Siegfried Placzek

Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie


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Schmerzquelle sieht Freund eine häufige Auslösungsart der Hysterie.

       Dass solche Schmerzquelle direkt Hysterie erzeugen sollte, ist nach Wesen und Art des Leidens undenkbar. Wohl aber könnte diese Schmerzquelle – immer vorausgesetzt, dass sie tatsächlich besteht – auf dem Umwege über die Psyche unheilvoll wirken. Wenn O. Adler den Mangel jedes sexuellen Empfindens als Ursache der Hysterie anschuldigt, so fehlt auch hier jeder Beweis eines direkten Zusammenhangs. Wohl aber kann diese sexuelle Einbuße, wenn sie peinvoll empfunden wird, zum Kern hypochondrischer Selbstbetrachtung mit allen daraus resultierenden Folgeerscheinungen werden, und nur eine Frage der angeborenen Disposition mag es dann sein, ob auch hysterische Erscheinungen ausgelöst werden. Dass auch die sexuelle Unempfindlichkeit schon Symptom bestehender Hysterie sein kann, sei noch ausdrücklich erwähnt Mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes. Fischers Med. Buchhdl., Berlin 1911..

      Bei solcher Einschätzung des Genitalapparates für die Hysterie kann es nicht wundernehmen, dass die Gynäkologen die Hysterie des Weibes immer noch aus einem Punkt kurieren zu können vermeinten und das taten, obwohl die nervenärztliche Welt nachdrücklichst die Zwecklosigkeit aller genitalen Eingriffe betonte, ja schon die verhängnisvolle Wirkung des genitalen Eingriffes an sich zeigte, und besonders die krankhafte Neigung der Hysterie zur Duldung solcher Eingriffe betonte. Erst Warnungsrufe aus dem eigenen Lager, die in neuester Zeit Besonders eindrucksvoll jüngst von Max Hirsch: Frauenheilkunde und Bevölkerungspolitik. Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gynäk. 1919. Bd. 49, H. 3.ertönten, scheinen die Operationsfreudigkeit zur Heilung des hysterischen Übels einzudämmen. Doch geblieben ist für alle Ärzte noch das Stigma hystericum, der Ovarialpunkt, unerschütterlich in seiner vermeintlichen Fernwirkung und seiner Wertigkeit, obwohl die modernen Neurologen sogar jede ursächliche Beziehung von Genitalapparat und Hysterie leugneten. Bei dieser extremen Wandlung der Hysterielehre in eine rein psychisch bedingte Erkrankung wurde der eine praktische Erfolg wenigstens erreicht: dass nicht mehr bei irgendwelchen als hysterisch imponierenden Leiden alsbald der Genitalapparat abgesucht wurde und jede denkbare Abweichung als reparaturbedürftig erschien, einzig zu dem Zweck, das angebliche Übel zu heilen.

      Während die Bedeutung der Genitalorgane in heutiger Auffassung als ursächlicher oder auslösender Faktor der Hysterie stark zusammengeschrumpft ist, werden die Genitalfunktionen, und hier nicht nur die periodischen Umwandlungen im Frauenorganismus, – die Menstruation, Gravidität, Laktation, Klimakterium –, sondern auch die rein sexuellen Begleiterscheinungen als bedeutungsschwer gewürdigt. Ohne Rohleder's Ansicht zu teilen, dass die Dyspareunie, d. h. die sexuelle Kälte Hypochondrie, Melancholie, jedenfalls aber Hysterie und Hystero-Neurasthenie nicht selten »zur Entwicklung kommen lasse« Rohleder sagt: Hingegen ist noch eines der weit verbreitetsten ätiologischen Umstände für Dyspareunie zu gedenken, des Coitus interruptus, eines Umstandes, den ich in meinem soeben erscheinenden Band 4 meiner Zeugungsmonographien: »Die Funktionsstörungen der Zeugung beim Weibe« folgendermaßen schildere: »Wenn man sich vorstellt, wie die stark Erregte jeglicher sexuellen Auslösung ermangelt, während der Mann wenigstens außerhalb der Vagina noch zur wenn auch mangelhaften Ejaculation und daher zum wenn auch mangelhaft das Wollustgefühl auslösenden Orgasmus kommt, die Frau aber nicht einmal zu einem solchen teilweisen wie der Mann, wird man verstehen, dass im allgemeinen der Coitus interruptus bei ihr schwerwiegende Folgen haben muss. Wir sehen hier bei diesen Frauen zweierlei. Entweder die Frau überwindet diesen Zustand auf die Dauer nicht, sondern wird ihrem Gatten untreu, Zustände, wie wir sie z. B. in Frankreich an der Tagesordnung sehen, oder die Frauen bleiben anständig, ihrem Gatten treu, wie es in Deutschland mehr die Regel ist. Dafür entwickeln sich im Laufe der Zeit zwei Zustände: 1. Bei langsam erregbaren Frauen wird der mehr oder weniger vorhandene Zustand der Dyspareunie noch verstärkt; 2. bei normal empfindenden oder ganz leicht erregbaren Frauen schafft das ständige Gefühl der sexuellen Nichtbefriedigung die Hysterie resp. Hystero-Neurasthenie.«

      [Arch. f. Frauenk. 1. Bd. 2. H. S. 147.]

       Auf die höchst merkwürdige Auffassung Rohleders von den Zuständen in Frankreich will ich nicht näher eingehen. O. Adler erklärt sogar die Masturbation für eine der häufigsten Ursachen der weiblichen Unempfindlichkeit beim normalen Geschlechtsverkehr. Man könne in einigen Fällen nicht gut von »eisigen und kalten Naturen« sprechen, im Gegenteil, derartige Frauen seien häufig allzu sinnlich und empfinden es als eine schwere und drückende Last, dass sie den Kitzel der Wollust nur auf dem indirekten manuellen Wege und nicht durch die reguläre Immissio in den Armen eines Mannes zu befriedigen imstande sind [l. c. S. 92.], muss ich doch nach meinen Erfahrungen die Dyspareunie in ihrer Rückwirkung auf die Psyche gleich ihm bedeutungsvoll einschätzen, und nur eine Frage der angeborenen Widerstandskraft des Zentralnervensystems dürfte es sein, ob und wie weit die Summationswirkung des ausbleibenden Orgasmus rückwirkend die Psyche beeinflusst. Die Kohabitation ohne den Endeffekt durch Orgasmus ändert auf die Dauer die Gemütslage des unbefriedigten Teiles stark und kann, wie jedes andere seelische Chokmoment, schlummernde hysterische Dispositionen anfachen, also gegebene Anlagen aufflammen lassen.

       So notwendig auch die Abkehr von der allzu einseitigen Betonung ursächlicher Beziehungen zwischen Genitalapparat und Hysterie war, so förderlich die Wandlung der Auffassung wurde, dass leichte Umsetzbarkeit von Vorstellungen in körperliche Funktionen das Krankheitsbild erklärten, die Tatsache scheint hierbei übersehen worden zu sein, dass die Geschlechtsentwicklung der Frau und die in ihren Geschlechtsorganen sich abspielenden Vorgänge andauernd Fernwirkungen dem Zentralnervensystem zufließen lassen, dessen Zentren mit eigenartiger Energie speisen, die jeweils nach Masse und Haftpunkt zur Entladung kommen kann, bald umgrenzt, bald erschreckend ausgedehnt. Solche Abhängigkeitsbeziehungen leugnen zu wollen, hieße die Bedeutung der Geschlechtlichkeit für den Gesamtorganismus verkennen, und diese wird sicher verkannt, wenn man die hysterischen Phänomene betrachtet. Wohl irrt das Laienurteil, das den Begriff »hysterisch« mit »geschlechtlich« identifiziert, doch in diesem oberflächlichen Urteil bleibt ein gewisser berechtigter Kern, der, wie ausdrücklich betont sei, die körperlichen Erscheinungen, die rein nervöse Beeinflussbarkeit des Zentralnervensystems durch die Geschlechtsorgane betrifft. Hier hat die neuzeitliche Lehre von der inneren Sekretion, der tiefgreifende nachweisbare Einfluss der Genitalorgane, auch der männlichen, auf die gesamte psychische Entwicklung so erhellende Einblicke eröffnet, dass die Möglichkeit des Zusammenhangs zwischen hysterischen Phänomen und Geschlechtsfunktion nicht von der Hand gewiesen werden kann, wenn man auch nur sagen kann, dass auf diese Weise das Zentralnervensystem zur Auslösung jener Phänomene reif wird.

      Dass die ursprüngliche Anschauung von der ursächlichen Bedeutung der Geschlechtsorgane für die Hysterie sich ins Gegenteil wandelte, zur völligen Ablehnung jedes ätiologischen Zusammenhangs der Genitalorgane für die Hysterie, muss umso mehr wundernehmen, als die Rückwirkung der Hysterie auf den Genitalapparat, und zwar eine vielfältige, symptombildende, von der modernsten Neurologie vertreten wird. Wenn krankhafte oder wenigstens abnorme psychische Einstellung weitgehende Fernwirkung auf die Genitalfunktionen übt, sollten letztere nicht auch das Zentralnervensystem berühren und schwerwiegend verändern können? Sollten derartige Wechselbeziehungen in umgekehrter Richtung nicht wenigstens theoretisch denkbar sein? Mir erscheint es bei der Bedeutungsschwere des Genitalapparats für die ganze psychische Verfassung des Individuums absolut sicher, obwohl ich die weitgehende symptombildende hysterische Eigenart durch Einfluss der Geschlechtsfunktionen nicht unterschreibe.

      Beim Manne erklärt Lewandowsky es als »reine Willkür«, ob man sämtliche Symptome der psychischen Impotenz, die mangelnde Erektion, die ejaculatio praecox usw. in ihrer großen Zahl von Fällen zur Neurasthenie oder Hysterie zählen will l. c. S. 60.. In anderen Fällen, wo die sexuellen Störungen von Zwangsgedanken abhängen, sei die reine Abgrenzung gegen die Hysterie schwierig. Ob es sich endlich um den störenden Einfluss von psychischen Vorgängen auf die Genitalfunktionen handle, – hier kann ja die ängstliche Erwartung, ob der Koitus gelingen werde, sein Zustandekommen vereiteln, – es sei nicht einzusehen, warum diese exquisit psychogenen Störungen nicht zur Hysterie gerechnet werden können. Psychogen könnten auch gehäufte Pollutionen sein. Selbst die Spermatorrhöe könnte ebenso bedingt sein, und die ausstrahlenden Schmerzen der Parästhesien, welche die Störungen im Bereich der männlichen Genitalorgane fast immer begleiten, unterschieden sich in nichts von