Andreas Vieth

Einführung in die Philosophische Ethik


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zu anderen Kindern angemessen behandelt (so, dass es ihm nützt!), wird sein Selbstbild vielleicht so aussehen, dass er sich aufopferungsvoll für seine Familie engagiert. Möglicherweise leidet er als Vater zu Gunsten seines Kindes Hunger und verliert seine Selbstachtung, indem er als Person wie Echo zu einem bloßen „Nachhall“ der Bedürfnisse seines Kindes wird. Diese Aufgabe von Selbstachtung gibt ihm aber im Gegenzug Selbstbestätigung durch die Anerkennung anderer. Dabei wird er sich bei der Untersuchung seiner Motive als Egoist gar nicht egoistisch, sondern vielmehr altruistisch erleben. Er opfert vielleicht seinen Beruf für die sportliche Karriere seines Kindes. Aber auch dieser (radikal egoistische) „Altruismus“ kann zu einem anderen Egoismusvorwurf führen: Denn der Vater hat vielleicht eine kostenlose öffentliche Ausbildung genossen, die der Gesellschaft letztlich keinen Nutzen bringt, wenn er nicht arbeitet, weil er sich um sein Kind kümmert.

      Derartige auf sich selbst bezogene [[egoistische Reflexionen]] Abwägungsprozesse des Egoisten zwischen seinen vielen unterschiedlichen Motiven ähneln aber durchaus den Überlegungen des common sense. (Birnbacher 2002, S. 97 f.) Der common sense meint jedoch, dass menschliches Handeln nicht ausschließlich egoistisch zu deuten ist. Im Gegensatz zum psychologischen oder ethischen Egoisten, dominiert hier die Vorstellung, dass Eigeninteressen gegen aufrichtiges Wohlwollen für das Interesse anderer abgewogen werden (können). Der wissenschaftliche Egoist (als Psy-[< 66]chologe und Ethiker) wiederum überlegt lediglich, ob er sich (egoistisch) bei der Verfolgung seiner Interessen eher an sich selbst oder an anderen orientieren soll. Die These des Egoismus selbst löst jedoch kaum Antworten auf die Frage: Wie soll ich handeln? Was ist richtig? Was gut? Der Egoist und der Altruist müssen sich als Vertreter ihrer Positionen dieselben Fragen stellen. Und material werden sie oft zu denselben Antworten gelangen. Sie unterscheiden sich lediglich in der Weise, wie sie ihr Leben konzeptionell thematisieren und artikulieren.

      4.2 Was ist falsch am psychologischen Egoismus?

      Ist der psychologische Egoismus eine angemessene Position? Die Antwort in diesem Abschnitt ist agnostisch. Weder kann man den psychologischen Egoismus belegen noch kann man ihn widerlegen. Der Grund ist: [[man ist sich selbst nicht transparent]] Menschliche Personen sind sich selbst nicht vollständig klar darüber, wie sie ihre erlebten Motive angemessen artikulieren sollen: Bin ich als aufopferungsvoller Vater egoistisch? Eine abschließende Antwort auf diese Frage würde voraussetzen, dass eine Person sich in ihrem Handeln selbst vollständig durchsichtig ist. Man denke jedoch an Eifersüchtige, die sich ihrer Motive gerade nicht klar sind. Man kann immer wieder selbst erleben, dass man von anderen über seine eigenen Motive besser informiert wird, als man selbst Auskunft geben könnte.

      In diesem [[Zu diesem Abschnitt]] Abschnitt sollen zwei Überlegungen verfolgt werden: Zum einen soll, ohne die Frage zu entscheiden, gezeigt werden, dass der psychologische Egoismus eine unwahrscheinliche Position ist. Zum anderen soll gezeigt werden, dass ein ethischer Egoismus nicht aus einem psychologischen Egoismus abgeleitet werden kann. Wenn der psychologische Egoismus unbeweisbar oder unwahrscheinlich ist, dann hat man damit sogar ein starkes Argument gegen den ethischen Egoismus.

      [[Drei traditionelle Argumente gegen den psychologischen Egoismus]]Folgende Überlegungen machen nicht-egoistische bzw. altruistische Motive psychologisch plausibel: (1) Zunächst könnte der Egoist jedes Vorkommnis von scheinbarem Altruismus als Heuchelei abtun. Doch mit welchem Recht unterstellt der Egoist seinem sich altruistisch deutenden Mitmenschen Heuchelei? Es stellt sich sogar die Frage, ob sich geheucheltes Wohlwollen lange durchhalten ließe. Echtes Wohlwollen ist vermutlich nützlicher, weil es verlässlicher ist. Man sollte anderen nicht grundsätzlich Heuchelei unterstellen. (2) Außerdem loben wir Eigenschaften von Personen und Handlungen, von denen wir keinerlei Nutzen haben und von deren Handlungen wir niemals betroffen sind. Möglicherweise ereifern wir uns beim Lesen des Gallischen Krieges von Caesar über diesen gewissenlosen Machtstrategen, der ganze Völkerscharen auslöscht. Wie will der Egoist solche Reaktionen erklären? Cae-[< 67]sar nützt oder schadet uns in keiner Weise mehr. (3) Weiterhin lässt sich wohl bei Menschen und Tieren die Liebe der Eltern zu ihren Kindern nicht wirklich egoistisch erklären. [[nahe liegende Erklärungen sind bessere]] Schon David Hume vertrat die Ansicht, dass ein Verstehen unserer Neigungen und Antriebe bei den naheliegenden Erklärungen ansetzen sollte. Der Egoist müsste uns daher nicht nur eine egoistische Erklärung von Elternliebe anbieten, er müsste uns auch noch einen Grund nennen, warum wir diese Erklärung gegenüber der naheliegenden altruistischen bevorzugen sollten. – Diese Überlegungen widerlegen den psychologischen Egoismus nicht, sie machen ihn aber [[psychologischer Egoismus: unplausibel]] unplausibel. Es ist wenig wahrscheinlich, dass wir notorische Motivegoisten sind. Es wird auch deutlich, dass der Vertreter eines psychologischen Egoismus kaum eine Möglichkeit haben dürfte, seine These empirisch zu bestätigen. (Hume 2002, Anhang 2.) Denn eine solche Bestätigung würde voraussetzen, dass eine Person sich in ihren Einsichten und Motivationen vollständig transparent sein könnte.

      Niemand wird bestreiten, dass wir manchmal egoistische Motive haben. Jeder selbst weiß, dass er bisweilen soziale Beziehungen bis hin zu Freundschaften für sich ausnutzt. Und das wird oft moralisch unschuldig, wenn nicht sogar gut sein. Aber, warum sollte aus dieser psychologischen Möglichkeit folgen, dass der Egoismus eine adäquate Ethik ist? [[ethischer Egoismus: unplausibel]] Warum sollten egoistische Motive immer richtig sein, wenn altruistische Motive zumindest möglich sind? Wenn man nicht anders als egoistisch Handeln kann, dann soll man auch so handeln. Diese ethische Forderung ist jedoch leer, da es dem psychologischen Egoismus zufolge ohnehin keine anderen Handlungsmotive gibt, sodass sich das „Sollen“ auf das einzig mögliche Handlungsprinzip beziehen muss. Aber der psychologische Egoismus ist nicht sehr wahrscheinlich, weil er ebenso unbeweisbar ist wie sein Gegenteil. Und diese Unwahrscheinlichkeit macht den ethischen Egoismus unplausibel.

      Denn die Eigenschaft von Personen und Handlungen, egoistisch zu sein, stellt ein dichtes Konzept dar. (Der Egoismus ist eben doch kein dünnes oder bloß negativ-dichtes Konzept.) Einerseits haben wir eine Vorstellung davon, was egoistische Väter tun (bzw. nicht tun). Sie vernachlässigen ihre Kinder. Jeder von uns hat Vorstellungen davon, wie man Kinder vernachlässigt. Uns schweben gewisse deskriptive Verhaltensmerkmale vor Augen, wenn wir Väter und Mütter als egoistisch kennzeichnen. Dies hat „egoistisch“ mit „grausam“ oder „höflich“ gemeinsam. Während grausame Handlungen immer moralisch bedenklich sind, kann die Wertung von egoistischen Handlungen schwanken. Manchmal empfehlen wir altruistisch handelnden Personen, dass sie mehr an sich denken sollen: „Sei doch ein bisschen mehr egoistisch!“ Manchmal tadeln wir egoistische Verhaltensweisen auch. Egoistisch zu sein ist also [< 68] eine deskriptiv reichhaltige und zugleich wertende Eigenschaft, aber die Wertung ist mal positiv und mal negativ. [[Drei egoistische Szenarien]] Dies soll im Folgenden an drei Szenarien illustriert und anschließend philosophisch gedeutet werden.

      Auch Mütter und Väter können die eine oder die andere Klasse egoistischer Motive als für ihr Selbstverständnis zentral erachten und sich dementsprechend im sozialen Raum der Familie verhalten. – Man stelle sich drei künstlerisch gut ausgebildete Elternpaare vor. [[Eltern A und B]]Angenommen Eltern A erachten Selbstachtung (beispielsweise als Resultat freischaffender künstlerischer Selbstverwirklichung) als sekundär und streben nach Selbstbestätigung (beispielsweise durch ihren Einsatz für ihre Kinder). Das Streben der Eltern A nach Selbstbestätigung könnte so aussehen, dass sich die (künstlerisch gut ausgebildete) Mutter erfolgreich um die kreative Erziehung der Kinder kümmert und der Mann die Familie materiell absichert (als angestellter Designer für Kochgeschirr oder als Kunstlehrer). Beide Elternteile ziehen hieraus Selbstbestätigung. Eltern A werden Eltern B als egoistisch bezeichnen, die für sich jeweils primär nach Selbstachtung streben (künstlerische Selbstverwirklichung). Selbstbestätigung durch eine optimale materielle Absicherung der Erziehung ihrer Kinder gilt ihnen als sekundär. In den Augen von Eltern A sind Eltern B egoistisch, weil das Streben nach Selbstachtung die Individuen definitionsgemäß im sozialen Raum isoliert (auch dem der Familie). Ihr eigenes A-Streben nach Selbstbestätigung durch ihre Kinder und die soziale Umwelt werden sie dagegen als nicht-egoistisch, vielleicht sogar als altruistisch erachten.

      [[Eltern C]] Angenommen nun, Eltern C teilen mit den Eltern A die Ablehnung des Selbstachtungsstrebens