblichen Degeneration für die Entwicklung schwerster Hysterien mit deutlich psychischen Erscheinungen und sieht den ominösen hysterischen Charakter nicht als Produkt der Hysterie, sondern »mit ihr ebenbürtig auf dem Boden der psychopathischen Degeneration« erwachsen an.

      Kohnstamm Medizinische und philosophische Ergebnisse aus der Methode der hypnotischen Selbstbesinnung. Ernst Reinhardt, München 1914., der das selten prägnante Bild der »Hysterie des defekten Gesundheitsgewissens« gezeichnet hat, erhofft von seinem letzten Vortrag, dass dessen ausführliche Publikation »dem alten Hysteriebegriff, der überhaupt kein Begriff ist, endgültig den Todesstoß versetzen wird«.

      Gaupp Jahresber. d. Gesellsch. f. Psychiatrie, 1911.verwirft die Hysterie als entité morbide und will nur eine hysterische Reaktionsweise anerkannt wissen.

       Bumke Berliner klin. Wochenschr. 1918, Nr.20.findet die Behauptung Hoche's, dass es eine Krankheit Hysterie nicht gibt, ebenso zutreffend, wie die Behauptung Möbius', wir seien alle etwas hysterisch, »vorausgesetzt nämlich, dass man unter Hysterie eine pathologisch verstärkte Suggestibilität versteht«.

      Reichardts Allg. u. spezielle Psychiatrie. Fischer, Jena 1918, S. 544.hält es für zweckmäßig, das Substantivum, bzw. die Krankheitsdiagnose »Hysterie« ganz fallen zu lassen und das Wort »hysterisch« nur als Adjektivum zu gebrauchen. Man spricht von hysterischen Reaktionen und Dispositionen. Die hysterische Reaktion muss im Gegensatz zur endogenen Nervosität, Zwangsneurose, Hypochondrie einen äußeren und zwar psychischen Anlass haben.

      Endlich unterscheidet Hans W. Gruhle Psychiatrie f. Ärzte. Springer, 1918.zwischen der Hysterie »als Ausdruck einer augenblicklich unangenehmen oder gespannten Lage« und der Hysterie »als Offenbarung einer erheblichen hysterischen Anlage«.

      Vorbei soll es also mit dem Krankheitsbilde der Hysterie sein, und bleiben eine hysterische Reaktionsweise. Gegen die Zerstörung des Krankheitsbildes der Hysterie protestiert Lewandowsky Die Hysterie. Berlin. Springer 1914. S. 122.nachdrücklichst. Die Krankheitseinheit der Hysterie lasse sich weder auf die pathologische Histologie, noch auf eine einheitliche Verlaufsform oder Verlaufstendenz stützen, doch gerade aus der Lehre von den körperlichen Krankheiten glaubt Lewandowsky zu erkennen, dass wir die Hysterie selbst dann eine Krankheit nennen dürften, »wenn es nur eine hysterische Reaktion gäbe«. »Nicht jeder Mensch wird selbst bei Einwirkung der stärksten hysterogenen Schädlichkeiten hysterisch oder zeigt danach nur ein hysterisches Symptom, also muss eine hysterische Disposition zugrunde liegen (in der Mehrzahl der Fälle eine angeborene). Man wird hysterisch geboren, man wird es nicht.«

      Grundlegend für die Hysterie, mag sie nun eine hysterische Reaktionsweise oder ein geschlossenes Krankheitsbild sein, erschien die Möbius'sche Neurol. Beitr., S. 68. Definition:

       »Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Veränderungen des Körpers, die durch Vorstellungen verursacht werden.« Ist mit dieser prägnant anmutenden, bestechenden Begriffsbestimmung das Rätsel der Hysterie gelöst? Bringt auch sie nicht nur einzelne Krankheitserscheinungen dem Verständnis näher? Selbst wenn wir mit Kraepelin »als wirklich einigermaßen kennzeichnend für alle hysterischen Erkrankungen« die außerordentliche Leichtigkeit und Schnelligkeit ansehen, mit welcher sich psychische Zustände in mannigfachen körperlichen Störungen wirksam zeigen, seien es Anästhesien oder Parästhesien, seien es Ausdrucksbewegungen, Lähmungen, Krämpfe und Sekretionsanomalien, fordert nicht sofort das rätselvolle Geschehen selbst, eben diese besonders leichte, besonders schnelle Umwandlung eines psychischen Vorgangs in eine körperliche Erscheinung, eine Erklärung? Mit der Feststellung der Tatsache allein, dass krankhafte körperliche Veränderungen durch Vorstellungen hervorgerufen werden, mit der Feststellung der Tatsache, dass dieser Vorgang eben die Hysterie kennzeichnet, ist doch das Geschehen selbst nicht geklärt, nicht das innere Wesen des Geschehens, das »Wie« der Umsetzung bloßgelegt. Also auch nach dem Möbius'schen Deutungsversuch braucht man sich nicht zu scheuen, mit Erlenmeyer offen und ehrlich zu bekennen, dass wir uns der Hysterie gegenüber immer wie vor einer »Unbekannten« finden.

      Steyerthal findet die Möbius'sche Definition schon an sich höchst anfechtbar, weil sich keine Grenze ziehen lässt, wo die durch Vorstellungen hervorgerufene krankhafte Veränderung des Körpers beginnt. A priori ist ja die Umsetzung von Vorstellungen in körperliche Veränderungen nichts Krankhaftes. Wenn der Mensch vor Scham errötet und vor Scham erblasst, wenn Schreck ihn lähmt oder sein Haupthaar in einem Augenblicke bleicht, so ist das wohl eine unmittelbare Umsetzung psychischer Vorgänge in körperliche Erscheinungen, doch keine Hysterie. Wo verläuft also die Grenze, jenseits derer solch Vorgang als hysterisch abzustempeln ist? Möbius hilft sich, indem er sagt: »Jeder Mensch ist etwas hysterisch«. Doch nicht bei jedem Menschen erfolgt die Umsetzung von Vorstellungen in krankhafte körperliche Erscheinungen, und sicherlich nicht mit besonderer Leichtigkeit. Deshalb will Steyerthal diese Vorgänge, die Möbius als hysterisch ansieht, nur als Symptome eines zugrunde liegenden Übels, der Nervenschwäche angesehen wissen.

      »Weil ein Individuum nervenschwach ist oder degeneriert oder imbezill oder psychopathisch minderwertig, deshalb wirkt schon ein packender Gedanke, ein Schreck oder ein sonstiges Ereignis als deletärer Faktor.«

      Mit dieser Annahme