Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie
– ist viel befahren, führt zu den seltsamsten Störungen, und die Frage taucht zwingend auf:
Sollte es sich nicht bei den Beziehungen von Genitalorganen und Hysterie um einen circulus vitiosus handeln können? Zum mindesten überall dort, wo ein disponiertes Nervensystem besteht, auf das die organischen Empfindungen und Vorstellungen, evtl. auch physiologisch-chemische Reize besonders störend einwirken? Andererseits sollte das einmal hysterisch entartete Nervensystem nicht wieder seinen Schädlichkeitseinfluss auch zu den Genitalien entsenden können? Selbst die bekannte Tatsache, dass Knaben die erste Erektion gelegentlich einer körperlichen Züchtigung bekommen, will Lewandowsky »durch einen dem Psychischen nahestehenden« Mechanismus erklären. Er erwähnt es, weil es in der Vorgeschichte Nervöser und auch Hysterischer »nicht so selten« vorkommt. Soll aus diesem Vorkommnis aber irgendein Zusammenhang erschlossen werden? Was ist denn natürlicher, als dass die leichte Ansprechbarkeit der Erektionsfähigkeit gerade unter dem die Züchtigung begleitenden Affekt der Angst und des Schmerzes erfolgt! Auch die Möglichkeit unmittelbarer mechanischer Reizwirkung auf das Lendenzentrum ist nicht von der Hand zu weisen. Weshalb aber nur ein Zusammenhang mit der Hysterie, weil solch Mechanismus in der Vorgeschichte vorkommt? Eine andere Frage, ob und wie weit eine solche körperliche Züchtigung des Jugendlichen bestimmend für die spätere Frage des Sexualtriebes werden kann, braucht hier nicht erörtert zu werden. Jedenfalls scheint es mir zu weit zu gehen, wenn Lewandowsky noch die Frage ventiliert, ob das Hysterische bereits als Ausdruck einer sexuell pathologischen Konstitution oder einer sexuell pathologischen Richtung anzusehen ist. Jedenfalls darf, wenn Lewandowsky so viele Einflussmöglichkeiten der Hysterie auf die Genitalfunktionen für möglich hält, der Einfluss der Genitalfunktionen auf die hysterische Psyche nicht gering bewertet werden, sicherlich auslösend, vielleicht sogar erzeugend.
Wenn schon beim Manne so vielfältige Beziehungen annehmbar sind, so noch mehr bei der Frau, wo Lewandowsky den Vaginismus als die bekannteste Störung im Bereiche des weiblichen Genitalapparates anspricht. Dessen psychogene Entstehung hält er schon nach dem Erfolg der Psychotherapie »für vollkommen sicher«; er will aber nicht bestreiten, dass in anderen Fällen echt reflektorische Momente wirksam sein können. In jenen Fällen ist wieder die Symptombildung der hysterischen Psyche gerade in den weiblichen Genitalien sicher, »als Form hysterischer Sensibilitätsstörungen in dieser Körperregion möglich, Schmerzen und Hyperästhesien auf der einen Seite, Analgesien und Anästhesien der Vaginalschleimhaut auf der anderen Seite, in allen Stufen und Kombinationen bis zu den Fällen, wo nur die Wollustempfindung oder der Orgasmus fehlt«. Die Entstehungsmöglichkeit dieses Zustandes durch eine angeborene psychische Anlage verkennt Lewandowsky nicht, doch sieht er auch in erworbenen psychischen Zuständen und gerade in letzteren »durchaus hysterische Mechanismen«. Als speziell hysterisch sollen die Fälle gelten, in denen diese Mechanismen unbewußt wirksam sind.
Als entgegengesetzt der hysterischen Genital-Anästhesie nennt Lewandowsky noch jene Fälle, die den Koitus oder sonstige geschlechtliche Akte halluzinatorisch erleben.
Wir finden also in der Monographie über Hysterie zahlreiche Wechselwirkungen von Genitalapparat und Hysterie erwähnt, in ihren Einstellungs- und Fortbildungsmöglichkeiten erörtert, – doch kaum ein Sterbenswörtchen vom Geschlechtsleben der Hysterischen selbst.
Von den chronischen Erkrankungen der weiblichen Genitalien glaubt Strohmayer l. c. S. 820., dass sie mit ihren Schmerzen, Aufregungen usw. »sicher Hysterie hervorrufen können«, wie alle anderen Schädlichkeiten, die Soma und Psyche des Weibes treffen. »Spezifisch ist der Zusammenhang zwischen beiden nicht.« Strohmayer spricht schon von dem Sexualleben der Hysterischen. Eine gesteigerte sexuelle Begehrlichkeit gehöre nicht notwendig zum Krankheitsbilde der Hysterie. Zahlreiche Hysterische seien im Gegenteil nicht nur nicht abnorm erregbar, sondern sogar indifferent und frigide. Strohmayer gibt aber zu, dass oft ein deutlicher Hang zur Erotik besteht. Dieser erschöpft sich aber vollständig in zarter Annäherung, in äußerlichem Kokettieren, besonders wenn es gilt, eine Nebenbuhlerin auszustechen. Die körperlichen Geschlechtsgenüsse sind Nebensache oder werden sogar direkt verabscheut.
Als unumstößliches Dogma will Strohmayer diese Auffassung vom Geschlechtsleben der Hysterischen wohl nicht angesehen wissen, denn er erwähnt noch »nach dem Geständnis vieler Ehemänner« den jähesten Wechsel zwischen Extremen, bald leidenschaftliche Begehrlichkeit, bald abstoßende Kälte, vergisst auch nicht eine gewisse Perversität im Sexualleben als »bei manchen Hysterischen unverkennbar« zu erwähnen. »Während sie normalen Geschlechtsgenuss verabscheuen, treiben sie Masturbation, regen sich an lasziver Lektüre auf oder überlaufen Frauenärzte zum Zweck sexueller Untersuchung und fortgesetzter gynäkologischer Prozeduren. Das, was bei Hysterischen von erotomanischen oder nymphomanischen Zügen berichtet wird (schamlose Prostitution von »anständigen« Mädchen oder Ehefrauen), gehört in das Bild der degenerativen Hysterie, in dem auch andere ethische Defekte zahlreich vorhanden sind!« Für unbestreitbar hält er den Einfluss der Menstruation auf das Gemütsleben mancher hysterischen Frau im Sinne eines erregenden Momentes, das alle krankhaften Symptome markanter hervortreten lässt.
Reichardt l. c. lehnt jeden direkten Zusammenhang der hysterischen Disposition mit der Sexualsphäre oder dem Sexualleben ab. »Viele sogenannte Hysterische haben eine völlig normale vita sexualis. Bei anderen hysterischen Personen mit abnormer psychischer Sexualität ist die psychopathische oder degenerative Veranlagung die Ursache der abnormen sexuellen Triebe oder Perversitäten. Letztere sind somit Parallelerscheinungen der degenerativen hysterischen Disposition.« Ebenso wenig haben »Unterleibsleiden« mit Hysterie etwas zu tun. Anschauungen von Frauenärzten, dass eine Schrumpfung des Beckenbindegewebes oder chronische Entzündungsvorgänge daselbst zu einer Reizung sympathischer Nervenelemente und durch Übertragung auf das Zentralnervensystem zur Hysterie führen soll, beruhen auf anatomischen Konstruktionen, welche dem Wesen der Hysterie und ihrer psychischen Ursachen in keiner Weise gerecht werden. Manche degenerativ veranlagten (namentlich weibliche) Personen sind bezüglich ihrer psychischen Sexualität infantil geblieben, wie überhaupt die degenerative Veranlagung und der psychische Infantilismus gewisse Ähnlichkeit aufweisen können. Dagegen darf als feststehend betrachtet werden, dass Gedankeninhalte, affektive Erregungen, Konflikte sexueller Art unter Umständen den Anlass oder Anstoß zu einer hysterischen Reaktion geben können, ebenso wie jede andere affektive Erregung oder ein Konflikt auch.
Hans W. Gruhle l. c. S. 98., der es für viel zu banal erklärt, die Sexualität und ihre Konflikte immer für hysterische Störungen verantwortlich machen zu wollen, da sie nur eine Ursache unter anderen sind, gibt zu, dass auch bei älteren verheirateten und unverheirateten Frauen gelegentlich einmal die Ursache hysterischer Symptome in sexuellen Konflikten oder sexueller Abstinenz liegen kann. Den weiblichen Genitalorganen misst er einen Einfluss auf die Entstehung neurotischer Symptome bei, insofern, als heftige, von den Frauenorganen ausgehende Schmerzen den Organismus herunterbringen, oder eine Uterusverlagerung oder Myome eine Empfängnis verhindern, und die Frauen unter der Sterilität leiden. Diese neurotischen Störungen verschwinden zugleich mit der Ursache.
So scheint der alte Streit um die Bedeutung des Geschlechtsapparats für die Hysterie eindeutig dahin entschieden, dass die Geschlechtlichkeit keineswegs bedeutungslos, doch nicht ursächlich in dem Sinne mitspricht, wie man von alters annahm. Da kam die Freudsche Lehre und mit ihr verblüffend der Rückfall in die älteste Auffassungsweise von der ausnahmslos ursächlichen Bedeutung der Geschlechtlichkeit für die Hysterie, wenn auch in neuartiger, modern-psychologischer Aufmachung. Erschütternde Ereignisse, vielfach dem Patienten selbst nicht mehr erinnerlich, gehen nicht spurlos vorüber, die Erinnerung an sie ist ins Unterbewusstsein verdrängt. Konnte der begleitende Affekt nicht in Ausdrucksbewegungen umgesetzt werden, so klemmte er sich ein und wird nun im hysterischen Symptom wirksam.
»Die Neurose wäre einer traumatischen Erkrankung gleichzusetzen und entstünde durch die Unfähigkeit, ein überstark affektbetontes Ereignis zu erledigen« Vorles. z. Einf. i. d. Psychoanalyse. 3. Teil, Heller u. Co., Leipzig-Wien, 1917. S. 312..
Wie sagt Freud selbst?
»Aus bewussten Vorgängen werden Symptome nicht gebildet; sowie die betreffenden unbewussten bewusst geworden sind, muss das Symptom verschwinden«