Heidi Christina Jaax

Dunkle Wolken über Bernice


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liebte, litt er unter Fernweh und konnte nicht den Pferdestall von Bernice als das Ziel seiner Wünsche sehen.

      "Hallo Jules", begrüßte Amelie ihren Spielkameraden freudig, denn die beiden verbrachten viel Zeit miteinander. Während er ihr die Umgebung zeigte und vieles aus der Natur wusste, unterrichtete sie ihn im Schreiben und lesen und gab das von der Mademoiselle Erlernte gleich an ihn weiter. Auch die Grundregeln im Rechnen sie ihm, was ihm so leicht fiel, dass er sie bald darin übertraf. Und dies, obwohl Gesindekinder keinerlei Schulbildung erhielten und auch deren Eltern des Schreibens und Lesens häufig nicht mächtig waren. "Guten Morgen Amelie, wie geht es dir?" "Oh prächtig, ich will vor dem Frühstück nur schnell nach Orry sehen", sie griff sich eine Mohrrübe und eilte an den Boxen der Reitpferde vorbei zum Ende des Stalls, wo ihr kleines geschecktes Pony untergebracht war. " Na mein kleiner Liebling" begrüßte sie das Tier, welches den Kopf gleich in ihre Hand schmiegte und der Möhre schnappte, die es dann genüsslich verspeiste. Inzwischen war Jules herangekommen und brachte Orry seine Portion Heu, beide sahen dem Pony eine weile beim Fressen zu. "Kommst du heute Mittag mit zum Angeln?"fragte Jules. "Das Wetter scheint schön zu bleiben, treffen wir uns um zwei am Fluss, dann halten alle ihre Mittagsruhe und es fällt niemandem auf, wenn ich weg bin."

      Es wurde von Seiten beider Elternpaare nicht gerne gesehen, wenn Amelie und Jules Zeit miteinander verbrachten. Der Baron und seine Gemahlin befürchteten, dass ihr wohlbehütetes, einziges Kind sich durch den Kontakt mit dem einfachen Gesindekind Verhaltensweisen aneignen könnten, welche einer baroness nicht gut zu Gesicht standen. Jules Eltern, welche sich ihrer untergeordneten Stellung wohl bewusst waren, wollten jegliches Ärgernis mit ihren Brotherren vermeiden und befürchteten hinsichtlich ihres Sohnes, dass er Ambitionen entwickeln könnte, die einem Kind in seiner gesellschaftliche Stellung nicht zuträglich wären. So verabredeten die beiden sich immer heimlich und trafen sich erst außerhalb der Sichtweite vom Schloss, meist an den Felsen beim Fluss, welches ihr Lieblingsplatz war.

      Amelie eilte ins Schloss zurück, wusch sich eilig Gesicht und Hände, tat noch einige hastige Bürstenstriche und eilte dann zum Frühstückszimmer. Sie fand es wie erwartet leer vor, denn ihr Vater nahm sein Frühstück bereits im Morgengrauen ein, bevor er seinen Ausritt über die Wirtschaftshöfe und an den Feldern vorbei machte. Die Mutter nahm ihre Mahlzeiten seit einigen Wochen in ihrem Boudoir ein, sie fühlte sich unpässlich. Lediglich am Mittagstisch nahm sie manchmal teil oder wenn Gäste erwartet wurden auch am Abendessen.

      Ein reichliches Buffet war an einer Seite des Raumes aufgebaut, es gab warme Pasteten, Eier, allerlei frische Backwaren, ein reichhaltiges Angebot verschiedener Käsesorten sowie frisches Obst, zahlreiche Konfitüren und natürlich Honig aus der Waldimkerei. An Getränken standen Kaffee, Tee, Milch, Kakau und diverse Früchtsäfte zur Wahl. Da Amelie am Morgen noch keinen Appetit auf Herzhaftes verspürte, verzehrte sie nur rasch ein Brötchen mit Honig und trank ein Glas Orangensaft dazu, denn sie war spät dran und die Mademoiselle wartete sicherlich schon im Schulzimmer auf sie.

      Auf Pünktlichkeit legte sie allergrößten Wert, es gehörte zu den Grundfesten der guten Erziehung, diesen Bestandteil der Höflichkeit bereits im Kindesalter fest zu verankern. Trotz der Eile traf sie etwas zu spät im Schulzimmer ein und erhielt gleich zu Beginn eine Rüge von der Mademoiselle. Amelie war eine gute Schülerin, sie lernte leicht, allerdings nur in den Fächern, welche sie interessierten und in denen sie ihre Phantasie einbringen konnte. So liebte sie besonders Geschichte und Biologie, lernte verbissen Fremdsprachen um sich im Hinblick auf spätere Reisen verständigen zu können. Ein Graus war ihr jedoch die Mathematik, sie war langweilig und das Rechnen würden ohnehin immer andere für sie übernehmen, wie ihr Vater oder die Verwalter des Barons und später ihr Gemahl. Also wozu die kostbare Zeit mit derart unnützem Kram vergeuden.

      Es beeindruckte sie allerdings sehr, wie schnell Jules ihre mageren Kenntnisse verwertete und ganz und gar nicht der Meinung war, dies sei eine unnütze Anstrengung. Denn er trotz seines jugendlichen Alters als ältester einer großen Kinderschar früh gereift, hatte im Hinblick auf seine Zukunft eigene Pläne, welche sich aber sehr stark von denen seines Vaters unterschieden. Doch bisher hatte er noch mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Amelie, dazu würde er später noch Gelegenheit haben, wenn sie beide etwas älter waren.

      In dem großen Schulsaal, in welchem sie sich allein mit der Mademoiselle mitunter recht verloren vorkam, standen sich nur ihre zwei Pulte gegenüber. Wie gerne hätte sie ebenso wie die Kinder auf den benachbarten Gütern eine fröhliche Schar von Geschwistern um sich herum gehabt. Al sie dies einmal gegenüber der Mademoiselle äußerte, lächelte diese nur geheimnisvoll: „Sei nicht so ungeduldig kleine Amelie, warte ab, vielleicht bringt dir das Christkind ein Geschwisterchen.“ Das hörte sich jedoch so sehr nach billigem Trost an, dass sie nicht ernsthaft daran glaubte.

      Ungeduldig war sie immer, dazu noch neugierig und viel zu wild für ein Mädchen, auch jetzt sah sie wieder völlig derangiert und etwas angeschmutzt aus. Das kastanienbraune Haar verstrubbelt, ihr Leinenkleid zerknittert, mit einem hochroten Gesicht, welches auch sonst einen viel zu dunklen Teint aufwies, da Amelie sich ständig im Freien aufhielt ohne sich mit einem Hut gegen die Sonne zu schützen.

      Der heutige Unterricht verging wie im Flug, zum Abschluss erzählte Amelie der Mademoiselle Darnelle von ihrem letzten Traum und stellte weitere Fragen über Argentinien. Diese hatte ebenfalls eine Schwäche für das ferne Land, obwohl ihrerseits wenig Aussicht bestand, dass sie es jemals bereisen würde.

      Sie hatte diese Stellung angenommen, weil sie als junge, mittellose Dame von guter Herkunft kaum eine andere Möglichkeit hatte, auf ehrbare Weise ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ihr Vater war vor einigen Jahren hochverschuldet verstorben und nach Ablösung seiner Verpflichtungen war ihr nichts geblieben als eine gute Schulbildung und Erziehung. Sie sah leidlich gut aus, war jedoch absolut unauffällig aufgrund ihrer dezenten Art sich zu kleiden und zu frisieren. Obwohl sie keinerlei Referenzen vorzuweisen hatte, erhielt sie diese Stellung durch die Fürsprache einer gutsituierten, alten Freundin ihrer Familie. Sie war zufrieden mit ihrem Los, die Herrschaft auf Bernice waren angenehme Menschen, welche keine unbilligen Forderungen an sie stellten. Und so nährte sie keinerlei unerreichbare Zukunftsträume. Dennoch überfiel sie besonders in den Nächten eine seltsame Sehnsucht, ein Fernweh, ja die Hoffnung, dass ihr Leben nicht bis zum Ende so bleiben würde, wie es jetzt war.

      Baronin Therese de Bernice

      Marie holte Amelie im Schulraum ab, „deine Mutter kommt heute nicht zum Mittagessen herunter, sie möchte dich aber gerne sehen und erwartet dich jetzt.“ Amelie folgte Marie zu den Räumen ihrer Mutter, beim Eintreten stieß sie einen Freudenschrei aus: „Oh Maman“ und flog in deren ausgebreitete Arme. Diese lag bequem auf einer Ottomane, auf einem Beistelltisch davor stand ein leichtes Mittagessen. Der Raum war mit zierlichen weißen Möbeln eingerichtet, Licht durchflutet durch drei bis zum Boden reichende Flügeltüren aus Glas, welche nach Südwest gerichtet waren. Ausladende Palmen gaben dem Raum ein mediterranes Flair. „Wie geht es dir heute Maman?“ „Sehr gut ma petite, le Docteur hat mir nur Schonung verordnet und da muss ich ihm wohl gehorchen.“ Aufmerksam betrachtete Amelie ihre schöne, zarte Mutter, obwohl sie hinfällig war und ständig ruhen musste, machte sie keinen unglücklichen Eindruck.

      In diesem Moment betrat auch Amelis Vater den Raum, er küsste zuerst sanft seine Frau und umarmte dann seine kleine Tochter. „Wie geht es meinen beiden Liebsten“, erkundigte er sich mit einem besorgten Blick auf seine Frau. „Wunderbar Henri, le Docteur ist nur so streng mit mir, ich fühle mich wie eine Gefangene.“ „Nur Geduld Liebes, es ist ja bald vorbei, dann kannst du alles nachholen, was du jetzt entbehren musst“. Das verstand Amelie nun überhaupt nicht, was war bald vorbei? Und warum hatte der Vater eine derart strahlende Laune, wo Maman doch krank hernieder lag? Erwachsene waren doch mitunter sehr merkwürdig und wie sie sich ansahen, als ob sie gar nicht mehr im Raum wäre. Monsieur Rodwig, der neben seiner Tätigkeit als Kammerherr auch die Aufgaben des Butlers übernommen hatte, meldete gerade: „ Es ist angerichtet.“ Amelie und der Baron verabschiedeten sich liebevoll und gingen gemeinsam zum Speisezimmer.

      Auf