Heidi Christina Jaax

Dunkle Wolken über Bernice


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hörte sie eine Kutsche über das Kopfsteinpflaster rumpeln, wer hatte denn schon zu dieser frühen Stunde einen Besuch gemacht? Amelie zog sich notdürftig an, denn sie war es nicht gewohnt dies selbst zu erledigen, auf das Waschen und Frisieren verzichtete sie gänzlich. Vorsichtig lugte sie aus ihrem Turmzimmer und stieg die Wendeltreppe hinab, unten vernahm sie Stimmen und eine Frau weinte leise. Als sie um die Ecke zum großen Korridor bog, kam ihr Marie mit geröteten Augen entgegen. Mdame Rodwig, die sich ebenfalls am Treppenaufgang befand, schlug die Hände vors Gesicht: „Oh Gott, wir haben die Kleine völlig vergessen, das arme Kind!“ Sie nahm Amelie in die Arme und drückte sie an ihren zitternden Busen, was Amelie nun völlig verwirrte, warum war sie ein armes Kind?

      Madame Rodwig nahm sie mit in die Küche, Wo sich Jaques und der Gärtner Louis im Gespräch befanden, sogleich nach ihrem Eintreten verstummten sie verlegen. Madame setzte Amelie an den großen Küchentisch, bestrich ihr ein Brötchen und machte ihr eine heiße Schokolade. Amelie hatte plötzlich keinen Appetit mehr, was war geschehen? In der Küche hatte sie nicht mehr gefrühstückt seit sie ein Kleinkind war. Nachdem sie lustlos ein paar Bissen gegessen hatte, brachte Marie sie in ihr Zimmer und trug ihr auf dort zu bleiben, bis die Mademoiselle zu ihr käme. Das war schon alles mehr als ungewöhnlich und eine unbestimmte Angst beschlich Marie. Da saß sie nun und verstand die Welt nicht mehr, warum sollte die Mademoiselle zu ihr in den Turm kommen? Das hatte sie noch nie zuvor getan.

      Mademoiselle Darnelle betrat den Turm mit einem unendlich traurigen Blick, sie trug ein schwarzes Kleid, welches Amelie noch nie an ihr gesehen hatte. Sie zog Amelie zum Fenstersitz, legte den Arm um das Kind und schwieg zunächst. Die ewig quirlige Amelie hielt ganz still, sie hatte plötzlich große Angst und wusste nicht wovor. „Haben wir heute nicht im Schulzimmer unseren Unterricht?“ fragte sie mit unsicherer Stimme und sah vertrauensvoll zu ihrer Lehrerin auf. Schließlich seufzte Mademoiselle Darnelle tief und begann stockend zu sprechen. „Nein, es findet heute kein Unterricht statt und in den nächsten tagen auch nicht. Es ist ein großes Unglück geschehen, deine Mutter ist heute Nacht zu den Engeln gegangen und sie hat dein kleines Brüderchen mitgenommen.“ „ Welches Brüderchen, wann kommt sie wieder? Ich möchte sie doch hier bei mir haben.“ „Sie kommt nicht wieder aber sie schaut dir vom Himmel aus zu und beschützt dich. Du musst immer recht brav sein, dann freut sie sich sehr.“ Nach einer Weile ließ sie die schluchzende und tieftraurige Amelie zurück.

      Nachdem Amelie eine Stunde mit leerem Blick aus dem Fenster geschaut hatte, verließ sie den Raum und fand mit schlafwandlerischer Sicherheit den Weg zum Pferdestall. Dort traf sie auf Jules, welcher ebenfalls einen bedrückten Eindruck machte. Er sah sie an und sagte mit trauriger Stimme: „Es tut mir so leid!“ Aber Amelie war wie erstarrt und antwortete nicht, so ergriff er ihre Hand und sagte leise: „Komm mit.“ Gemeinsam liefen sie zu den Felsen am Fluss und setzten sich hernieder. Nach einer Weile des Schweigens sagte Amelie: „Meine Mutter ist bei den Engeln und kommt nicht mehr wieder. Verstehst du das?“ „Ja, ich habe es heute Morgen gehört, es ist unendlich traurig aber so etwas kommt oft vor. In unseren Kreisen sterben viele Frauen, wenn sie ein Kind bekommen. Und es kommt nicht mal der Arzt zur Hilfe, der heute Nacht noch versucht hat deine Mutter zu retten.“ „Mademoiselle Darnelle sagt, sie hat mein Brüderchen mitgenommen und ich hatte mir doch so sehr ein Geschwisterchen gewünscht. Dabei wusste ich nicht einmal, dass ich eins bekommen sollte. Warum hat mir das niemand erzählt, wo ich mich doch so darüber gefreut hätte?“ „Es gibt viel Dinge, welche die Erwachsenen uns nicht erzählen, weil sie glauben, wir verstehen es noch nicht.“ Ach Jules, jetzt habe ich keine Mutter und keine Geschwister, es bleibt mir nur noch mein Vater.“ Nach einer weiteren Weile einvernehmlichen Schweigens gingen sie Hand in Hand zum Schloss zurück. Jules musste zurück in den Pferdestall und Amelie zog sich im Turm zurück, wo sie ein Tablett mit ihrem Mittagessen vorfand. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen.

      Die Tage vergingen, viele Kutschen mit Kondolenzbesuchern fuhren vor, die Hausschneiderin nahm Maß und nähte für Amelie ein schwarzes Kleid für die Beerdigung. In all den Tagen hatte sie den Vater nicht zu Gesicht bekommen. Auf ihre Nachfragen hatte man ihr geantwortet, er verlasse früh am Morgen das Schloss und kehre erst spät in der Nacht zurück. Sein eigener Kummer war so unendlich groß, dass er sein Kind völlig vergaß, welches seine Zuwendung doch jetzt so dringend benötigt hätte. Erst am Tag der Beerdigung sah sie ihn wieder, es regnete, all die vielen Menschen trugen schwarze Kleidung, viele Hände strichen über ihren Kopf, nur nicht die ihres Vaters. Er sah furchterregend aus, sein Blick ging ins Leere, er war in den letzten Tagen erschreckend abgemagert und seine gramgebeugte Haltung, als er dem Sarg seiner Frau folgte, zeigte einen völlig gebrochenen Mann. Er hatte auch keinen Blick für Amelie, so sehr sie ihn auch fixierte. Sie war unendlich traurig, nun hatte sie auch noch der Vater verlassen.

      Die nächsten Tage und Wochen zogen wie von Nebel umhüllt an ihr vorbei, den Vater sah Amelie nur wenige Male bei flüchtigen Begegnungen innerhalb des Schlosses. Es schien ihr, als meide er absichtlich ihre Gesellschaft und es kam nicht mehr zu vertrauten Gesprächen wie vor dem Tod ihrer Mutter. Schließlich wurde ihr von Mademoiselle Darnelle mitgeteilt, er sei für einige Monate auf Reisen gegangen.

      Die Aufsicht über die Güter hatte für den Zeitraum seiner Abwesenheit ein Verwalter übernommen. Er hieß Bernard, war ein stattlicher Mann in mittleren Jahren und verfügte über ausgezeichnete Referenzen. Die weiblichen Mitglieder des Gesindes schwärmten allesamt für ihn, doch er beging nicht den Fehler durch zu private Kontakte seine Autorität und seinen Arbeitsplatz zu gefährden. Obwohl er fachlich kompetent und und fleißig war, brachte man ihm nicht den gleichen Respekt entgegen wie dem Baron, denn er war ja auch nur ein Angestellter. Obwohl Amelie den Vater schmerzlich vermisste, war der Verlust doch nicht so groß, da er sie in letzter Zeit ohnehin kaum beachtet hatte. Sie fügte sich in ihren einsamen Alltag, nur Unterbrochen von den Unterrichtsstunden und den Streifzügen mit Jules.

      So vergingen zwei Jahre, in denen der Baron nur zu den Feiertagen kurz auf Bernice verweilte, jedoch keinerlei Anstrengungen unternahm um seiner Tochter wieder näherzukommen. Mittlerweile, mied sie selbst scheu seine Nähe, was ihm nur recht zu sein schien. Dieses Fehlen von jeglicher familiärer Zuwendung bescherte ihr ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit. Nun hatte sie nur noch Jules, doch auch ihr Verhältnis hatte sich gewandelt. Die kindliche Freude und der Übermut waren stillen Stunden am Fluss und ernsten Gesprächen gewichen.

      Zudem hatte Jules eigenen Kummer, sein Vater drängte ihn den nunmehr zwölfjährigen Knaben von hochgewachsener Gestalt, endlich den Wechsel vom Stalljungen zum Pferdeknecht zu vollziehen. Jules Widerwille den vorgezeichneten Weg zu beschreiten wuchs stetig. Sowohl der Baron als auch der Verwalter sahen keinerlei Gründe, welche gegen diesen Wechsel sprachen. Jules hingegen hatte Fernweh und scheute sich in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters zu treten. Er hatte Amelie dies anvertraut, was diese noch trauriger machte. Mit traurigem blick sah sie zu ihm auf: „Willst du mich nun auch noch verlassen? Ohne dich kann ich mir Bernice nicht mehr vorstellen! Wo willst du denn hin?“ „Nach Argentinien, wo jeder mit seiner Hände Arbeit sich etwas Eigenes schaffen kann und wo man nicht schon bei seiner Geburt einen vorbestimmten Platz hat, ganz gleich was man zu leisten in der Lage ist. Wozu hast du mich rechnen und schreiben gelehrt, wenn ich später Stallmeister werde und diese Fähigkeiten kaum nutzen kann, außer bei der Futterbestellung und dem Führen des Zuchtbuchs. All die Bücher welche ich von dir erhielt, haben mir eine Welt eröffnet, an der ich teilhaben möchte. Ich glaube fest daran, dass es meine Bestimmung ist fortzugehen!“ „Aber Jules, du bist doch noch ein Knabe und musst deinem Vater gehorchen, wovon willst du denn leben in der Fremde?“ „Ich verdiene mir doch schon seit Jahren meinen Unterhalt selbst, das kann ich woanders ebenso. Und die Kosten für die Überfahrt kann man sich auch durch Arbeit an Bord eines Schiffes verdienen.“ „Bitte Jules, verlass du mich nicht auch noch, versprich es mir.“ Jules seufzte und versprach schließlich: „Solange du mich hier brauchst, bleibe ich natürlich. Aber irgendwann wird man dich zur Ausbildung als Dame in ein nobles Institut schicken.“ „Ach nein, was soll ich denn dort, das ist nur etwas für so aufgeputzte Gänse wie Marianne und Babette. Die eine schwärmt schon davon und die andere kann es auch kaum erwarten. Ich würde eingehen wie eine Primel, wenn man mich in so eine Institution stecken würde, ohne die weiten Felder, den Wald, den Fluss, die Pferde und ohne dich!“ Daraufhin herrschte Schweigen, denn es war alles gesagt worden.

      Kurz