Thomas Helm

"Blutige Rochade"


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      Gewissenhaft verklebte er das Einschussloch am Wagenheck mit schwarzem Klebeband, das im Handschuhfach lag.

       Die Tasche mit dem Geld nahm er aus dem Koffer, stellte sie zurück in den Kofferraum. Auch den zweiten Koffer, in dem nur der leere Segeltuchsack steckte, zerrte er heraus. Die Klappe drückte er zu.

      Lauschend schaute er sich um, musterte das Umfeld.

       Hinter der Baumgruppe, die den Parkplatz zur anderen Seite hin begrenzte, befand sich offenbar ein Abhang.

       Mit den Gepäckstücken in der Hand drängte er sich durch die niedrigen Bäume, von denen der Schnee auf ihn herab stob.

      Unvermittelt stand er vor einem hüfthohen Holzgeländer, hinter dem es steil bergab ging. Nach einem langen, prüfenden Blick in die Tiefe, holte er weit aus. Kraftvoll schleuderte er beide Koffer nacheinander in die Schlucht, wo sie unter schneebedeckten Baumwipfeln verschwanden.

       Danach lief er zurück, sprang sofort in den Wagen.

       Vorwärts! Nur weiter und weg von hier! Er gab Gas.

      In seinem Kopf kreisten unzählige Gedanken. Wie sollte er jetzt handeln? Was würde er als Nächstes tun? Eine Welle tiefsten verloren Seins schoss für einen kurzen Moment in ihm empor, ließ die Straße vor seinen Augen verschwimmen.

       Er öffnete das Fenster einen Spalt breit, hielt das Gesicht in den kalten Luftstrom. Langsam durchatmend zwang er sich zu nüchterner Sachlichkeit.

       Nachdenken, analysieren, Lösungen finden!

       Ihn drängte es nach einem praktikablen Ausweg. Zurück nach Berlin kann ich auf keinen Fall. Auch nicht nach Schwerin! Denn über kurz oder lang dürfte Führmann dort auftauchen. In dessen Augen gelte ich als gefährlicher Mitwisser, der ihn jederzeit bloßzustellen vermag. Der Oberst würde nach dem soeben erlittenen Fehlschlag sofort versuchen meiner habhaft zu werden.

       Daher käme eine Rückkehr nach Berlin für mich einem Todesurteil gleich. Zudem scheint es unwahrscheinlich, dass Führmann nochmals solch ein Pech haben würde wie vorhin.

       Warum fiel der Misthund eigentlich auf die Schnauze? Egal warum ihm das passierte, das ist jetzt nicht wichtig!

      Soviel stand fest. Kehre ich in die Zentrale zurück, befinde ich mich in Lebensgefahr! Auch, wenn ich vor dem Oberst dort auftauchen und berichten könnte was vorgefallen war gefährdete mich das ebenfalls. Denn bei wem soll ich mir Glauben und Gehör verschaffen, wo da alles Drunter und Drüber ging? Und wer stand in dem Chaos, das in der Zentrale herrschte noch unbeeinflusst über Führmann?

      Wütend schüttelte er den Kopf. Den Blick fest auf die glatte Straße gerichtet suchte er Auswege aus seiner üblen Lage.

       Nein! Das wäre alles reiner Schwachsinn. Unterm Strich betrachtet habe ich doch keinerlei Veranlassung überhaupt nochmal in die DDR zurückzukehren! Dahin, wo sich jetzt alles in chaotischer Auflösung befand! Zudem wartete dort niemand auf mich. Auch bestehen meinerseits für keine Menschenseele in diesem Land irgendeine Verantwortung oder irgendwelche Verpflichtungen.

       Noch vor drei Tagen fühlte er sich an einen beschissenen Fahneneid gebunden. Diese letzte Verbindlichkeit, die er einging, hätte ihm heute fast das Leben gekostet!

      »Ach was soll’s? «, rief er laut und nahm den Fuß vom Gas, weil ihm ein Fahrzeug entgegenkam.

       – So viele Veränderungen finden derzeit ohne mein Zutun statt. Warum sollte ich nicht die Gelegenheit wahrnehmen, um mein Leben vom Grund auf zu verändern? Dahinten im Kofferraum des Wagens liegt genügend Geld für eine neue Existenz! Ich besitze hervorragende Papiere und eine echte Motivation für einen Neustart–.

       Wo ihn dieser hinführen würde, das musste er noch heute entscheiden.

      Unbehelligt gelangte er bei Bregenz über die Grenze, fuhr weiter in Richtung Nordwesten nach Ravensburg.

       Hier, nördlich des Bodensees lagen in der Landschaft nur noch verstreute Schneereste. Die Straßen zeigten sich frei und trocken, die Sonne stand bereits tief.

      Am Ortseingang von Ravensburg lenkte er den Wagen gleich an die erste Tankstelle. Er füllte randvoll. Vorsichtig darauf bedacht, dass ihn niemand beobachtete, nahm er einen Hundertmarkschein aus dem Koffer.

       Dabei bemerkte er, dass obenauf nur ein einziges Bündel mit Hundertern lag. Alles anderen erkannte er als Fünfhunderter und Tausender. Solche großen Scheine hatte er in echt noch nie gesehen. Geschweige denn in der Hand gehalten!

      Nach dem Tanken fuhr er nach Ravensburg hinein. Für die Schönheiten der Stadt hatte er kein Auge.

       In einem Buchladen an der Hauptstraße kaufte er einen Autoatlas. »BRD und Westeuropa« stand auf dem Cover.

       Es begann bereits zu dunkeln.

      Gegenüber der Buchhandlung setzte er sich in ein mollig warmes Café. Dort hockten außer ihm nur drei junge Mädchen an einem der runden Tischchen beisammen und schnatterten.

       Er bestellte sich einen großen Kaffee und ein Hörnchen, das die Bedienung als Croissant bezeichnete.

       Jetzt brauchte er dringend einen Moment der Besinnung, um seine Gedanken zu ordnen. Und er musste endgültig festlegen, wohin er letztendlich fahren würde!

       Denn zumindest eines stand felsenfest: Führmann befand sich längst in der Spur, um ihn und das Geld gnadenlos zu jagen.

       Doch der Oberst besaß ein großes Handicap. Er wusste nicht, wohin sich der von ihm Gesuchte aus dem Staube machte! Und er hatte keine Ahnung von dessen französischen Papieren. Ebenso wenig wie über seine privaten Kontakte in Frankreich!

      Nach dem ersten Kaffee glaubte Bauerfeind sich so weit gewappnet, dass er einen konkreten Plan fasste.

       Er würde nach Paris fahren, um dort eine neue Existenz aufzubauen!

      So einfach daher gesagt nahm sich sein Vorhaben etwas großspurig und abgehoben aus. Aber besaß er denn nicht alle Voraussetzungen dafür?

      Seine guten französischen Sprachkenntnisse zeigten sich damals in der HVA als ausschlaggebend für seine Auswahl. Er erwies sich als der geeignete Mann für eine Infiltration in Frankreich.

       Die jahrelangen, abendlichen Büffeleien auf der Volkshochschule hatten Früchte getragen. Ebenso wie sein häufiges Engagement für die FDJ-Bezirksleitung. Im Besonderen für die Betreuung frankophiler Jugendgruppen zeigte er sich stets bereit.

       Dass alles prägte neben der Erweiterung des Sprachschatzes auch sein Wissen. Insbesondere, wie man mit Leuten aus den verschiedenen Schichten der Bevölkerung umzugehen hatte.

      Bis Ende Dreiundachtzig befand er sich als Mitarbeiter der HVA-AIII mehrmals über längere Zeit in Paris und Lyon im Einsatz.

       Dabei knüpfte er vor allen Kontakte mit Franzosen, die einer bestimmten Zielgruppe angehörten.

       Doch darüber hinaus stellte er weitere Verbindungen her, die nicht seinem eigentlichen Auftrag entsprachen.

      Bei den Ersteren handelte es sich um systematisch ausgesuchte Leute. Die zeigten sich gewillt, für Geld interne Dinge preiszugeben. Hierbei ging es um Dienstgeheimnisse und vertrauliche Informationen aus Firmen und Ministerien, wo sie beschäftigt wurden.

       Die von ihm angeworbenen Informanten wiegte er dabei stets in einem guten Glauben.

      So suggerierte er ihnen, dass sie für einen amerikanischen oder britischen Geheimdienst arbeiten würden. Das wirkte auf sie beruhigend und minderte ihre moralischen Bedenken. Vor allen tat es das in Verbindung mit den vielen Dollars und englischen Pfunden, die sie für ihre Informationen erhielten.

      Das betraf auch jene gestandenen französischen Patrioten. Die nach außen hin nicht unbedingt eine freundliche Haltung gegenüber den Amerikanern vertraten.

      Diese Art der Anwerbung von Informanten galt in der HVA als eine gesicherte Vorgehensweise. Weil sie sich in den kapitalistischen Ländern über viele Jahre bestens bewährt hatte. Denn die wenigsten von denen die als Zuträger oder Informant angeworben werden sollten würden jemals für die DDR arbeiten!