Andreas Vieth

Einführung in die Philosophische Ethik


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C ziehen beide Selbstbestätigung sowohl aus der gemeinsamen Beteiligung an der Kindeserziehung als auch an der gemeinsamen ökonomischen Absicherung der Familie. Sie haben folglich das gleiche Ziel wie Eltern A (primär Selbstbestätigung), realisieren es jedoch anders. Der Begriff der Selbstbestätigung wird von Eltern A und C verschieden interpretiert. Eltern C wollen beide künstlerisch arbeiten (beispielsweise als Kinderbuchillustratoren in einem Verlag) und daher müssen die C-Kinder zeitweise in Kindergärten erzogen werden. Die C-Eltern werden Einseitigkeit der A-Mutter als egoistisch bezeichnen, weil die A-Kinder durch sie möglicherweise besser gefördert werden als die C-Kinder im öffentlichen Kindergarten. Auch die Selbstbestätigung der A-Mutter und des A-Vaters wird ihnen als übertriebener Stolz erscheinen, weil sie sich jeweils aus einer Einseitigkeit des Lebensvollzugs speist.[< 69]

      [[Änderung im Leben der A-Eltern]]Angenommen nun, die Eltern A werden irgendwann für sich und andere erkennbar unglücklich mit ihrer Lebenssituation, so mögen die Eltern B ihnen den Ratschlag geben: „Seid doch egoistischer! Wenn ihr nicht so mutig seid wie wir, macht es wie Eltern-C!“. Eltern C würden dagegen aufgrund derselben Einschätzung der Situation für weniger Egoismus plädieren. Denn die asymmetrisch realisierte Selbstbestätigung der Eltern A optimiert die Kindesbetreuung und entzieht der Gesellschaft den Nutzen, den sie sich von der Ausbildung der A-Mutter versprechen dürfte. Wenn diese Ratschläge angemessen und erfolgreich sind, kehren sich für die Eltern A in dem Maße, wie sie durch neue Projekte jeweils für sich andere Formen der Selbstbestätigung oder der Selbstachtung gewinnen, die Einschätzung des Egoismus und seine Beschreibungsmerkmale um. [[egoistisch = negativ dicht]] Denn „egoistisch“ ist ein dichtes Konzept; es ist im Rahmen des Egoismus nur scheinbar dünn, weil es immer zumindest negativ-dicht ist.

      [[Jonglieren mit Etiketten]] In der Ablehnung altruistischer Motive ist der Egoismus „dünn.“ Alle Motive sind etwas ganz anderes: „Verfolge Deine Interessen!“ Es bleibt unklar (= dünn), was seine Interessen sind. Aber der Egoist muss, um zu handeln, eine reichhaltige positive (= dichte) Vorstellung haben von dem, was sein Leben auszeichnet. Und diese Vorstellung schließt dann notwendig auch sein Verhältnis zu anderen ein und in dieser Hinsicht kann er schon aus egoistischen Gründen nicht egozentrisch sein. Er muss in manchen Hinsichten sein Leben auch allozentrisch betrachten. Und sein allozentrisches Verhalten ist möglicherweise wenigstens manchmal authentisch allozentrisch und nicht bloß strategisch allozentrisch. Oberflächlich vertritt der Egoist eine inhaltsleere Egoismusthese. Im Handeln wird er aber als erfolgreicher Egoist ununterscheidbar vom Altruisten (so wie letzterer natürlich auch umgekehrt). Der Grund ist, dass beide Positionen nur scheinbar gegeneinander gerichtete „dünne“ Konzepte darstellen. In Wirklichkeit umfassen die Pläne von Personen egozentrische und allozentrische Momente und stellen in dieser Hinsicht eine „dichte“ Mixtur aus egoistischen und altruistischen Motiven dar, die mal strategisch und mal authentisch sind.

      Die [[drei egoistische Konstellationen ...]] drei Elternpaare (A, B, C) und die drei Familien unterscheiden sich in ihren Motivlagen. Die Beschreibung von Handlungen und Personen als egoistischen verändert sich im A-, B- und C-Raum; dieser Änderung korrespondieren divergierende moralische Bewertungen ebenso wie eine divergierende Artikulationsrhetorik.

      Daraus kann man [[... und ihre komplexe Erklärung]] zwei Schlussfolgerungen ziehen: Welche unserer Motive egoistisch sind, hängt nicht von psychischen Tatsachen ab, sondern von unterschiedlichen Vorstellungen über ein gelingendes Leben in einem sozialen Raum. Wie wir egoistische Motive werten, hängt [< 70] nicht davon ab, ob wir ethische Egoisten sind, sondern ob und wo das Individuum im Gegensatz zu anderen Individuen in unserem Leben einen herausragenden (Selbstbestätigung) oder absoluten (Selbstachtung) Wert hat. (Birnbacher 2007, Kap. 7, bes. S. 322 f.)

      Ob und wie man egoistisch sein soll oder nicht sein darf, hängt von pluralistischen Vorstellungen über ein gelingendes Leben ab. Denn Selbstachtung und Selbstbestätigung kennen jeweils ein anderes Mehr oder Weniger. Das Zu-Viel ist egoistisch, das Zu-Wenig altruistisch im Sinne moralischer Kritik. Irgendwo in der Mitte sind Motive entweder egoistisch oder altruistisch, aber sie sind moralisch als neutral oder sogar gut zu bewerten. Keine empirische Psychologie kann hier noch sinnvoll Auskünfte geben. Nur eine Ethik vermag die Dinge zu klären. Und in der Ethik ist es sinnvoll, egoistische Motive im Gegensatz zu altruistischen zu sehen, um der moralischen Praxis interpretativ und kritisch gerecht zu werden. Wer die Moral kritisieren will, sollte sicherlich bisweilen auch provozieren, aber er sollte sie direkt kritisieren — und nicht über äußerliche Etiketten.

      4.3 Warum eigentlich nicht egoistisch sein?

      Ethische Egoisten wollen entweder aufklären oder provozieren. Thomas Hobbes wollte eine bessere Theorie für unsere Motive finden. Ihm zufolge sind wir rationale Egoisten. Jede Person strebt für sich nach ihrem Nutzen, der zugleich immer ein Schaden für andere ist. Diese Konkurrenz ist ein Resultat des Egoismus. Sie erklärt die Irrelevanz einer altruistischen Moral und weist uns den Weg zum Glück: Das willkürliche Recht des Staates macht die egoistische Konkurrenz konfliktfrei lebbar. Mehr wollte [[Aufklärung: Hobbes]] Hobbes nicht. Man verhält sich egoistisch, wenn man den vom Gesetz geforderten Altruismus durch seine Gesetzestreue respektiert. (Vgl. Butler 1970.)

      [[Provokation: Nietzsche]] Nietzsche wollte uns von einer ungerechten und gewalttätigen altruistischen Moral befreien. Die Heuchelei einer bürgerlichen Moral besteht in ihrer Ignoranz gegenüber der aus uns selbst kommenden kreativen Geltung des Individuums. Moral kasteit das Individuum so, dass Universalität des Guten, bloß Uniformität des Faktischen ist. Durch die Provokation eines ethischen Egoismus befreit Nietzsche das Individuum. Positive Selbstachtung und konfliktfreie Selbstbestätigung entlassen so die Individuen aus der Willkür gesellschaftlicher Konventionen. Doch der ethische Egoismus bleibt leere Provokation, weil man ihn ohne egoistische Psychologie gar nicht verstehen kann. Die psychologische These ist aber aufgrund der Vielfalt und Widersprüchlichkeit egoistischer Motive unwahrscheinlich. Die ethische These ist unsinnig, weil [< 71] „egoistisch“ ein dichtes Konzept bleibt und nur scheinbar durch die psychologische These zu einem dünnen wird. (Nietzsche 1966a, Erste Abhandlung.)

      Der Egoismus als Position der philosophischen Ethik fordert, dass man sich im Handeln an seinem Nutzen orientieren soll. Egoismus als Merkmal von Personen und Handlungen ist moralisch richtig, angemessen und gut. Altruismus ist schlecht, weil er gegen unsere psychologische Natur ist. Aufklärung und Provokation sind keine unberechtigten Motive von Philosophen, wenn sie begründbar sind. Doch der Egoismus ist ein Problem:

      Er fordert eine [[Revisionismus]] Revision unserer Selbstwahrnehmung. Die These, dass alle unsere Motive egoistisch sind, führt zu einer gravierenden Veränderung unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung und unserer Beschreibungen von Personen und Handlungen. Die These ist deshalb attraktiv, weil sie eine einheitliche motivationale Grundstruktur des Handelns postuliert. Leitet man aus dem psychologischen Egoismus eine Ethik ab, führt dies zu dem Ratschlag man solle „seine eigenen Interessen verfolgen.“ Philosophen wie Nietzsche in der Neuzeit und Gorgias in der Antike haben daraus beispielsweise das „Recht des Stärkeren“ abgeleitet. Das einfache ethische Grundprinzip des Egoismus hängt von dem einfachen psychologischen Motivationsprinzip ab. Doch, selbst wenn wir tatsächlich nur egoistische Motive haben, müssen wir viele unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Arten von egoistischen Motiven unterscheiden. Der ethische Egoismus ist inkonsistent, weil er vorgibt, aus einem einheitlichen psychologischen Prinzip ein klares ethisches Prinzip abzuleiten. Die Psychologie des Egoismus ist jedoch komplex. Warum sollte seine Ethik es nicht auch sein?

      Die Komplexität der egoistischen Psychologie ist dafür verantwortlich, dass wir in der Tat mit ein wenig Mühe unsere altruistischen Motive [[Beliebigkeit]] beliebig als egoistische umdeuten können. (Batson/Shawn 1991.) Der Revisionismus des Egoismus bezieht hieraus seine erhellende Erklärungskraft: Scheinbar kann man alles auf ein psychologisches und ein ethisches Prinzip zurückführen. Aber aus der Tatsache, dass die egoistische Sprache unser Leben vollständig und einheitlich beschreiben kann, folgt nicht, dass sie die einzige, angemessene und richtige ist. Der Vielfalt „egoistischer Motive“ werden wir besser gerecht, wenn wir einige als altruistisch bezeichnen, selbst wenn man auch für sie eine egoistische Beschreibung finden kann. Das