Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie
kulturellen Leistungen, ein Prozess, den er Sublimierung nennt. »So wirkt die Libido, oder überhaupt die Sexualität als Triebkraft auf das seelische Leben, regt die als Phantasie bezeichneten Assoziationsvorgänge an, wird dadurch von größter Bedeutung für das künstlerische Schaffen, ja selbst für das abstrakte Denken kann sie förderlich sein, intellektuelle Leistungen bedeutend fördern,« sagt Löwenfeld Löwenfeld, Über die sexuelle Konstitution und andere Sexualprobleme. Bergmann, Wiesbaden 1911, S. 176.. Allerdings kommt er bei eingehender Würdigung von Einzelfällen, und zwar Dichtern und Künstlern, zu dem Ergebnis, »dass der Anteil der Sublimierung an dem dichterischen Schaffen im Einzelfalle ein sehr verschiedener sein mag, und dass auch die Liebe nicht immer die anregende Rolle spielt, die man ihr zuzuschreiben zumeist geneigt ist. Wenn wir streng kritisch verfahren wollen, müssen wir sogar zugestehen, dass bei manchen Dichtern es fraglich ist, ob Sublimierungsvorgänge auf ihre Produktivität überhaupt Einfluss ausüben. Was für Dichter gilt, darf nun wohl auch für Künstler angenommen werden, und es scheint demnach, dass die Beziehungen der Sexualität zur Kunst im Großen und Ganzen nicht so außerordentlich bedeutungsvoll sind, wie man auf Grund einzelner auffallender Beispiele vielfach annahm l. c. S. 209.«. Wenn auch Löwenfeld seine Ansicht über das Problem: Kunst und Sexualität »manchem vielleicht etwas ketzerisch klingend« nennt, so zögert er nicht, die Ansicht auszusprechen:
»Die größten unter den Künstlern, die wahrhaft genialen, bedürfen für ihr Schaffen des aus der Sublimierung resultierenden Zuwachses von geistiger Energie nicht, wenn es auch gelegentlich den Anschein hat, als ob sie auf diesem Wege eine auffällige Förderung gewonnen hätten. Für die Größen zweiten und dritten Ranges bildet dagegen die Sublimierung eine bedeutende Hilfe; sie kann bei ihnen, insbesondere, wenn sie von erotischen Neigungen begleitet ist, die schon versiegende Schaffenskraft neu anregen und dieselbe zeitweilig zu außergewöhnlicher Höhe steigern. Doch ist man nach den vorliegenden Erfahrungen auch bei diesen Künstlern keineswegs berechtigt, Sublimierungsvorgänge als eine unentbehrliche Vorbedingung ihres Schaffens zu betrachten.«
Auf Grund der eigenen Erfahrung teile ich durchaus Löwenfelds Ansicht, dass ein Vergleich der Stärke des weiblichen Geschlechtstriebes mit dem männlichen sich nicht »durch eine einzige allgemeine Angabe« bezeichnen lässt.
»Wir begegnen beim Weibe allen Abstufungen in der Entwicklung des Sexualtriebes, die wir beim Manne in der Breite des Normalen, und, wie wir beifügen können, über diese hinaus auf pathologischem Gebiete antreffen, nur sind die geringen Grade dieser Entwicklung, wenigstens bei einem Teile unserer Bevölkerung, häufiger vertreten, und zeigt die Libido periodisch wiederkehrende Schwankungen, die beim Manne fehlen« Löwenfeld, 1. c. S. 77..
Für sicher hält er es nur, dass die absolute Frigidität beim zarten Geschlecht weit häufiger vorkommt als beim starken. Sie ist aber nicht gleichmäßig über alle Schichten der weiblichen Bevölkerung verteilt, ist zweifellos in den sozial höherstehenden und gebildeteren Klassen beträchtlicher als in den unteren. Was von der geringeren Stärke der Libido des Weibes behauptet wird, gilt nur für die sozial höherstehenden Klassen, in welchen ererbte Anlage, Erziehung, zum Teil wohl auch höhere Intelligenz zusammenwirken, das Niveau der Libido herabzudrücken. Dass in den unteren Schichten unserer weiblichen Bevölkerung die sexuellen Bedürfnisse durchschnittlich geringer sind, als bei den Männern, hierfür liegt keinerlei stichhaltiger Beweis vor.
Freud glaubt es durch vielfältige Erfahrung bewiesen, »dass die Genitalien für die Lustgewinnung durch andere Organe vertreten werden können, wie beim normalen Kuss, wie in den perversen Praktiken der Lebewelt, wie in der Symptomatik der Hysterie« Freud, Allg. Neurosenlehre. S. 371.. Bei der Hysterie sollen ganz gewöhnliche Reizerscheinungen, Sensationen und Innervationen, selbst die Vorgänge der Erektion, die an den Genitalien daheim sind, auf andere, entferntere Körperregionen verschoben werden. Gerade durch die Symptomatik der Hysterie will Freud zu der Auffassung gelangt sein, »dass den Körperorganen außer ihrer funktionellen Rolle eine sexuelle – erogene – Bedeutung zuzuerkennen ist, und dass sie in der Erfüllung dieser ersteren Aufgabe gestört werden, wenn die letztere sie allzu sehr in Anspruch nimmt.«
»Ungezählte Sensationen und Innervationen, welche uns als Symptome der Hysterie entgegentreten an Organen, die anscheinend nichts mit der Sexualität zu tun haben, enthüllen uns so ihre Natur als Erfüllung perverser Sexualregungen, bei denen andere Organe die Bedeutung der Geschlechtsteile an sich gerissen haben. Das ersehen wir auch, indem ausgiebigerweise gerade Organe der Nahrungsaufnahme und der Sekretion zu Trägern der Sexualerregung werden können. Es ist also dasselbe, was uns die Perversionen gezeigt haben, nur war es bei diesen ohne Mühe und unverkennbar zu sehen, während wir bei der Hysterie erst den Umweg über die Symptomdeutung machen müssen und dann die betreffenden perversen Sexualregungen nicht dem Bewusstsein der Individuen zuschreiben, sondern sie in das Unbewusste derselben versetzen« Freud, Allg. Neurosenlehre. S. 352..
Für Freud hat jedes neurotische Symptom einen Sinn, der durch analytische Deutung enträtselbar ist Ebendort, S. 316., das Symptom selbst, »ein Ersatz für etwas anderes, was unterblieben ist«. Gewisse seelische Vorgänge hätten sich normalerweise so entwickeln sollen, dass das Bewusstsein Kunde von ihnen erhält. Das ist nicht geschehen, und dafür aus dem unterbliebenen, irgendwie gestörten Vorgange, der unbewußt bleiben musste, das Symptom hervorgegangen.
Freuds Sublimationstheorie führt alle Werte des Lebens, alle Lust, angefangen von der primitiven Geschlechtslust, weiter die verfeinerte durchgeistigte Liebe und Romantik bis zur religiösen und künstlerischen Ekstase auf die Sexualität zurück. Lust und Sexualität ist ihm eben ein und dasselbe. Der gehemmte Geschlechtstrieb, wachsende Sexualenergien, suchen in ihrem Ausdehnungsdrange andere Wege und finden sie in der Bahnung für schlummernde Fähigkeiten, die so als Ventile wirken. »So wird der Sinnliche, der Libidinöse zum romantischen Schwärmer, zum Poeten, zum Maler und Musiker, zum religiös Ekstatischen, aber auch zum Neurotiker und Hysterischen. Also auch die Hysterie nach der Sublimationstheorie eine Art Ventil der Sexualenergie. Ein hysterisches Erbrechen z. B. ist daher sozusagen ›eine minderbeliebte Schwester Beethovenscher Symphonien, Raffaelscher Madonnen oder religiöser Begeisterung eines Heiligen‹;.« Neutra l. c.
Es ist hier nicht der Ort, das Für und Wider Freudscher Hypothesenbildung eingehend zu erörtern. Sicher überschätzt Freud die Bedeutung und die Universalität des sexuellen Traumas für die Entstehung der Hysterie, sicher wird auch ein hysterisches Symptom durch ein bestimmtes psychisches Trauma nicht restlos erklärt, sicher ist auch nicht jedwedes hysterische Symptom eine Ersatzwirkung für sexuelle Nichtbefriedigung, es besteht aber die Möglichkeit, dass gewisse triebartige Sonderbarkeiten der Denk- und Handlungsweise in der Pubertätsperiode durch sexuelle Dränge ausgelöst werden.
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