Siegfried Placzek

Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie


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ist ein Ersatz für etwas anderes, was unterblieben ist. Gewisse seelische Vorgänge hätten sich normalerweise soweit entwickeln sollen, dass das Bewusstsein Kunde von ihnen erhält. Das ist nicht geschehen, und dafür ist aus den unterbrochenen, irgendwie gestörten Vorgängen, die unbewußt bleiben mussten, das Symptom hervorgegangen. Es ist also etwas wie eine Vertauschung vorgefallen; wenn es gelingt, diese rückgängig zu machen, hat die Therapie der neurotischen Symptome ihre Aufgabe gelöst« Ebenda, S. 317..

      Oder:

      »Nach einer Regel, die ich immer wieder bestätigt gefunden, bedeutet ein Symptom die Darstellung einer Phantasie mit sexuellem Inhalt« Studien über Hysterie. S. 413..

      Oder:

      »Die Krankheitserscheinungen sind, geradezu gesagt, die sexuellen Betätigungen des Kranken« Ebenda, S. 461..

      Es ist also die Aufgabe der psycho-analytischen Behandlung, »alles pathogene Unbewusste ins Bewusste umzusetzen«. Eine Formel, die Freud auch durch die andere ersetzt:

      »Alle Erinnerungslücken des Kranken auszufüllen, seine Amnesien aufzuheben.«

       Gelingt es der Psychokatharsis, der von Breuer und Freud auf Grund ihrer Lehre begonnenen Behandlung, das auslösende Ereignis, das »psychische Trauma« in Hypnose aufzufinden, die Kranke das auslösende Ereignis wieder durchleben zu lassen, es in den Brennpunkt des Bewusstseins zu bringen und den eingeklemmten Affekt durch Neuerleben zu erledigen, – abzureagieren, – so schwindet die Krankheit. Freud nennt die roheste Vorstellung von diesen Systemen die bequemste, nämlich die räumliche, und erläutert das auf folgende Weise:

      »Wir setzen also das System des Unbewussten einem großen Vorraum gleich, in dem sich die seelischen Erregungen wie Einzelwesen tummeln. An diesen Vorraum schließt sich ein zweiter, engerer, eine Art Salon, in welchem auch das Bewusstsein verweilt. Aber an der Schwelle zwischen beiden Räumlichkeiten waltet ein Wächter seines Amtes, der die einzelnen Seelenregungen mustert, zensuriert und sie nicht in den Salon einlässt, wenn sie sein Missfallen erregen. Sie sehen sofort ein, dass es nicht viel Unterschied macht, ob der Wächter eine einzelne Regung bereits von der Schwelle abweist, oder ob er sie wieder über sie hinausweist, nachdem sie in den Salon eingetreten ist. Es handelt sich dabei nur um den Grad seiner Wachsamkeit und um sein frühzeitiges Erkennen. Das Festhalten an diesem Bilde gestattet uns nun eine weitere Ausbildung unserer Nomenklatur. Die Regungen im Vorraum des Unbewussten sind dem Blick des Bewusstseins, das sich ja im anderen Raum befindet, entzogen; sie müssen zunächst unbewußt bleiben. Wenn sie sich bereits zur Schwelle vorgedrängt haben und vom Wächter zurückgewiesen worden sind, dann sind sie bewusstseinsunfähig; wir heißen sie: verdrängt. Aber auch die Regungen, welche der Wächter über die Schwelle gelassen, sind darum nicht notwendig auch bewusst geworden; sie können es bloß werden, wenn es ihnen gelingt, die Blicke des Bewusstseins auf sich zu ziehen, wir heißen darum diesen zweiten Raum mit gutem Recht das System des Vorbewussten. Das Bewusstsein behält dann seinen rein deskriptiven Sinn. Das Schicksal der Verdrängung besteht aber für eine einzelne Regung darin, dass sie vom Wächter nicht aus dem System des Unbewussten in das des Vorbewussten eingelassen wird. Es ist derselbe Wächter, den wir als Widerstand kennenlernen, wenn wir durch die analytische Behandlung die Verdrängung aufzuheben versuchen« Vorles. Psychoanalyse. 3. Teil. s. 336.

      Für Freud handelt es sich bei der Hysterie vornehmlich um sexuell verdrängte Reminiszenzen, und wenn er in diesen vielfach auch kein Erlebnis, sondern Phantasieprodukte feststellt, die sexuelle Reaktionsweise erscheint ihm sicher.

      »Das Gedankenleben der Hysterischen ist erfüllt von Reminiszenzen, in denen in keinem Falle das psychische Trauma, und zwar das sexuelle, vermisst wird.«

       Also was für Charcot als sinnlose Ausdeutung erschien, die Identifizierung von hysterisch mit geschlechtlich, kehrt in der Freudschen Lehre voll wieder, nur in modern psychologisch veränderter Form. Die Psyche der Hysterischen ist von sexuellen Reminiszenzen erfüllt. Diese sind durch ein sexuelles Trauma entstanden, das schon in zartester Kindheit eingewirkt haben kann. Da für Freud schon jede Lebensbetätigung des Säuglings, weil sie lustbetont ist, auch sexuell erscheint, da für ihn der Säugling sogar polymorph-pervers ist, da für ihn jedes Kind sich frühzeitig mit Penisangst, Penisneid, mit Liebe zum andersgeschlechtlichen und Eifersucht gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil abquält, haben wir also ein verwirrendes, kaleidoskopisches Sammelsurium sexueller Entstehungsmöglichkeiten hysterischer Phänomene, deren Entstehungsmechanismus eindeutig sexuell bedingt ist, krasser in seiner Bedingtheit, wie es der Laienvorstellung in alter Zeit erschien, die hysterisch mit geschlechtlich identifizierte.

      Zur Sexualtheorie Freud bekennt sich neben einer Reihe von Freud-Schülern bis zu einem gewissen Grade auch Dubois, wenn er sagt:

      »Ich bin geneigt zu glauben, dass die verschiedenartigen, undeutlich bewussten und halb bewussten Empfindungen, die mit dem Sexualtriebe verknüpft sind, selbst bei der auch in der Gesinnung unbeflecktesten Jungfrau eine wichtige Rolle in der Entstehung der Hysterie spielen.«

      Es ist nicht verwunderlich, dass diese Lehre einen Sturm entfachte, vom fanatischen Anhänger bis zum enragiertesten Gegner. Das musste umso leichter geschehen, weil ihre ausgesprochene Tendenz zur Verallgemeinerung von Einzeltatsachen, ihre ausgesprochene Neigung zur Dogmatisierung, ihre phantastische Rätselratemethode in der Traumdeutung wegen der Neuartigkeit ihrer Sexualitätstheorie mit ihren Konsequenzen für Bewusstes und Unbewusstes verwirrte. Wenn Steyerthal diese ganze Lehre damit abtun zu können glaubt, dass er sagt:

      »Je hirnverbrannter ein Gedanke ist, umso mehr wird er die Köpfe entzünden. Die Veröffentlichungen Siegmund Freuds hat man als einen Markstein in der Geschichte der großen Neurosen bezeichnet. Hoffentlich wird der olympische Wagen der Wissenschaft diesen Stein in der Rennbahn glücklich umfahren« Steyerthal, »Was ist Hysterie?« Marhold, Halle a. S. 1908. S. 12.,

       so irrt er nicht nur, er verkennt auch den schöpferischen Kern, der in dieser Lehre steckt. Und dabei gibt Steyerthal zu, »dass solche Fälle, wie sie die Wiener beschreiben, vorkommen, dass man auch für manche sonst unerklärbaren Neurosen (Angst- und Zwangszustände) ein geschlechtliches Moment im Einzelfall nicht übersehen darf«. Das sieht er »nach vielen Beobachtungen« als feststehend an. Doch er erachtet es als einen Fehlschluss, »der uns bei wissenschaftlichen Forschern oft begegnet«, dass »allemal, wo wir die Hysterie finden, ein solches Faktum im Spiel« gewesen sein soll, weil einmal jemand durch einen unsittlichen Angriff hysterisch geworden ist, »es wird also eine einzelne Tatsache auf das Ganze verallgemeinert, auf eine einzelne Beobachtung ein apodiktisches Urteil gebaut«. Diesem Vorwurf kann man beipflichten. Das veranlasst aber keineswegs, die Lehre in Bausch und Bogen zu verurteilen. Man mag zur Freudschen Lehre sich stellen, wie man will, man mag ihre Auswüchse beklagen, die besonders den Freud-Jüngern zur Last fallen, man mag ihre einseitige, pansexualistische Ausdeutung, ihre Verzerrungen in der Erfassung von Kindes- und Elternliebe bedauern, sie ist von einem tiefschürfenden, geistvollen Denker ersonnen, hat schon jetzt vielfältige, fruchttragende Anregungen gegeben, hat tief dunkle Phänomene dem Verständnis näher gebracht, und, was nicht minder wichtig ist, die Bedeutung der Sexualität in einer Weise gezeigt, dass die selbst von der ärztlichen Wissenschaft allzu lang geübte Vogel-Straußpolitik gegenüber allem Geschlechtlichen endlich aus ihrer Erstarrung erwacht. Die schroffe Ablehnung Steyerthals erscheint umso erstaunlicher, als Steyerthal mit seiner Auffassung des hysterischen Paroxysmus als Erschöpfungssymptom sich Freud auffallend nähert. Wie er das verstanden wissen will, zeigt er in folgenden Worten:

      »In einem unvorsichtig geheizten Dampfkessel steigt der Druck allmählich höher und höher, bis endlich der Zeiger des Manometers auf den roten Strich deutet, der die höchste zulässige Spannung angibt. In diesem Augenblick erfolgt eine Explosion – d. h. es platzt nicht etwa der Kessel, sondern das Sicherheitsventil wird gesprengt, und der eingepresste Dampf entweicht mit betäubendem Getöse durch die langgesuchte Öffnung.

      Genau so wirken die angehäuften Unlustgefühle im Seelenleben eines Menschen; sie werden zu Spannkräften, die schließlich jede Hemmung durchbrechen und sich in furibunder Expansion Luft machen. Wie man – um im Bild zu bleiben – das